Ganztagsschule – Viel Lärm um nichts
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
veröffentlicht am 27.03.2017
- Zusammenfassung
- „Ganztagsschule hält ihre Versprechen nicht“
- Die Ganztagsschule hat mehrere Zielsetzungen
- Ein erster Blick in die Forschung: eine quasi-experimentelle Feldstudie
- Ein zweiter Blick in die Forschung: ein unkontrollierter Gruppenvergleich
- Der Glaube an die heilsame Wirkung von Strukturänderungen
- Die Frage der Bildungsgerechtigkeit bleibt auf der Tagesordnung
- Ist „Bildungsbenachteiligung“ eigentlich nur eine Kopfgeburt?
- Die Ganztagsschule und die Kinder- und Jugendhilfe
- Literatur
Zusammenfassung
Der Abbau von Bildungsbenachteiligung stellt eine zentrale Legitimation des jüngst vollzogenen und mit Milliarden geförderten Ausbaus von Ganztagsschulen in Deutschland dar. Dieses Ziel wurde bislang ebenso wenig erreicht wie ein zweites bildungspolitisches: die Verbesserung schulischen Kompetenzerwerbs. Der vorliegende Beitrag stellt neuste relevante Ergebnisse der umfangreichen Begleitforschung zum Ganztagsschulprojekt vor und weist auf bestimmte Probleme und Unstimmigkeiten dieser Forschung hin. Warum Bildungsbenachteiligung nach wie vor ein bedeutsamer Teil der Sozialen Frage ist, wird dargelegt. Ob die Soziale Arbeit zum Abbau von Bildungsbenachteiligung durch Mitarbeit am Ganztagsschulprojekt beitragen könnte, wird zur Diskussion gestellt.
„Ganztagsschule hält ihre Versprechen nicht“
In der Woche vor Beginn des 16. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetags (https://www.jugendhilfetag.de/) Ende März 2017 und mit bewusstem Blick auf diesen stellte die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ; https://www.agj.de/) den Deutschen Kinder- und Jugend(-hilfe) Monitor 2017 (als Download verfügbar unter https://www.agj.de/) der Öffentlichkeit vor. Darin heißt es unter anderem: „Ganztagsschule hält ihre Versprechen nicht: Ein systematischer Zusammenhang des Ganztagsschulbesuchs mit der Verbesserung von Schulleistungen konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Ganztagsschulen sind zudem nicht in der Lage, herkunftsbedingte Ungleichheiten in der Bildungsförderung abzubauen.“ Es war nicht zuletzt diese Information, die in der deutschen Presse Verbreitung fand. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fand sie gar Eingang in den Untertitel der entsprechenden Mitteilung: „Trotz Kinderkrippen und Ganztagsschulen hängt Erfolg in Deutschland noch immer von der Herkunft ab“ (Leithäuser, 2017).
Dass die Ganztagsschule den Einfluss des familiären Hintergrundes nicht mindert, dass sie also keine kompensatorische Wirkung zeigt, kann nur diejenigen überraschen, die die Forschung nicht gekannt haben. Im Jahre 2014 waren zwei an der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG; http://www.projekt-steg.de/) beteiligte Wissenschaftler(innen) der Frage nachgegangen: „Kompensatorische Wirkungen von Ganztagsschulen – Ist die Ganztagsschule ein Instrument zur Entkopplung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungserfolg?“ (so der Titel von Züchner & Fischer, 2014). Die von ihnen ausgebreiteten Ergebnisse einschlägiger nationaler wie internationaler Forschung lassen bei nüchterner Beurteilung nur eine Antwort zu: Nein! Oder in üblicher wissenschaftlicher Formulierung: Dafür gibt es bislang keine überzeugenden empirischen Belege.
Natürlich hat eine öffentliche Verlautbarung der AGJ ein ganz anderes politisches Gewicht als ein in einer Fachzeitschrift publiziertes Wissenschaftler(innen)statement. Die AGJ ist das Forum und Netzwerk bundeszentraler Zusammenschlüsse, Organisationen und Institutionen der freien und öffentlichen Jugendhilfe in Deutschland; ihre rund 100 Mitglieder arbeiten und wirken zusammen u. a. mit dem Ziel der jugend- und fachpolitischen Kommunikation und Kooperation auf Bundesebene. Glaubwürdigkeit kommt ihrer Nachricht mit Blick auf die Informationsbasis des Deutschen Kinder- und Jugend(-hilfe) Monitor 2017 zu: „Die Grundlagen bilden dabei das kinder- und jugendpolitische Leitpapier der AGJ und die für den 16. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag (DJHT) erstellte empirische Analyse der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfe-Statistik im Forschungsverbund des Deutschen Jugendinstituts und der TU Dortmund sowie der Bildungsbericht 2016 und der 15. Kinder- und Jugendbericht.“ (https://www.agj.de/)
Die Ganztagsschule hat mehrere Zielsetzungen
Die Aussage „Ganztagsschule hält ihre Versprechen nicht“ betrifft nicht alle Versprechen, die im Zusammenhang mit der Ganztagsschule gemacht werden. In der Literatur finden sich mehrere und zum Teil abweichende Auflistungen der mit der Ganztagsschule verbundenen Zielsetzungen. Wir folgen hier einem Gutachten, das vom Aktionsrat Bildung (http://www.aktionsrat-bildung.de/) im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (2013) erstellt wurde (Verweise sind weggelassen):
- „Aus sozialpolitischer Perspektive betrachtet, kann mithilfe eines zeitlich umfassenden und geregelten Betreuungsangebots an Ganztagsschulen den mitunter schwierig mit Schule zu vereinenden Familien- und Erwerbsstrukturen der Eltern begegnet werden …. Entlastung erfahren sie durch die längere Betreuungszeit in den Nachmittag hinein, aber auch durch die Betreuung der Hausaufgaben, die vorwiegend in den Schulalltag integriert ist….
