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Nähe trotz Distanz – Gestaltung einer lebensweltorientierten digitalen Beziehungsgestaltung in Zeiten der Corona-Pandemie

Prof. Dr. Sabrina Hancken

veröffentlicht am 24.06.2021

Die COVID19-Pandemie wird die Digitalisierung der Sozialen Arbeit rapide vorantreiben. Eine wesentliche Herausforderung stellt hierbei die professionelle Beziehungsgestaltung dar. Ist schon die alltäglichen Face-to-Face-Arbeit eine anspruchsvolle Aufgabe, so werden in der virtuellen Welt zusätzlich neue Anforderungen an die Fachlichkeit von Sozialarbeitenden gestellt.

Als vor über einem Jahr der erste COVID19-Fall in Deutschland bestätigt wurde, hätte wohl kaum jemand gedacht, dass dieser Ausnahmezustand sich über so viele Wochen und Monate erstreckt. Seit dem ersten Lockdown im März 2020 sind vereinzelt Forschungsergebnisse im Hinblick auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Soziale Arbeit zu verzeichnen. Diese beziehen sich vor allem auf die professionell Helfenden der Sozialen Arbeit und auf besonders vulnerable Menschen in gefährdeten Lebenslagen, die zur Zielgruppe der Sozialen Arbeit gehören. Buschle/​Meyer (2020) haben in einer bundesweiten Online-Befragung mit 1.867 Beschäftigten der Sozialen Arbeit erste Anhaltspunkte zu den Auswirkungen der Einschränkungen auf die Beschäftigungssituation in der Sozialen Arbeit festgehalten. Die Befragungsergebnisse zeigen auf, dass die Corona-Pandemie aus Sicht der Proband*innen beträchtlichen Einfluss auf die professionellen Arbeitsbeziehungen nimmt. Dies zeigt sich mit Blick auf die sich verschärfenden Lebensbedingungen der Adressat*innen Sozialer Arbeit, um die sich erschwerenden eigenen Arbeitsbedingungen sowie die Veränderung professioneller Handlungsweisen in Folge der Corona-Pandemie. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Steenkamp (2020). Sie ging der Frage „Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Soziale Arbeit aus?“ nach und befragte 16 (dual) Studierende der Sozialen Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen. Zu den Erkenntnissen der Studie zählen, dass es infolge der Corona-Pandemie zu einer Arbeitsverdichtung und Komplexitätssteigerung kommt, die sich vielerorts negativ auf die Fachlichkeit auswirkt. Auch scheinen hierarchische Strukturen in der Krisenkommunikation und Abhängigkeitsproblematiken auf der Beziehungsebene begünstigt zu werden. Neben diesen negativen Aspekten sind aber auch positive Effekte zu verzeichnen, wie ein Digitalisierungsschub, ein Abbau von Bürokratie und intensivierte Beziehungserfahrungen. Ausgehend von der Überlegung, dass der Digitalisierungsschub als kultureller Wandel in der Sozialen Arbeit zu verstehen ist, soll das Ziel des nachfolgenden Beitrags die Darbietung einer Ideenskizze sein, wie eine lebensweltorientierte Beziehungsgestaltung in der virtuellen Welt des Internets erreicht werden kann.

