Was sind die Bedürfnisse von Flüchtlingen und inwieweit werden diese durch Angebote im ländlichen und städtischen Raum Sachsens abgedeckt?
Claudia Berger, Paul Berthold, Heidi Hemmann, Daniela Nürnberger
veröffentlicht am 16.09.2015
socialnet Materialien. Reihe 6: Forschungsprojekte
Einleitung
Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft, in der ein tägliches Zusammenspiel verschiedenster Interessen, Bedürfnisse, Glaubensrichtungen und Sprachen erfolgt. Migration, Flucht und Asyl sind geschichtlich sowie aktuell betrachtet allgegenwärtige Themen, welche jeden Menschen mehr oder minder tangieren bzw. für eine Vielzahl an Personen bedeutsame, alltägliche (Lebens)Inhalte darstellen. Im Rahmen von persönlichem Engagement in der Flüchtlingssozialarbeit sowie während der Recherchen zum Referat „Flüchtlingsberatung“ im Modul MAS 02 des Masterstudiums Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Dresden beschäftigte sich die Forschungsgruppe intensiver mit dieser Thematik und stellte fest, dass die Literatur zur Materie in den Bibliotheken wenig vertreten und/oder veraltet ist und somit Informationen überwiegend über das Internet zugänglich sind. Überdies fiel auf, dass einige Fragen zur Flüchtlings- und Asylthematik mittels Literatur, Internetquellen oder Statistiken nicht beantwortet werden konnten. So sind beispielsweise im Hinblick auf die Lebensbedingungen allerhand Zahlen und Beschreibungen der aktuellen Situation erhältlich, die Perspektive der Betroffenen selbst und deren Bedürfnisse werden jedoch selten deutlich. Die Frage, was die Bedürfnisse von Flüchtlingen sind, wird in der bisherigen, zugänglichen Literatur nicht explizit gestellt, sondern überwiegend ohne Einbeziehung der Betroffenen von außen definiert.
Tatsache ist, dass auf der Flucht befindliche bzw. von Fluchtbewegungen betroffene Menschen durch eine besondere Lebenslage gekennzeichnet sind. Das Umsiedeln in ein fremdes, zum Teil weit vom Heimatort entferntes Land bringt viele neue Herausforderungen mit sich. Sie treffen auf eine differente Kultur, Sprache, Religion, Lebensweise, z.T. unverständliche Regelungen und fremde Menschen. Alles Gewohnte wird nun vom Fremden dominiert. Dinge, die vor der Migration mitunter selbstverständlich waren, müssen teilweise neu erkämpft werden. „Danach hat Migration einen Zustand der individuellen Orientierungslosigkeit und sozialen Desorganisation zur Folge […].“1 Entsprechend sind gezielte Angebote zur Unterstützung des „Neuaufbaus von Orientierungen“ und dem damit einhergehenden Erhalt bzw. der Zurückerlangung von Autonomie und Menschenwürde notwendig.2 Bedingt durch die spezifische Lebenssituation (in den Flüchtlingsunterkünften) als auch durch die daraus und/oder aus der Flucht resultierenden Traumata und psychischen Erkrankungen, bedürfen etliche Betroffene einer intensiven Betreuung und Behandlung. Die signifikante Situation aller Flüchtlinge lässt somit ein Spezifikum der Bedürfnisse vermuten und würde im Ergebnis die Notwendigkeit des Vorhandenseins entsprechend spezifischer Angebote bedeuten.
Bei der Auseinandersetzung mit den rechtlichen Regelungen für Asylsuchende und Geduldete wird deutlich, dass deren Möglichkeiten zur individuellen Lebens-, Wohn- und Arbeitsgestaltung sowie der gesundheitlichen Versorgung enormen Einschränkungen unterliegen. Deutschlandweite Beispiele hierfür sind die Auferlegung des Wohnortes und der Unterbringungsart sowie die Einschränkung der Mobilität (Residenzpflicht). Eine Benachteiligung der Betroffenen sowie der damit einhergehende Vorenthalt diverser Mitsprache- und Selbstbestimmungsrechte sind somit zu unterstellen und im Rahmen der vorliegenden Arbeit näher zu betrachten.
An der Vermutung der Spezifika von Bedürfnissen und der rechtlichen Sonderstellung anknüpfend stellte sich die Frage, inwieweit Angebote existieren, welche die Möglichkeiten von Asylbewerber_innen und Geduldeten berücksichtigen und gezielt zum Erhalt bzw. zur Zurückerlangung von Autonomie im Aufnahmeland unterstützen können. Im Rahmen des Seminars „Leben in Würde? Menschenwürde und Menschenrechte von Flüchtlingen und Migrant_innen an den Beispielen Familie und Sozialleistungen“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kooperation mit dem Sächsischen Flüchtlingsrat e.V. im Januar 2013 und anderen Fachtagungen bzw. Weiterbildungen wurde mehrfach betont, dass ein großer Betreuungs-, Angebots- und Versorgungsunterschied zwischen ländlichen und städtischen Regionen Sachsens zu verzeichnen ist. Auch während der Erarbeitung einer Übersicht zu Flüchtlingsberatungsstellen in Sachsen entstand die Vermutung der Unterversorgung ländlicher Regionen im Hinblick auf asylspezifische Angebote. Diese Vermutung galt es im Rahmen der Forschungsarbeit aufzugreifen und mittels Erhebung und Analyse von Angebotsstrukturen zielgerichtet zu untersuchen.