- Aus bildungspolitischer Perspektive werden mit dem Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen vor allem zwei Ziele verfolgt: eine gezielte fachliche und überfachliche Kompetenzförderung der Schülerinnen und Schüler einerseits und andererseits der Ausgleich spezifischer Benachteiligungen durch mehr Chancengerechtigkeit für Schülerinnen und Schüler aus sozial und ökonomisch weniger privilegierten Elternhäusern…. Dies schließt auch die gezielte Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte ein. Ein Schlüssel zum Abbau sozialer Disparitäten sowie zur Steigerung der Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen stellt dabei die individuelle Förderung dar…. Im Fokus stehen lernschwache und bildungsbenachteiligte Schülerinnen und Schüler, die von dem längeren Verbleib und der verstärkten individuellen Förderung im schulischen Umfeld besonders profitieren sollen….
- Aus pädagogischer Perspektive liegt der Ganztagsschule ein erweitertes Lern- und Bildungsverständnis zugrunde…. Durch die Entwicklung einer differenzierten und variablen Lernkultur, die über die strukturelle Erweiterung der Lernzeit hinausgeht, wird die Ganztagsschule als Chance gesehen, eine Verbesserung der Qualität und Wirkung von Schule insgesamt zu erzielen.… “ (S. 20)
Das Gutachten nennt (auf S. 24) auch die „Fördersummen, die die mit Ganztagsschulen verbundenen weit reichenden bildungs- und sozialpolitischen Hoffnungen illustrieren“: vier Milliarden Euro vom Bund und 400 Millionen von Seiten der Länder in den Jahren 2003 – 2009. Ob die Hoffnungen berechtigt und die genannten Fördersummen wirklich Investitionen, oder aber nur Ausgaben waren, ist Gegenstand der Evaluation. Die ist insgesamt nach allen drei o. g. Perspektiven durchzuführen. Im vorliegenden Zusammenhang wird lediglich die bildungspolitische Perspektive betrachtet. Was die dritte Perspektive „Aus pädagogischer Sicht“ betrifft, so ist man gespannt auf methodisch angemessene Wirksamkeitsstudien, die prüfen, ob die Ganztagsschule tatsächlich eine Chance darstellt, „eine Verbesserung der Qualität und Wirkung von Schule insgesamt zu erzielen“.
Was die erste, oben „sozialpolitisch“ genannte Perspektive anbelangt, so ist sie der Sache nach im Wesentlichen eine arbeitsmarkt-, beschäftigungs- und frauenpolitische. Dazu findet sich im Gutachten (auf S. 57) folgende Einschätzung:
„Insgesamt belegen die hier dargestellten Befunde, dass die Ganztagsschule dem Anspruch, verbesserte Möglichkeiten zur Betreuung von Kindern bereitzustellen – insbesondere im Grundschulalter –, durchaus in einigen Punkten gerecht wird. In Bezug auf die Zieldimension ‚Betreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf‘ weist die Forschungslage darauf hin, dass Ganztagsgrundschulen eine entlastende Funktion für Familien einnehmen. Die steigende Nachfrage nach Ganztagsplätzen lässt aber auch – insbesondere für den Primarschulbereich – zukünftig Engpässe erwarten, vor allem an Ganztagsschulen der gebundenen und rhythmisierten Form. Die Befunde zeigen zudem, dass die berufliche Situation insbesondere von Müttern im Zusammenhang mit der Nutzung eines Ganztagsangebots steht. Jedoch scheinen teilweise nicht vorhandene Wohnortnähe, Kosten und Qualitätsmängel derzeit noch Nutzungshemmnisse darzustellen. Möchte man hier auch arbeitsmarktpolitisch auf die
Potenziale der ganztägigen Betreuung hoffen, ist sicherlich der Ausbau von kostenreduzierten, bedarfsgerechten und wohnortnahen Angeboten – insbesondere in ländlichen Gebieten – sicherzustellen. Um die soziale Segregation von Schülerinnen und Schülern zu vermeiden, wäre ein flächendeckendes Angebot vonnöten.“
Ein erster Blick in die Forschung: eine quasi-experimentelle Feldstudie
Aller Respekt für die Zeugenschaft der AGJ entbindet Wissenschaftler(innen) nicht von der Pflicht, die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Studien in Augenschein zu nehmen. Als erste in den Blick genommen sei hier eine, die nach meiner Bewertung die höchste Aussagekraft hat: diejenige und bislang einzige Wirksamkeitsstudie, die den üblichen Anforderungen an eine quasi-experimentelle Feldstudie (vgl. Heekerens, 2005) hinsichtlich interner und externer Validität gerecht wird: „Bildung und Bildungsungleichheit an Halb- und Ganztagsschulen“ (Strietholt, Manitius, Berkemeyer & Bos, 2015). In dieser Studie wurden Daten aus IGLU / PIRLS 2006 (https://de.wikipedia.org/wiki/IGLU-Studie), TIMSS 2007 (http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/fileadmin/Redaktion/Institute/Erziehungswissenschaften/Abteilungen/Bildungsforschung/Lehrveranstaltungen/2009_WS/VL__Sozialwissenschaftliche_BF/TIMSS_2007_Pressemappe_01.pdf) und PISA-E 2006 (http://www.bildungsserver.de/PISA-und-PISA-E-2006-6686.html) reanalysiert und das Leistungsniveau und herkunftsbedingte Disparitäten an Halb- und Ganztagsschulen verglichen.