Folgen von Corona für die Soziale Arbeit

Bei besonders vulnerablen und auf professionelle Unterstützungssysteme angewiesene Personengruppen zeigen sich infolge der Corona-Pandemie deutliche Belastungsspitzen. Dies betrifft beispielsweise Kinder und Jugendliche, Alleinerziehende (Mütter), Menschen mit Beeinträchtigungen sowie psychisch erkrankte und suchtkranke Menschen, die in ihrer Begleitung des Alltags nur ungenügend von Angeboten der Sozialen Arbeit aufgefangen werden können: Mit zunehmender Dauer der Krise ist zu befürchten, dass sich deren Situation weiter verschärfen wird (DVSG 2020). Aus diesem Grund ist eine niedrigschwellige, unbürokratische und schnelle Kontaktaufnahme zu entsprechenden Hilfsangeboten erforderlich. Hinzu kommt das Social Distancing infolgedessen, Kontakte auf ein Minimum reduziert werden sollen. Sämtliche Unterstützungsmaßnahmen der Sozialen Arbeit sind hiervon betroffen. Soziale Einrichtungen haben Konsequenzen gezogen und greifen auf unterschiedlichste digitale Formate zurück, wie Instagram oder Facebook, um in Kontakt zu bleiben. Der Beziehungsarbeit im Sinne von an einer Beziehung „arbeiten“, sie pflegen, etwas dafür tun, damit sie auch weiterhin Bestand hat, kommt während der Corona-Pandemie, verstanden als soziale Krise, eine neue Bedeutung zu.

Bausteine der Beziehungsarbeit

Unabhängig vom gesellschaftlichen Ausnahmezustand gibt es charakteristische Merkmale, die eine gute Arbeitsbeziehung kennzeichnen. Dieses trifft sowohl auf persönliche als auch auf digitale Kontakte zu. Zunächst unterscheidet sich die helfende Beziehung schon dahingehend von der persönlichen Beziehung, dass die helfende Person die Absicht hat „[…] beim anderen Entfaltung, Entwicklung, Heranreifung, besseres Agieren, ein verbessertes Fertigwerden mit dem Leben zu fördern“ (Rogers 2004, S. 53). Eine gute Arbeitsbeziehung kommt folglich nicht „einfach so zustande“ und hängt auch nicht zwingend davon ab „die gleiche Wellenlänge“ zu haben. Vielmehr kann die professionelle Beziehungsarbeit als eine lern- und erfahrbare Methode der Sozialen Arbeit verstanden werden. Sie lässt sich in neun Bausteine gliedern, die im Arbeitsprozess zusammenfließen (vgl. Hancken 2020, S. 106 ff.).

Ausgangspunkt ist zunächst die personale Identitätsarbeit und das berufliche Rollenverständnis (Baustein 1). Diese eher soziologischen Begriffe lassen sich relativ einfach erklären. Mit Identität sind quasi Bilder über sich Selbst gemeint, die mit den Bildern der Außenwelt abgeglichen werden. Identitätsarbeit hat als Bedingung und als Ziel die Schaffung von Lebenskohärenz. In früheren gesellschaftlichen Epochen war die Bereitschaft zur Übernahme vorgefertigter Identitätspakete das zentrale Kriterium für Lebensbewältigung. Heute kommt es auf die individuelle Passungs- und Identitätsarbeit an, also auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum „Selbsttätigwerden“ oder zur „Selbsteinbettung“. Für die praktische Tätigkeit ergibt sich daraus, dass vor allem die Kompetenz des sozialen Sinnverstehens gegenüber biografischen Festlegungen und gesellschaftlichen Ansprüchen vorhanden ist. Darüber hinaus spielen auch Werte eine zentrale Rolle. Die Wertewelt ist jeweils auch ein zentraler Rahmen für die eigene Identitätskonstruktion. Hierbei handelt es sich um einen sehr individuellen Baustein, der bei jedem professionell Helfenden zum Einsatz kommt.

Deutlich praxisnäher ist der Baustein 2, Kommunikation und Interaktion, bei dem es sich um eine Querschnittskompetenz der Sozialen Arbeit handelt. Denn bevor es überhaupt zu einem tragfähigen Arbeitsbündnis kommen kann, steht die Frage nach dem „Wie miteinander ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben“ im Raum. Signale des Zuhörens zeigen sich meist von selbst, z.B. durch eine offene Körperhaltung, verstehende Laute wie „hm“ oder „ja“ sowie durch einen regelmäßigen Blickkontakt. Es gibt eine Reihe von Techniken, um gute Gespräche zu führen. Neben zirkuläre Fragen („Wenn Sie ihre Anspannung auf einer Skala von 0 bis 10 einschätzen sollen, wo befinden Sie sich gerade?“) können strategische und reflektierende Fragen („Sie haben mir nun erzählt, dass … Welche Auswirkungen hat das auf Ihr derzeitiges Leben?“) sowie beziehungsfördernde Fragen („Sind Sie damit einverstanden, dass wir zunächst … und dann …?“) zur Anwendung kommen.