Basierend auf den o.g. Intensionen, (Praxis-)Beispielen und Vermutungen entstand die für die Forschungsarbeit zugrundeliegende Frage: „Was sind die Bedürfnisse von Flüchtlingen und inwieweit werden diese durch Angebote im ländlichen und städtischen Raum Sachsens abgedeckt?“. Das Anliegen der Forschungsgruppe war es hierbei, eine Untersuchung mit Asylbewerber_innen und Geduldeten, stellvertretend für die gesamte Gruppe der Flüchtlinge, durchzuführen, um Aussagen von den Betroffenen zu erhalten. Diese Forschungsarbeit soll somit als „Sprachrohr“ für Flüchtlinge dienen und aufzuzeigen, welche Interessen und Bedürfnisse Flüchtlinge haben sowie welche spezifischen Angebote zur Erfüllung dieser vorliegen, bekannt sind und genutzt werden (können). Gemäß der humanistischen Haltung sind Flüchtlinge ausnahmslos als gleichwertige Menschen mit dem Recht auf Menschenwürde, was u.a. das Recht auf Autonomie und Integration in die Gesellschaft beinhaltet, anzuerkennen. Gezielte Angebote können zu diesen grundlegenden Rechten verhelfen. Aus diesem Grund sollen die Ergebnisse dieser Forschung als Anregungen und Veränderungsimpulse für die Gestaltung von Angebotsstrukturen für Flüchtlinge dienen und eine Grundlage für weitere, flächendeckendere quantitative Forschungserhebungen bereit stellen. Eine weitere Intension der vorliegenden Forschung war die Förderung des Dialogs zwischen Betroffenen, sozialen Organisationen und entscheidenden, politischen Instanzen, das Erstellen übersichtlicher Angebotsstrukturen für fachspezifische (Beratungs-)Stellen sowie die Anregung zur Weiterentwicklung und Weiterführung dieser Forschung zur Ergänzung der bestehenden Literatur.
Eine Auseinandersetzung mit der Thematik setzt Wissen über die Materie voraus. Anlässlich dessen bieten diese Aufzeichnungen zu Beginn einen Abriss über grundlegende Begrifflichkeiten und theoretische Bezüge. Dem anschließenden Kapitel sind eine detaillierte Darstellung des Erkenntnisinteresses sowie der Forschungs- und Erhebungsmethodik für die Untersuchung der Forschungsfrage relevanten Daten zu entnehmen. Der Leitfrage unterliegen zwei zu erforschende und miteinander zu verknüpfende Teilbereiche: a) Bedürfnisse von Flüchtlingen und b) vorliegende Angebotsstrukturen. Aufgrund dessen ist die Forschung in zwei differierende methodische Vorgehensweisen untergliedert. Aufbauend auf diesen Methoden folgen Ausführungen zur Durchführung der qualitativen Forschung sowie zur Ermittlung der jeweils vorliegenden Angebote, deren jeweilige und Gesamtergebnisse dem Hauptkapitel untergeordnet sind. In einem abschließenden Resümee werden die Ergebnisse der Forschung zusammengetragen und die gewonnenen Erkenntnisse summarisch erfasst, um eine Beantwortung der Forschungsfrage herbeizuführen. Die in der vorliegenden Arbeit aufgeführten Daten und Darstellungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stellen einen auf die Thematik hinweisenden und Verbesserungen anregenden Ausschnitt dar.
1 Treibel 1990: 85
2 vgl. Kühnel; Strobl 2000: 136
Verfasst von
Claudia Berger
Soziale Arbeit (M.A.)
Flüchtlingssozialarbeiterin aufsuchende Flüchtlingssozialarbeit (vorrangig mit Asylsuchenden und Personen mit Duldung)
Paul Berthold
Soziale Arbeit (B.A.)
Masterstudent Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Dresden, nebenberuflich und selbstständig vorrangig als Assistent im Bereich der Hilfen für Menschen mit Behinderung tätig
Heidi Hemmann
Sozialarbeiterin; Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen/Flüchtlingssozialarbeit
Mailformular
Daniela Nürnberger
Diplom-Religionspädagogin
u.a. Masterstudentin Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Dresden
Es gibt 1 Materialie von Claudia Berger.
Es gibt 1 Materialie von Paul Berthold.
Es gibt 2 Materialien von Heidi Hemmann.
Es gibt 1 Materialie von Daniela Nürnberger.
Zitiervorschlag
Berger, Claudia, Paul Berthold,Heidi Hemmann und Daniela Nürnberger, 2015.
Was sind die Bedürfnisse von Flüchtlingen und inwieweit werden diese durch Angebote im ländlichen und städtischen Raum Sachsens abgedeckt? [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 16.09.2015 [Zugriff am: 09.11.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/26404.php
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