Von den methodischen Aspekten seien fünf hervor gehoben, weil sie die methodische Güte des Untersuchungsdesigns illustrieren. Da wurde erstens eine zahlenmäßig breite und für Deutschland repräsentative Stichprobe betrachtet, diese zum zweiten nicht nur hinsichtlich eines (Erfolgs-/Vergleichs-)Kriteriums, sondern gleich dreier: Kompetenzen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften und das drittens sowohl in der Primar- als auch der Sekundarstufe. All dies begründet eine hohe Generalisierbarkeit der Resultate. Das betrifft den Gesichtspunkt der externen oder ökologischen Validität. Jenem der internen Validität, deren Sicherung unabdingbar ist, wenn man Aussagen über Wirkungen (das sind Kausalaussagen!) machen will, gelten die beiden anderen methodischen Merkmale der Studie.
Da ist zum einen die Entscheidung, zum Vergleich Ergebnisse standardisierter Schulleistungstests und nicht Schulnoten zu verwenden. Schulnoten sind nach üblichen Testgütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität schlechte Schätzwerte für schulische Performanz. Noten unterliegen bekanntlich vielen und vielerlei Einflüssen, die nichts mit „wahrer“ schulischer Performanz zu tun haben. Noten hängen – und die entsprechenden internen Prozesse sind in der Regel nicht-bewusst – selbst von der physischen Attraktivität ab: Schöne Schüler(innen) bekommen geschönte Noten (Dunkake, Kiechle, Klein, M. & Rosar, 2012). Im vorliegenden Zusammenhang muss man v. a. in Rechnung stellen, dass Ganztagsschullehrer(innen) „ihren“ Ganztagsschülerinnen und –schülern „geschönte“ Noten geben; vergleichbare Fälle sind aus der Evaluationsforschung gut bekannt und die zugrunde liegenden Mechanismen werden meist im Rahmen von „Reduktion kognitiver Dissonanz“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Dissonanz) erklärt.
In ihrer Darstellung der Ergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen 2012–2015 stellt das StEG-Konsortium (2016, S. 5) einige Überlegungen an zu dem von ihr festgestellten Sachverhalt, dass an Ganztagsschulen sich (vermeintliche) Steigerungen der schulischen Kompetenz zwar in Noten, nicht aber in Testergebnissen zeigen. Dass die Noten einem Prozess der „Schönung“ unterlegen haben könnten, wird dort nicht erwogen; das halte ich für einen Irrtum.
Die zentrale Sicherung der internen Validität erfolgt über die Wahl des richtigen Studiendesigns. Bei Wirksamkeitsstudien wird Experimenten deshalb der Vorzug gegeben, weil man Personen auf die – mindestens – zwei Vergleichsgruppen zufällig verteilt, womit man – bei genügend großer Personenzahl – zu Recht annehmen kann, dass sich die Gruppen nur noch in dem einen interessierenden Punkte unterscheiden. Ist eine solche Zufallszuteilung (Randominsierung) nicht möglich, wie das bei Feldstudien meist der Fall ist, muss man dafür sorgen, dass beide Gruppen außer in dem einen interessierenden Punkte ähnlich sind, sich also v. a. in keinem Punkt unterscheiden, der aufgrund theoretischer Überlegungen und / oder empirischen Wissens das Ergebnis beeinflussen könnte.
Gelingt das, kann man – aber auch nur dann – von einem quasi-experimentellen Design sprechen. Ein solches wurde in der hier betrachteten Studie realisiert. Für den Vergleich der Schulen beider Organisationsformen wurden Schulen parallelisiert (gematcht), die sich nicht in Bezug auf die Schülerkomposition in den Schulen, der Region (Bundesländer) und (im Falle der Sekundarstufe) der Schulform unterscheiden. Damit sind bekanntermaßen bedeutsame Prädiktoren der Schülerleistung kontrolliert. Die zentralen Ergebnisse ihrer quasi-experimentellen Untersuchung fassen die Autoren so zusammen:
„In unserer Studie betrachteten wir die Primar- und die Sekundarstufe, sowie Kompetenzen in den Domänen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Neben dem Leistungsniveau analysierten wir Bildungsungleichheit an Halb- und Ganztagsschulen. Unsere Analysen beruhen auf repräsentativen Stichproben aus drei großflächig angelegten Schulleistungsstudien. Zusammenfassend bieten die Ergebnisse so gut wie keine empirische Evidenz dafür, dass die Organisationsform von Schule einen Effekt auf die Schülerleistung hat. Trotz des erweiterten Zeitbudgets ist das Leistungsniveau an Ganztagsschulen nicht höher und die Bildungsungleichheit nicht geringer als an Halbtagsschulen.“
Ein zweiter Blick in die Forschung: ein unkontrollierter Gruppenvergleich