Beim Baustein 3 handelt es sich um die „(Grund-)Haltung“ bestehend aus Echtheit, Empathie und Wertschätzung. Haltung kann verstanden werden als Grundeinstellung – erwachsen aus den unterschiedlichen Lern-, Lebens- und Berufserfahrungen; eingebettet in den jeweiligen kulturellen und zeitlichen Kontext. Haltung zeigt sich in der praktischen Auseinandersetzung mit den Adressat*innen der Sozialen Arbeit in konkreten Aktionen und Begegnungen. Dabei ist eine Orientierung an den Menschenrechten und das Vergegenwärtigen einer helfenden Profession anzugehören unabdingbar.

Bei Vertrauen handelt es sich um den Baustein 4. Vertrauen drückt sich überwiegend als soziale Einstellung mit der Erwartung eines positiven Verlaufs aus. Dabei kommt dem Anfangskontakt eine besondere Stellung zu, da die erste gegenseitige Eindrucksbildung und damit einhergehend, die wahrgenommene Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers, von entscheidender Bedeutung für den weiteren Interaktionsverlauf ist. Hierzu ein Fallbeispiel:

Kathi, 20 Jahre alt, die Sie schon seit vielen Jahren kennen, steht auf einmal vor Ihnen. Sie wirkt recht unsicher. Ihre erste Frage ist, ob sie rauchen darf. Dann erzählt sie, dass sie sich große Sorgen um ihre Freundin Pia macht. Gerade habe sie erfahren, dass Pia aus der Psychiatrie entlassen wurde und nicht weiß, wo sie bleiben kann. Ihre Mutter ist nicht mehr bereit Pia zuhause aufzunehmen, da sie nun zum fünften Mal vollgedröhnt von der Polizei in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Kathi macht sich riesige Sorgen und bittet Sie um Hilfe. Sie vereinbaren sich am nächsten Tag gemeinsam mit Pia am Marktplatz zu treffen.

Wie würden Sie die Kontaktaufnahme zu Kathi gestalten?

Themen des Erstkontaktes sollten neben der Vorstellung der Einrichtung und der eigenen Person sowie organisatorischen Abläufen und Zielen des Gespräches vor allem der offene Dialog mit der betreffenden Person sein. Hierzu zählen u.a. die aktuelle Situation, wichtige lebensgeschichtliche Erfahrungen sowie Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen. Es geht um Kontaktaufnahme, gegenseitiges Kennenlernen, Sammeln von wichtigen Informationen sowie um den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses. Um dieses zu erreichen ist es wichtig Fehler im Vorgehen, wie die ausschließliche Sammlung von Informationen und häufiges Anwenden von geschlossenen Fragen zu vermeiden. Die Erfahrung zeigt, dass manch eine Person abwehrend darauf reagiert, „schon wieder etwas über sich erzählen“ zu müssen, nicht zuletzt weil oftmals schambesetzte Themen, wie Umgang mit Familie, Schulden, Arbeitslosigkeit und Süchte angesprochen werden. Speziell auf den Fall Kathi bezogen, besteht die Möglichkeit, dass sie nicht zwingend erfreut über den Kontakt sein muss. Denn individuelle Beziehungsmuster prägen die professionelle Beziehungsgestaltung und sind ausschlaggebend dafür, wie die betreffende Person mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die professionelle Beziehung gestalten wird und was sich daraus für das Vorgehen des*der psychosozial Helfenden ergibt.

Dem Baustein Vertrauen schließt sich der Baustein 5 in Form des Nähe-Distanz-Verhältnisses an. Hier geht es vor allem um das „richtig“ empfundene Maß. Wann dieses Maß an Nähe und Distanz als angemessen empfunden wird, hängt von den eigenen Erfahrungen, den individuellen Interpretationen und Handlungszielen ab. Es geht um die Regulation von Nähe und Distanz, um sich den Beziehungsentwicklungen anzupassen und zu reflektieren.