In vielen, wenn nicht allen anderen Fällen als dem oben dargestellten, werden Analysen zur bildungspolitischen Wirksamkeit von Ganztagsschulen durchgeführt mit Untersuchungen, deren Design als „unkontrollierter“ Gruppenvergleich zu bewerten ist. Nehmen wir zur Illustration die jüngste Studie aus der StEG-Forschung (Lossen, Tillmann, Holtappels, Rollet & Hannemann, 2016). Dort wurde untersucht, ob die Teilnahme an naturwissenschaftlichen Ganztagsangeboten (Nawi-GTA, „domänenspezifischen Lernangeboten“) in Grundschulen die erwarteten positiven Effekte hat. Untersuchungsanlage und –ergebnisse sind folgendermaßen zusammenfassend dargestellt:
„Anhand der Daten von 2149 Schüler/-innen werden Entwicklungen ihrer Kompetenzen in Naturwissenschaften und ihres sachunterrichtsbezogenen Selbstkonzepts vom dritten bis vierten Schuljahr betrachtet. Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnahme an domänenspezifischen Lernangeboten keinen Effekt auf die Entwicklung von Naturwissenschaftskompetenz und sachunterrichtsbezogenem Selbstkonzept hat.“ (S. 760)
Die Bewertung passt zur Grundeinschätzung: Die Ganztagsschule hält ihre bildungspolitischen Versprechen nicht. Ich kann ihr aus methodischen Gründen dennoch nicht folgen und liefere dazu die Begründung. Die These der Wirkungslosigkeit beruht in beiden Fällen auf dem Befund, dass sich Schüler(innen), die an Nawi-GTA teilgenommen hatten, in beiden – über Tests erfasste – Kriteriumsgrößen nicht von jenen unterscheiden, die Nawi-GTA fernblieben. Die entscheidende Frage lautet: Darf man im vorliegenden Falle von einem Nicht-Unterschied auf Nicht-Wirksamkeit schließen. Man dürfte es, wäre davon auszugehen, dass sich die verglichenen Gruppen nicht unterschieden hinsichtlich anderer Merkmale, die Einfluss auf die Kriteriumsgrößen haben.
Mit dieser Annahme kann man ihm vorliegenden Fall gerade nicht operieren. Die recht wenigen Nawi-GTA-Teilnehmer(innen) – ca. 10 bis 15 Prozent der betrachteten Gesamtgruppe – sind nämlich keine repräsentative Stichprobe; das liegt fast nie vor, wenn Gruppenbildung durch Selbstselektion erfolgt. Die Nawi-GTA-Gruppe ist eine verzerrte Auslese, wie die Betrachtung einiger Merkmale des familiären Hintergrundes zeigt: „Im Vergleich zur Gesamtstichprobe sind in den Angeboten etwas mehr Jungen, mehr Kinder mit Migrationshintergrund oder nicht ausschließlich deutscher Familiensprache, aus ausbildungsferneren Familien und aus der unteren HISEI-Terzil vertreten.“ (S. 767) „Unteres HISEI-Terzil“ meint Zugehörigkeit zur unteren von drei Gruppen des sozio-ökonomischen Status. Eingedenk allen Wissens über den Zusammenhang von Kompetenz(erwerb) und familiärem Hintergrund lässt sich die These aufstellen: Auch wenn die Nawi-GTA-Teilnahme bei dieser Gruppe keinen Effekt zeigt, so könnte sie bei einer durchschnittlichen Gruppe sehr wohl wirksam sein.
Das eben betrachte Beispiel ist mit Blick auf das Studiendesign typisch für die Begleitforschung zum deutschen Ganztagsschulprojekt im Allgemeinen und die von StEG im Besonderen. Ich bewerte daher die Ergebnisse solcher Untersuchungen als „nicht überzeugend“; das gilt für erwartungswidrige („negative“) Resultate wie oben ebenso wie für erwartungemäße („positiven“). Ich teile daher nicht den auch in sozialpädagogischen Kreisen weit verbreiteten Optimismus, die Ganztagsschule würde zwar nicht schulische, wohl aber psychosoziale Kompetenzen fördern.
Der Glaube an die heilsame Wirkung von Strukturänderungen
Was aber, so muss man (spätestens) an dieser Stelle fragen, hat eigentlich den Glauben begründet, die Ganztagsschule würde Schulleistungen befördern und den Einfluss der sozialen Herkunft auf Schulleistung verringern / kompensieren. Zu sehen ist darin letztendlich der Ausfluss einer – oft nicht bewussten – Grundüberzeugung: Würde man erst „die Verhältnisse“ ändern, wandelte sich nachfolgend auch Verhalten. Diese Grundidee hat etwas sehr Ansprechendes, Karl Marx hat sie auf den höchsten Begriff gebracht und zu den Gründungsdokumenten der Profession wie der Disziplin Soziale Arbeit gehört der Doppelschwur auf Veränderung von Verhalten wie Verhältnissen. Der Glaube an die heilsame Wirkung von strukturellen Veränderungen mag auf vielerlei Feldern viel Sinn machen, auf dem der schulischen Bildung hingegen nur einen geringen, wenn nicht gar keinen. Strukturänderungen haben nach empirisch fundierter Kenntnis zur Beförderung schulischer Kompetenz und der Bildungsgerechtigkeit nichts Wesentliches beigetragen. Schon Anfang dieses Jahrzehnts war auszumachen, dass die von Forschungsergebnissen Informierten vom Glauben an Minderung der Bildungsbenachteiligung durch Strukturänderungen zunehmend mehr abließen (Heekerens, 2012a, 2012b).