Der Baustein 6 behandelt das Konzept der Feinfühligkeit. Das Konzept der Feinfühligkeit geht auf Ainsworth (1978) zurück und bezeichnet die Qualität der Reaktion einer Bezugsperson, durch welche diese die frühkindliche Bindung beeinflussen kann. Denn: Auch wenn der Start ins Leben nicht so feinfühlig verläuft, besteht die Möglichkeit, durch spätere feinfühlige Interaktionserfahrungen eine sichere Bindung zu entwickeln. Feinfühlig vorzugehen bedeutet eine dialogische Sprache anzuwenden und verschiedene Affekte in ihrem Kontext zu benennen.

Relativ eng mit dem Konzept der Feinfühligkeit ist die Emotionsarbeit, Baustein 7, verbunden. Der Begriff der Emotionsarbeit wurde maßgeblich von Arlie Hochschild geprägt. In der Gefühlsarbeit geht es darum, erwünschte Gefühle zu erzeugen und unerwünschte zu unterdrücken (vgl. Hochschild 1990, S. 85 f.) Gefühlsarbeit ist auf Gefühlsnormen ausgerichtet, die uns die Richtung angeben, welches (emotionale) Verhalten unsere jeweiligen Rollen und Beziehungskonstellationen verlangen. Die Anforderung besteht darin, einen professionellen Umgang sowohl mit den eigenen als auch mit den Gefühlen des Gegenübers zu finden. D.h. es geht im Kern darum, die eigenen und fremden Gefühle entsprechend der Situation zu gestalten, zu beeinflussen oder zu lenken.

Beim Baustein 8 handelt es sich um die Reflexion. Reflexion meint mehr als nur Nachdenken. Im Reflexionsprozess werden die eigenen Handlungen in konkreten Situationen aus den professionellen Arbeitszusammenhängen rückblickend betrachtet und analysiert.

Der letzte Baustein 9 greift die Fähigkeit Humor als Methode und Haltung der Sozialen Arbeit einzusetzen, auf. Denn was ist entlastender oder auch vertrauensbindender als das gemeinsame Lachen? Humor im pädagogischen Kontext wird als eine menschliche Haltung verstanden, die als Distanzierung zu Belastungen und Krisen fungieren kann. Nach Effinger (2008, S. 33) werden humorvolle Interventionen gezielt eingesetzt, „damit Andere zum Lachen und in einen Zustand der Erheiterung gebracht werden“. Humor ist somit als Interventionsstrategie wirksam. Voraussetzungen für den Einsatz von humorvollen Interventionsstrategien sind die Schaffung einer entspannten Atmosphäre und ein wertschätzender Umgang. Der Humor muss selbstverständlich zu den Adressat*innen passen unter Beachtung ihrer sozialen und kulturellen Hintergründe.

Lebensweltliche Beziehungsgestaltung

Neben diesen neun Bausteinen, die in der Person des psychosozial Helfenden liegen, gibt es noch weitere Einflussgrößen auf die Beziehungsgestaltung. Neben institutionellen Rahmenbedingungen kommen die Besonderheiten des Aufgabenfeldes und der jeweiligen Zielgruppe hinzu. Dabei kann das Konzept der Lebensweltorientierung als ein Rahmen für die unterschiedlichen Handlungsfelder verstanden werden (vgl. Thiersch u.a. 2018, S. 175 ff.). Es formuliert zentrale Maximen, an denen sich sozialarbeiterische Unterstützungsangebote zu einem Ganzen orientieren sollten, zum anderen geben sie die Möglichkeit die Arbeitssettings auf ihre Lebensweltorientierung zu überprüfen. Bei den Prinzipien handelt es sich um Alltagsnähe, Regionalisierung, Prävention, Integration/​Inklusion und Partizipation. Entsprechend stellt eine lebensweltliche Beziehungsgestaltung eine anspruchsvolle und komplexe Aufgabe für Sozialarbeiter*innen dar, die im Normalfall vom persönlichen Kontakt lebt und entscheidend für den weiteren Prozess der Arbeitsbeziehung ist.