Zu dieser Ansicht, der oft ein Sinneswandel war, trugen nicht zuletzt Analyseergebnisse bei, die John Hattie 2008 erstmals in Visible Learning (deutsch: Hattie, Beywl & Zierer, 2013; vgl. Heekerens, 2013) veröffentlicht hatte. Zum Lernerfolg von Schüler(innen), so die zentralen Thesen, tragen neben den internen Faktoren in Gestalt von Schüler(innen)eigenschaften wie Begabung und Bildungsgeschichte solche externen Faktoren bei, die nahe am Unterrichtsgeschehen liegen; verschiedenen Aspekte des Lehrer(innen)verhaltens etwa (vgl. Heekerens, 2017a). Gegenüber solchen „proximalen“ Einflussfaktoren sind „distale“ (entfernt liegende) wie etwa Struktur der Schule oder des Bildungssystem weitaus weniger bedeutsam.
Klaus Zierer, der im deutschsprachigen Raum wohl der professorale Schulpädagoge ist, der John Hatties Ansatz am meisten ernst nimmt, hat vor drei Jahren erklärt: „Auch wenn internationale Vergleichsstudien längst erwiesen haben, dass Schulstrukturen nicht über Leistungserfolge entscheiden, die Diskussion in Deutschland darüber ebbt nicht ab: sechsjährige statt vierjährige Grundschule, Abschaffung der Hauptschule, Zweigliedrigkeit statt Dreigliedrigkeit, Gemeinschaftsschule als neuer Weg, länger gemeinsam lernen, Ganztagsschule und Krippenplätze für alle. John Hattie erteilt diesen Strukturdebatten eine klare Absage. Sie sind seiner Meinung nach nicht entscheidend für den Schulerfolg – vor allem nicht in einem Land wie Deutschland, das erstens ein hochentwickeltes Schulsystem hat und zweitens erfolgreich damit fährt.“ (Zierer, 2014, S. 18)
All denen, die nach wie vor an eine kompensatorische, soziale Benachteiligung verringernde Wirkung der Gesamtschule oder sonstiger struktureller Schulalternativen glauben, seien auf die einschlägige Analyse von Helmut Fendt (2014) verwiesen. Der hatte in den 1980ern und 1990ern nicht nur Gesamtschulstudien vorgelegt, sondern war auch einer der Autoren der nach der Jahrtausendwende durchgeführten LifE-Studie; LifE steht für Lebensverläufe von der späten Kindheit ins frühe Erwachsenenalter. Mit LifE-Daten konnte zusätzlich zum Lebenszeitraum von der 6. zur 10. Schulstufe die Langzeitperspektive der bis zum 35. Lebensjahr erreichten Abschlüsse analysiert werden. Und dabei zeigte sich Folgendes (Literaturverweise sind weggelassen):
„Gleich welches Bildungssystem die jetzt 35-Jährigen durchlaufen hatten, der Einfluss der sozialen Herkunft war immer gleich groß. Die Trennung nach dem 4. Grundschuljahr, nach dem 6. Jahr der Förderstufe oder das gemeinsame Lernen bis zum 10. Schuljahr erbrachten keine Unterschiede in der Determinationsstärke des sozialen und kulturellen Niveaus des Elternhauses für den Ausbildungsabschluss. … Analog zu den Ergebnissen der früheren Gesamtschulstudien (…) war dies für den Zeitraum des Schulbesuchs der Fall, aber nicht in der Lebensverlaufsperspektive. Es ergaben sich keine mehrebenenstatistisch (…) abgesicherten Interaktionen zwischen der sozialen Herkunft und dem besuchten Schulsystem bei der Prädiktion des letzten Ausbildungsniveaus (…).“ (S. 60)
Ich höre schon den Einwand: Aber die Gesamtschule ist ja nun doch etwas anderes! Ohne Zweifel beabsichtigt sie, etwas anderes zu sein. Dass die zum Start des deutschen Ganztagsschulprojekts vorliegenden Forschungsbefunde zu allem Optimismus Anlass gegeben hätten und die Ganztagsschule gleichsam alternativlos dagestanden wäre, glaubt(e) niemand mit auch nur oberflächlicher Kenntnisse der Sachlage. Als „unverdächtige Zeugen“ für diese Einschätzung seien hier StEG-Mitarbeiter(innen) zitiert, die bereits vor zehn Jahren Antwort gaben auf die Frage: „Was wissen wir über die Kompetenzentwicklung in Ganztagsschulen?“ (Radisch, Stecher, Fischer & Klieme, 2014; erste Aufl. 2008). Ich zitiere die hier interessierende Passage (ohne dortige Literaturnachweise):
„Radisch und Klieme … und Klieme, Kühnbach, Radisch und Stecher … kommen aufgrund einer umfangreichen Literatursichtung zu dem Schluss, dass im deutschsprachigen und auch im angloamerikanischen Raum nur wenige Studien existieren, mit denen sich evidenzbasierte Aussagen über Wirkungen und Wirkmechanismen in ganztägig arbeitenden Schulen treffen lassen. … Eine zentrale Erkenntnis, die sich aus den vorliegenden Studien ergibt, ist etwa, dass der erweiterte Zeitrahmen allein keine oder nur geringe Wirkungen hervorzurufen vermag … Der unmittelbare Vergleich zwischen Halbtags und Ganztagsschulen erbringt zum einen keine durchgängig positiveren Wirkungen auf der Seite der Ganztagsschulen, zum anderen widersprechen sich die referierten Befunde teilweise.“ (S. 320)
Die Frage der Bildungsgerechtigkeit bleibt auf der Tagesordnung
An der starken Abhängigkeit schulischen Erfolgs vom familiären Hintergrund hat sich hierzulande seit 2000 wenig geändert (Heekerens, 2017b). Damit ist die Frage der Bildungsgerechtigkeit weiterhin aktuell. Allerdings sollte man sie – und das gilt auch für entsprechende Bemühungen an der Gesamtschule – fokussieren. Wer sich dem Thema Bildungsgerechtigkeit geleitet von der Sozialen Frage nähert, denkt bei Minderung der Herkunftseffekte weniger an Erhöhung der Gymnasial-, Abiturient(innen)- und Studienquote sozial benachteiligter Kinder, sondern vornehmlich daran, dass solche Schüler(innen) zumindest einen Hauptschulabschluss und damit verbundene psychosoziale Fertigkeiten erwerben, die ihnen ermöglichen, eine qualifizierende berufliche Ausbildung aufzunehmen.