Das dieser Normalfall von einem Tag auf den anderen nicht mehr „normal“ ist, führt uns die Corona-Pandemie tagtäglich vor Augen. In vielen Kommunen musste beispielsweise die persönliche Beratung von Menschen in psychosozialen Problemlagen ausgesetzt werden, die aufsuchende Jugendsozialarbeit, in der Jugendliche an beliebten Treffpunkten angesprochen und beraten wurden, machte aufgrund der plötzlich menschenleeren Plätze keinen Sinn mehr und Suppenküchen verteilen kontaktlos über geöffnete Fenster ihre Mahlzeiten. In Zeiten von Social Distancing und virtuellen Kontakten stellt die Beziehungsarbeit eine neue Herausforderung dar. Die Rahmung einer digitalisierten lebensweltorientierten Sozialen Arbeit kann anhand der Prinzipien des lebensweltorientierten Ansatzes geschaffen werden:

  • Mit Alltagsnähe ist die unmittelbare Hilfestellung in der Lebenswelt der Adressat*innen gemeint. Gleichzeitig verweist diese Maxime auf den Respekt vor der Eigensinnigkeit von Lebensverhältnissen. Es geht darum, die Unterschiedlichkeit von Lebensentwürfen und -erfahrungen anzuerkennen und – auch wenn sie fremd erscheinen – zu akzeptieren. Aufzudecken ist weiterhin die Pseudokonkretheit des Alltages, also die Doppelbödigkeit, um so zu einem gelingenderen Alltag zur Erweiterung der eigenen Potenziale, Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten zu gelangen. Dafür ist die Ausrichtung der sozialarbeiterischen Unterstützungsangebote an den Alltagsstrukturen und Alltagslogiken ihrer Adressat*innen unabdingbar. In Bezug auf eine digitalisierte Beziehungsarbeit ist der erste Schritt herauszufinden, wo Adressat*innen bereits auf digitale Formate zugreifen und ihre Beziehungen pflegen. Facebook, WhatsApp, Instagram und Twitter sind nur einige Beispiele dafür, wo Sozialarbeitende anfangen können an der Arbeitsbeziehung „zu arbeiten“.
  • Bei der Regionalisierung/​Dezentralisierung geht es darum Zugangsmöglichkeiten zu Hilfsangeboten in der Umgebung zu schaffen. Ziel ist die Erreichbarkeit der Angebote vor Ort, also in der Lebenswelt der Adressat*innen und nicht beispielsweise in Spezialeinrichtungen. Für die Beziehungsarbeit in der virtuellen Welt stellt sich damit die Aufgabe, ihre Nutzer*innen dort abzuholen, wo sie „surfen“ und nicht darauf zu warten, dass sie beispielsweise die Webseiten der Leistungsanbieter sowie der kommunalen Träger und Behörden nutzen. Es geht um die aktive Suche der digitalen Räume, in denen Kontaktgestaltung und -pflege stattfinden können.
  • Bei der Prävention geht es in der wirklichen Welt zunächst im Rahmen der primären Prävention darum, Krisen gar nicht erst durch das Vorhalten begleitender und unterstützender Maßnahmen entstehen zu lassen und im Sinne der sekundären Prävention sollen bei erwartenden belastenden Situationen Hilfe zur Verfügung gestellt werden. Durch den Zugriff auf digitalisierte Formate besteht hier die Möglichkeit auf die jeweiligen Angebote aufmerksam zu machen und damit auch den Zugang für interessierte Personen zu schaffen – im besten Fall niedrigschwellig und unbürokratisch. Schwellen- und Stigmatisierungsängste können so reduziert und die Anonymität, sofern gewünscht, gewahrt bleiben.
  • Unter dem Prinzip der Integration und Normalisierung werden Angebote für alle verstanden, also nicht nur für Menschen mit Belastungen im Sinne der Inklusion, sondern die Unterstützungsformen der Sozialen Arbeit sind als Normalangebote für alle Menschen gedacht. So eröffnen Social Media neue, oft niedrigschwellige Formen des Zugangs zu und der Information über Hilfen (vgl. Ley/Seelmeyer 2018, S. 23 ff.). Darüber hinaus können soziale Medien wie Facebook und Twitter die gesellschaftliche Teilhabe fördern, indem sie den sozialen Austausch z.B. bei Menschen mit Migrationshintergrund mit entfernten Netzwerken ermöglichen und den Zugang zu wichtigen Informationen erleichtern. Um digitalen Ungleichheiten bezogen auf Nutzungsmöglichkeiten und Nutzungsweisen entgegenzuwirken, sollten sowohl verschiedene Möglichkeiten als auch nicht-digitale Alternativen zur Verfügung stehen.
  • Bei der Partizipation geht es um Freiwilligkeit, Mitbestimmung und Selbsthilfe. Aus diesem Grund steht bei dieser Maxime die Vielfältigkeit von Beteiligungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten im Vordergrund. Digitale Medien stellen einen zentralen Zugang zum öffentlichen, kulturellen und sozialen Leben dar. Bereits in der UN-Behindertenrechtskonvention werden Medien bei der Umsetzung „gleichberechtigter Teilhabe und Inklusion“ eine Querschnittsfunktion zugewiesen, da sie Zugänge zum öffentlichen Diskurs und Informationen schaffen, Bildung fördern und die Teilhabe an Kultur, Erholung, Freizeit und Aktivitäten ermöglichen sollen. PA können sich Menschen mit motorischen Handicaps über Wikis informieren und gehörlose Menschen haben die Möglichkeit über schriftliche Kommunikationswege, Kontakt zu halten.

Je nach Arbeitsfeld können die Strukturmaxime unterschiedlich konkretisiert und inhaltlich ausgestaltet werden. Sofern der äußere Rahmen feststeht, kann es an die methodische Arbeit gehen. Viele wertvolle Tipps zur digitalen Beziehungsgestaltung und -pflege liefert die Onlineberatung, worunter alle Formen der Beratung, bei der die Beratungskommunikation und -gestaltung online unter Zugriff auf das Internet stattfindet, bezeichnet werden. Obwohl bereits seit Mitte der 1990er Jahre erste online-Formate, wie beispielsweise die Telefonseelsorge oder das Kinder- u. Jugendsorgentelefon, durchgeführt wurden, ist die digitale Beratung für viele Beschäftigte im sozialen Bereich nach wie vor Neuland.

Für die professionelle Beziehungsarbeit kommt vor allem der Onlinekommunikation eine besondere Bedeutung zu. Diese findet zum überwiegenden Teil als Text- und zeichenbasierte Kommunikation mit den zentralen Merkmalen der verschrifteten Mündlichkeit, wie „Ich sage …“ oder „Ich sehe …“, statt. Ein Rückgriff auf nonverbale und paraverbale Elemente (wie Emoticons, Soundwörter [puh, hm, etc.]) gehören genauso zum online-Repertoire wie auch eine gezielte Veränderung der Schreibweise und Zeichensetzung (beispielsweise „GIB NICHT AUF!!!“). Dabei kann unterschieden werden zwischen Mail- und Chatberatung, wobei, aufgrund höherer Interaktivität, der Chatberatung im Sinne der Beziehungsarbeit, der Vorrang zu geben ist. Während die Mail-Beratung zeitlich versetzt verläuft, da zwischen Frage und Antwort Tage vergehen können, verlaufen Beratungssituationen in Chats schneller. Trotz der räumlichen Distanz und der Textbasierung weisen Chatberatungen mehr Ähnlichkeit mit dem Dialog in klassischen Face-to-Face-Beratungssituationen auf. Die Beziehungsarbeit wird vor allem durch ein zielgerichtetes methodisches Vorgehen unterstützt. Hintenberger (2019, S. 33 ff.) hat ein Strukturierungsmodell für die Chatberatung entworfen, dass er in vier Phasen gliedert. Es umfasst die Initial-, die Aktions-, die Integrations- und die Neuorientierungsphase. In der Initialphase geht es sowohl um die Kontaktherstellung und die Informationssammlung, als auch um den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses. Durch Exploration des Kontextes ist eine Problemdefinition und die Abklärung weiterer Arbeitsaufträge anzustreben. Der Übergang von der Initialphase zur Aktionsphase erfolgt in der Regel durch eine „spiegelnde Zusammenfassung“ und der Klärung des Arbeitsauftrags. Ideen für „spiegelnde Zusammenfassungen“ sind beispielsweise „Ja, Kim, ich möchte kurz zusammenfassen, was ich verstanden habe …“ oder „Wenn ich das richtig sehe, dann stehen sie vor der Entscheidung: …“. Es schließt sich die Aktionsphase und damit die eigentliche Arbeitsphase an, in dem eine Auseinandersetzung mit dem vereinbarten Arbeitsauftrag erfolgt. In dieser Phase kann der Einsatz von kommunikationsunterstützenden Elementen sowie die Simulation szenischen Erlebens oder die Aktivierung bildhafter Vorstellungen hilfreich sein. Ein Beispiel hierfür ist „Ja, Tim, ich würde dir gerne ein Taschentuch für deine Träne geben. Aber ich denke, deine Tränen brauchen gerade Platz. Ich lege das Taschentuch jetzt neben dich und du entscheidest selbst.