Hier muss man etwas ausholen (vgl. Heekerens, 2017b), weil Wohlfahrtspolitik sich, grob skizziert, sowohl auf Status-Erwerb wie auf Status-Sicherung richtet bzw. richten kann. Und hier gibt es Unterschiede dabei, wie diese beiden Komponenten gewichtet sind. Je nach Gewichtung sieht Wohlfahrtspolitik anders aus; darauf hat v. a. Klaus Hurrelmann wiederholt aufmerksam gemacht. Die deutsche Wohlfahrtspolitik trägt seit Bismarckscher Zeit und im Unterschied sowohl zur nordeuropäischen wie zur angelsächsischen Tradition bestimmte Merkmale:
„Das deutsche Modell der Wohlfahrtspolitik spricht der sozialen Sicherung die eindeutig größte Bedeutung zu. Diese Sicherung wird überwiegend über die Familie vorgenommen, indem der ‚Broterwerber‘, meist der berufstätige Vater, der Empfänger von Versorgungsleistungen für alle Familienmitglieder ist. Der öffentlichen Bildungspolitik kommt in dieser Tradition grundsätzlich eine eher geringere Rolle zu. Denn diese Wohlfahrtstradition geht davon aus, dass der Statuserwerb eindeutig die Sache der Familien sei. Diese sind in den ersten Lebensjahren allein und ab dem sechsten zusammen mit den (Halbtags-)Schulen für die Erziehung und Bildung der Kinder zuständig und verantwortlich.“ (Hurrelmann, 2012, S. 7)
Es ist eben dieses Grundkonzept des deutschen Wohlfahrtsregimes, das Georg Cremer, Generalsekretär und Vorstand für Sozial- und Fachpolitik des Deutschen Caritasverbandes öffentlichkeitswirksam im März 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Cremer, 2017) beklagt und angegriffen hat: „Das Problem unseres Sozialstaats ist nicht, dass er notwendige Hilfen verweigert, sondern dass er nicht wirksam genug ist, das Entstehen von Notlagen zu verhindern. Der weiterhin enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg trägt wesentlich zur Ungleichheit der Erwerbseinkommen bei.“
In seiner Streitschrift „Was hilft gegen Armut?“ (Soziale Arbeit kontrovers Bd. 7) hatte Georg Cremer (2014; vgl. Sturzeis, 2014) in aller Klarheit erklärt: „Unter dem Gesichtspunkt von Teilhabe und Armutsprävention ist die Vermeidung des Scheiterns im allgemeinbildenden Schulsystem von hoher Relevanz; der Schulabschluss hat weitreichende Steuerungsfunktion für eine erfolgreiche Integration und künftige Erwerbsverläufe.“ (S. 19) Die Erlangung einer Basisqualifizierung in Form eines qualifizierenden und den Zugang zu einer Lehre ermöglichenden Hauptschulabschlusses ist Voraussetzung für die anschließende Absolvierung einer (Berufs-)Ausbildung – und diese wiederum ist ihrerseits zentral für die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Fehler im System der Basisqualifizierung wiegen von daher besonders schwer.
Ist „Bildungsbenachteiligung“ eigentlich nur eine Kopfgeburt?
„Bildungsbenachteiligung“ oder „Bildungsungerechtigkeit“ sind ethisch zu begründende Beurteilungen bestimmter Sachverhalte wie etwa „hoher Einfluss des familiären Hintergrunds auf Schulerfolg“ oder „Abhängigkeit der Schullaufbahnempfehlungen von der sozialen Herkunft“. Die Identifizierung solcher Sachverhalte ist Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Aber auch die nachfolgende Bewertung wird in der Regel von Wissenschaftler(inne)n vorgenommen, dann unter Umständen von einer interessierten Öffentlichkeit aufgegriffen und eventuell auch in den Medien verbreitet. Worüber wir wenig wissen: Empfinden sich eigentlich betroffene Schüler(innen) sowie deren Eltern selbst „von der Schule“ benachteiligt bzw. ungerecht behandelt?
Wir wissen es nicht – zumindest nicht mit hinreichender Sicherheit. Aber es gibt Befragungsergebnisse, die nahe legen, dass sich in so etwas wie „Bildungsbenachteiligung“ eine lebensweltliche Erfahrung widerspiegelt. In dem vom Deutschen Kinderhilfswerk (https://www.dkhw.de/) unlängst vorgelegten Kinderreport Deutschland 2017 (Deutsches Kinderhilfswerk, 2017) finden sich nämlich folgende Ergebnisse: Bald zwei Drittel (64 %) der befragten 10- bis 17-Jährigen beurteilen das Statement „Es gibt Kinderarmut in Deutschland, weil arme Kinder in der Schule zu wenig unterstützt werden, um gute Noten und später einen guten Beruf zu bekommen“ mit „Trifft voll und ganz zu“ (23%) bzw. „Trifft eher zu“ (41%). Weitaus stärkere Zustimmung findet die Aussagen bei den befragten Erwachsenen; hier liegen die Prozentwerte der Zustimmung bei 80 bzw. 49 und 31 (S. 25).