“ Daran anknüpfend folgt die Integrationsphase. An dieser Stelle steht sowohl die Zusammenfassung als auch die kognitive Einordnung der in der Aktionsphase besprochenen Themen im Vordergrund. Hilfreich sind an dieser Stelle Fragen, wie „Welche Erkenntnisse aus diesem Chat sind dir jetzt besonders wichtig?“ In der Neuorientierungsphase werden dann Veränderungsszenarien entworfen und Lösungsmöglichkeiten besprochen. Dieses könnte in der Form „Was könnte der nächste kleine Schritt sein, den sie gerne ausprobieren möchten?“ erfolgen.

Neben diesem klar strukturierten Vorgehen, dass zugleich einen gelungenen Reflexionsrahmen durch die Chatprotokolle sowie die schriftlich festgelegten Arbeitsaufträge bietet, ist für die Kontaktaufnahme und den Beziehungsaufbau die aktive Gestaltung des digitalen Kommunikationsrahmens wichtig. Mit aktiv ist gemeint, dass der Kontakt so gestaltet werden sollte, dass ein Vertrauensaufbau stattfinden kann. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Arbeit mit digitalen Visitenkarten der Nutzer*innen. Diese beinhalten beispielsweise den Nicknamen, das Geschlecht, das Alter und das Anliegen. Hier können sich schon erste Hinweise auf die momentane Stimmungslage (z.B. Nickname: Träne 95) finden lassen. Durch die Formulierung des Anliegens werden die eigenen Interessen und die Erwartungen an das Gegenüber konkreter. Eine weitere Möglichkeit, die im Rahmen der online-Beratung besteht, ist die Verwendung von Personenicons. Durch Blinken wird angezeigt, ob der Chatteilnehmende einen Text eintippt. Das Blinken ist vor allem dann wichtig, wenn der Text des anderen länger ist und eine Pause entsteht. Dann weiß die andere Person, dass sie noch in Kontakt stehen. Für den Aufbau einer warmen Atmosphäre bietet sich weiterhin an mit Konjunktiven zu arbeiten („Ich könnte mir vorstellen …“) und Ich-Botschaften sowie die direkte Anrede der betreffenden Person zu nutzen. Dagegen erscheinen Ironie, stark konfrontierende oder aufdeckende Interventionen als eher ungeeignet. In der digitalen Welt ist es vermutlich noch wichtiger „zwischen den Zeilen lesen, verstehen und antworten“ zu können als im direkten Face-to-Face-Kontakt. Hierdurch wird die Grundlage für eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung in der Onlineberatung gelegt. Neben der sachlichen Information enthält eine digitale Nachricht auch immer einen emotionalen Anteil. Dies wahrzunehmen erfordert eine kognitive und emotionale Empathie auf Seiten der professionell Helfenden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass um professionell Beziehungen aufbauen und gestalten zu können, ein Zusammenspiel von internen Faktoren (Identitätsarbeit und Rollenverständnis, Haltung, Vertrauen, Nähe-Distanz-Verhältnis, feinfühliges Handeln, Emotionsarbeit, Reflexion und Humor) sowie externen Einflüssen (institutionelle Rahmenbedingungen, Aufgabenfeld, Zielgruppe) grundlegend ist! Dabei ist unabhängig, ob das Arbeitsbündnis im „realen“ Leben oder in der virtuellen Welt stattfindet. Je nach Handlungsfeld und Zielgruppe wird sich die Gewichtung der einzelnen Faktoren am individuellen Fall orientieren! Dabei schließt das eine das andere nicht aus: Vielleicht ist das ein hybrider Weg die Zukunft?

Literatur

Ainsworth, M. D. S./Blehar, M. C./Waters, E./Wall, S. (1978): Patterns of attachment – A psychological study of the strange situation. Hillsdale.

Buschle, C./Meyer, N. (2020): Soziale Arbeit im Ausnahmezustand?! Professionstheoretische Forschungsnotizen zur Corona-Pandemie. Im Internet unter: Soziale Arbeit im Ausnahmezustand?! Professionstheoretische Forschungsnotizen zur Corona-PandemieSocialwork in a stateofemergency?! Research notes on the Corona pandemic in the perspective of profession theory (researchgate.net) (letzter Zugriff: 13.02.2021).

DVSG (2020): DVSG-Bundeskongress 2022. Im Internet unter: https://dvsg.org/dvsg-bundeskongress/ (letzter Zugriff: 13.02.2021).

Effinger, H. (2008): Die Wahrheit zum Lachen bringen. Humor als Medium in der Sozialen Arbeit. Weinheim/Mu?nchen.

Hancken, S. (2020): Beziehungsgestaltung in der Sozialen Arbeit. Göttingen.

Hintenberger, G. (2019): Prozessmodelle für die schriftbasierte Onlineberatung. Im Internet unter: Microsoft Word – hintenberger.docx (e-beratungsjournal.net) (letzter Zugriff: 14.02.2021).

Hochschild, A. (1990): Das gekaufte Herz – Zur Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt a.M.

Ley, T./Seelmeyer, U. (2018): Der Wert der Sozialen Arbeit in der digitalen Gesellschaft. Sozial Extra 42, S. 23–25.

Rogers, C. R. (1961/2004): Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. 15. Aufl. Stuttgart.

Steenkamp, D. (2020): „Hier drehen gerade alle etwas am Rad…“ – Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Soziale Arbeit aus Sicht dual Studierender an der Fakultät Sozialwesen der DHBW in Villingen-Schwenningen – einige Schlaglichter. Im Internet unter: https://www.socialnet.de/materialien/​29063.php (letzter Zugriff: 12.02.2021).

Thiersch, H./Grunwald, K./Köngeter, S. (2018): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. S. 175-196. Wiesbaden.

Verfasst von
Prof. Dr. Sabrina Hancken
Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (FH), M. A. Soziale Arbeit, Sozialtherapeutin
Professorin für Sozialarbeitswissenschaften an der Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Hancken, Sabrina, 2021. Nähe trotz Distanz – Gestaltung einer lebensweltorientierten digitalen Beziehungsgestaltung in Zeiten der Corona-Pandemie [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 24.06.2021 [Zugriff am: 09.12.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/29279.php

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