Die Ganztagsschule und die Kinder- und Jugendhilfe
Anfang 2017 wurde der neuste, 15. Kinder- und Jugendbericht (Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2017) veröffentlicht. Der für die Erstellung verantwortlichen zwölfköpfigen Sachverständigenkommission stand Thomas Rauschenbach, Leiter des Deutschen Jugendinstituts (DJI) vor. Das DJI hatte vor fünf Jahren eine Expertise zur Ganztagsschule erstellt (Rauschenbach, Arnoldt, Steiner & Stolz, 2012). Kein Wunder also, dass auch die Ganztagsschule im Allgemeinen und die Beteiligung der Kinder- und Jugendhilfe an diesem Projekt im Besonderen Gegenstand der Betrachtung des Berichts (5. Kapitel) sind. Da dort nicht Kinder, sondern Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene betrachtet werden, wird nicht (auch) die Primar-, sondern nur die Sekundarstufe in den Blick genommen. Der Bericht dokumentiert sehr eindrücklich, wie viele offene Fragen und drängende Probleme es bei der Thematik „Ganztagsschule und Kinder- und Jugendhilfe“ es gibt. Zur Veranschaulichung sei eine längere Passage aus der Zusammenfassung am Berichtsende („Kinder- und Jugendarbeit – ein Baustein zur Weiterentwicklung der Ganztagsschule“) zitiert:
„Das Zusammenwirken der Kinder- und Jugendarbeit mit der Ganztagsschule in der Sekundarstufe ist, wie die Bilanz zeigt (vgl. Kap. 5), längst nicht so intensiv, wie es häufig angenommen wird. Träger der Kinder- und Jugendarbeit bringen sich sehr unterschiedlich ein, z. T. im Rahmen der Übernahme von Betreuungszeiten in den Räumen der offenen Jugendarbeit, z. T. im Rahmen von Projekten am Nachmittag in der Schule. Dabei zeigen die vorliegenden Befunde, dass von stabilen Kooperationen im Sinne gemeinsamer Zielsetzung und gemeinsamer Verantwortung kaum gesprochen werden kann. So fehlt es z. B. bislang an Konzeptionen und einer Verständigung darüber, welche strukturelle Rolle die Kinder- und Jugendarbeit in einer Ganztagsschule einnehmen sollte und vor allem, wie es gelingen kann, dabei ihre fachliche und jugendpolitische Identität zu erhalten. Eine Beteiligung der Kinder- und Jugendarbeit kann nicht voraussetzungslos und unverbindlich gestaltet werden. Hier bedarf es einer strukturellen Rahmung und verbindlicher Absprachen.
Es wundert daher nicht, dass die Kinder- und Jugendarbeit bisher eine ambivalente Haltung gegenüber ihrer Mitwirkung an Ganztagsschulen in der Sekundarstufe einnimmt, auch wenn dies nicht für alle Träger gleichermaßen gilt. Die ambivalente Haltung dokumentiert aber auch, dass sie sich bisher nicht eindeutig eingebracht hat und weiterhin um ihre Positionierung ringt. Neben der Frage des hierarchischen oder nicht-hierarchischen Verhältnisses bleibt häufig unklar, was die Schule von ihr erwartet, welche Räume der Eigenständigkeit sie ermöglicht und was die Kinder- und Jugendarbeit als non-formaler und informeller Möglichkeitsraum für Lern- und Bildungsprozesse in die Ganztagsschule auch tatsächlich einbringen kann. Offene Lernsettings der Kinder- und Jugendarbeit und die Beteiligungsformen Jugendlicher könnten dabei die besonderen Lernmöglichkeiten ausmachen, die auch ein Gewinn für die Gestaltung von Ganztagsschulen sein können und die nicht zwangsläufig in Schulgebäuden stattfinden müssen. Dadurch könnte die Ganztagsschule für Jugendliche attraktiver werden. Schule muss dabei anerkennen, dass eine ‚verschulte‘ Kinder- und Jugendarbeit wenig Sinn macht. Kinder- und Jugendarbeit muss ihrerseits aber auch anerkennen, dass sie nicht die ‚bessere Schule‘ sein kann.“ (S. 483)
Zur oben angesprochen „Frage des hierarchischen oder nicht-hierarchischen Verhältnisses“ gibt es eine erste empirische Studie: „Normalisierte Hierarchie in Ganztagsgrundschulen. Empirische Befunde zur innerorganisationalen Zusammenarbeit von Lehrkräften und weiterem pädagogisch tätigem Personal“ (Buchna, Coelen, Dollinger & Rother, 2016).
Grundlage bilden Daten des qualitativ ausgerichteten DFG-Projektes „‚Bildungsbenachteiligung‘ als Topos pädagogischer Akteure in Ganztagsschulen“ (http://www.bildung.uni-siegen.de/mitarbeiter/dollinger/projekte/bildungsbenachteiligung/?lang=de). Das „weitere pädagogisch tätige Personal“ bestand in der Untersuchungsgruppe aus sechs Schulen mit außerunterrichtlichen Angeboten zur Hälfte aus Personen ohne irgendeine pädagogische Formalqualifikation; in der anderen Hälfte sind Erzieher(innen) und Sozialpädagog(inn)en die größten Berufsgruppen. Es wurden in Halb- und Ganztagsschulen problemzentrierte Interviews mit Schulleitung und Ganztagskoordination sowie akteursgruppenhomogene und -heterogene Gruppendiskussionen geführt und mit der dokumentarischen Methode ausgewertet. Als zentrales Ergebnis mit Blick auf die Zusammenarbeit der pädagogischen Akteure konnte eine normalisierte Hierarchie rekonstruiert werden. Diese lässt sich unabhängig von der jeweiligen Organisationsform und der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft in zwei Typen differenzieren: in eine hinterfragte (der weitaus häufigere Fall) und eine unhinterfragte Zusammenarbeit.
„Normalisierte Hierarchie“ meint, „dass es unterschiedliche Statuspositionen und Selbstverständlichkeiten innerhalb der untersuchten Grundschulen zwischen Lehrkräften und weiteren pädagogisch Tätigen gibt, wobei Letztere den Erstgenannten untergeordnet sind. Dieses Hierarchiegefälle wird von beiden Seiten als Normalität betrachtet und durch konjunktiv als selbstverständlich gerahmte Handlungsabläufe innerhalb der innerorganisatorischen Praxis (re-)produziert.“ (S. 287) Das gilt selbst für rhythmisierte Ganztagsschulen. Dieses Ergebnis verwundert nicht, wenn man sich vor Augen hält, dass auch die „weiteren pädagogisch Tätigen“ auf dem Schulgelände arbeiten (müssen), der Dienstaufsicht der Schulleitung unterliegen und, was meist nicht realisiert wird, die Lehrerschaft eine „hermetische Profession“ (vgl. Heinemann, 2017, S. 73-126) ist. In Rechnung zu stellen hat man ferner etwas anderes: Wenn man die in vorliegendem Artikel auszugsweise dokumentierten Protokolle liest, wird deutlich, dass die beiden Berufsgruppen unter den „weiteren pädagogisch Tätigen“, die Erzieher(innen) und die Sozialpädagog(inn)en kein professionelles Selbstkonzept ihrer Tätigkeit an der Ganztagsschule haben. Wo auch hätten sie es erwerben können?
Ulrich Heinemann hat in seinem kenntnis- und materialreichen Buch „Bewegter Stillstand. Die paradoxe Geschichte der Schule nach PISA“ (Heinemann, 2017) auch der Ganztagsschule einen Abschnitt gewidmet. Nach dessen Lektüre verstärkt sich der Eindruck, dass man die mit der Ganztagstagsschule verbundene Hoffnung einer fruchtbaren Kooperation von Schule und Jugendhilfe getrost begraben kann. Zu dieser Einschätzung trägt auch etwas bei, wovon hier bislang gesprochen wurde: die Frage der Finanzierung der unter der Flagge der Jugendarbeit Tätigen. Ich zitiere zur Veranschaulichung die einschlägige Passage aus „Bewegter Stillstand“:
„Diese sehr traditionelle Position der Schulpolitik der Länder steht in einem gewissen Gegensatz zu der Wertschätzung, die von derselben Politik seit einiger Zeit den sog. Multiprofessionellen Teams an Schulen entgegengebracht wird. So hatten sich beispielsweise die rot-grünen-Regierungspartner in Nordrhein-Westfalen in einem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass sie solche Teams ‚in Verbindung mit dem Ausbau des Ganztags und der Stärkung der Kooperation mit der Jugendhilfe anstreben‘. Dieses Plädoyer für multiprofessionelle Teams ist so aufrichtig wie halbherzig. Halbherzig deshalb, weil die notwendigen Konsequenzen nicht gezogen werden. Folgerichtig wäre es nämlich die Schulhaushalte so zu öffnen, dass aus ihnen – und zwar in größerem Stil – nicht nur die Lehrkräfte, sondern auch die übrigen benötigten Professionen finanziert werden könnten. Stattdessen bleibt die Schulpolitik (auch in NRW) mit kleineren, nicht ins Gewicht fallenden Ausnahmen auf den weiteren Ausbau von Lehrerstellen fixiert und verunmöglicht damit strukturell, wofür sie programmatisch eintritt, nämlich eine funktionale Differenzierung der Schulorganisation durch den Auf- und Ausbau von multiprofessionellen Teams.
Erfinderisch wie die Schulpolitikerinnen und Schulpolitiker nun einmal sind, treten sie dafür ein, die Professionen, die in der Schule für den Aufbau dieser Teams benötigt werden, im Wesentlichen aus anderen Etats, etwa der Jugendpolitik oder gleich ganz vom Bund finanzieren zu lassen. Andere Politikbereiche haben allerdings nachvollziehbar andere Prioritäten und die Bundesregierung wird sich sicherlich nicht noch einmal – wie im Ganztagsbereich – finanziell in der Schule engagieren, ohne dass ihr die Länder hier nicht auch eine entsprechende Mitsprache einräumen. Auf Sicht besteht deshalb die Gefahr, dass die Ganztagsschulen ihre kompensatorische Wirkung nicht entfalten können und dass darüber hinaus auch die für die öffentlichen Ziele der Schulreform zentral wichtige funktionale Differenzierung der schulischen Arbeitsorganisation ein Randthema der Schulentwicklung bleibt.“ (S. 170)
Literatur
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Verfasst von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Zitiervorschlag
Heekerens, Hans-Peter, 2017.
Ganztagsschule – Viel Lärm um nichts [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 27.03.2017 [Zugriff am: 13.02.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/27809.php
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