Embodiment in der Jugendhilfe – Förderung der Persönlichkeitsentwicklung über das Konzept des Kreativen Kämpfens©
Sven Weingarth
veröffentlicht am 04.01.2022
Das Kreative Kämpfen© ist ein kampfkunstorientiertes Bewegungskonzept zur emotionalen Selbstkontrolle und daraus folgend konstruktiver sowie emotional stabiler Persönlichkeitsentwicklung. Es stellt emotionale und kognitive Prozesse über Körperübungen spür- und greifbar dar, um anschließend über Bewegungsarbeit, mit nachfolgendem Transfer vom Körper zur Kognition, neue Handlungsstrategien zu entwickeln.
Inhalt
- 1 Konzept des Kreativen Kämpfens©
- 2 Beispielübung 1: Impulskontrolle
- 3 Beispielübung 2: Arbeit mit der Gewichtsweste
- 4 Fallbeispiel
- 5 Wirksamkeit des Konzepts
1 Konzept des Kreativen Kämpfens©
In seinem Ursprung wurde das Konzept für die Arbeit im gewaltpräventiven Bereich entworfen und hat sich im Laufe der, mittlerweile über 20 Jahre dauernden, Umsetzung in der Praxis zu einem Ansatz des Embodiment entwickelt, der sich aufgrund der umfassenden Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere der Stärkung des Selbstvertrauens und der Selbstwirksamkeitserfahrung, in verschiedenen Bereichen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe bewährt hat.
In der Philosophie des Kreativen Kämpfens© lassen sich zudem einige grundlegende traumapädagogische Haltungen erkennen, wie etwa der Fokus auf vorhandene Ressourcen und Resilienzen, eine verstehende, würdigende Haltung sowie die Wichtigkeit von erlebter Selbstwirksamkeit und Partizipation der Klientin oder des Klienten am Trainingsverlauf. Durch erlebte Kontrolle des Ablaufs der gemeinsamen Arbeit über ihr eigenes Wirken, können die Teilnehmenden Sicherheit spüren und aus diesem erlebten Gefühl heraus aktiv gestalten.
In seiner Wirkungs- und Vorgehensweise ist das Kreative Kämpfen© Ansätzen des Therapeutischen Boxens in einzelnen Punkten ähnlich, wodurch verschiedene Synergieeffekte entstehen können, wenn beide Methoden bekannt sind.
Die praktische Umsetzung beinhaltet Techniken, Übungen und Trainingsmaterialien aus verschiedenen Kampfkünsten sowie allgemeine Trainingsmethoden, welche durch Metaphern in konkreten Bezug zur Lebenswirklichkeit der Teilnehmenden gesetzt werden. Dabei entsteht die Möglichkeit, über die Weiterentwicklung der körperlichen Fertigkeiten auch neue Alltagsstrategien zu entwickeln bzw. vorhandene Strategien zu erweitern.
Der Fokus auf die Persönlichkeitsentwicklung und das pädagogische Operationalisieren der Kampfkunsttechniken (Körper-Kopf-Transfer) machen deutlich, dass das Kreative Kämpfen© kein Kampftraining ist, auch wenn es von Außen betrachtet den Anschein erwecken kann. Ziel des Konzepts ist die emotionale Stärkung und die Vermittlung einer grundlegend würdigenden Haltung, wie sie in der Philosophie der traditionellen asiatischen Kampfkünste zu finden ist. Die körperliche Wehrhaftigkeit wird, wenn überhaupt, lediglich beiläufig gefördert.
Die Intensität der Übungen richtet sich nach der individuellen Leistungsfähigkeit der Teilnehmenden, wobei positive Grenzerfahrungen bewusst herbeigeführt werden. Die jeweilige individuelle Selbsteinschätzung, bestehende Wertemuster und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten dienen als Basis zur ressourcenorientierten Arbeit mit den KlientInnen.
In diesem Sinne wird beispielsweise im gewaltpräventiven Bereich die offensive Haltung in Konflikt- und Stresssituationen (Kampf statt Flucht) als grundsätzliche Fähigkeit gedeutet, seinen Standpunkt zu behaupten und sich mit Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, auch wenn dies mit Risiken verbunden ist. Es werden weiterhin die Fähigkeiten benötigt, Verhalten eines Konfliktpartners einzuschätzen und Körpersprache zu deuten. Ziel ist nun, diese Fähigkeiten in eine gewaltfreie Form zu transferieren. Hierbei werden auch bestehende Werte und Einstellungen der KlientInnen aufgegriffen und die, individuell positiv bewerteten, Absichten des Verhaltens anerkannt, um darauf aufbauend weitere Wertemuster und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die Teilnehmenden werden unterstützt, in einem aktuellen Wertesystem bestehende Haltungen zu benennen und deren Auswirkung auf Handlungsmuster zu erkennen. Dies ist ein erster Schritt zur Verhaltensänderung.
In der Arbeit mit Teilnehmenden, welche ein eher unsicheres, passives Verhalten in herausfordernden Situationen zeigen, wird über die Körperarbeit ein Gefühl für die eigenen Ressourcen geschaffen. Dies geschieht im ersten Schritt über die Vermittlung einer stabilen und gleichzeitig flexiblen Körperhaltung (Sicherer Stand/​inneres ist gleich äußeres Gleichgewicht). Darauf aufbauend werden verschiedene Bewegungsabläufe, mit steigender Komplexität, erarbeitet. Die Teilnehmenden erfahren dabei, dass sich anhand einfacher Grundtechniken (vorhandener, individueller Ressourcen) vielfältige Handlungsstrategien ableiten lassen.
Eine Besonderheit des Kreativen Kämpfens© ist die Eigendynamik des Konzepts.
Durch das Training wird ein Prozess in Gang gesetzt, der bei den einzelnen Teilnehmenden in den Grundzügen ähnlich, in der Tiefenwirkung jedoch sehr individuell verläuft. Dadurch ist jedes Training „maßgeschneidert“. Die einzelnen Übungen lassen durch die zugrundeliegende Flexibilität in der Ausführung Raum, auf Reaktionen, Bedürfnisse und Wirkungen der Teilnehmenden situativ reagieren zu können.
Im Folgenden sollen durch zwei Praxisbeispiele die Philosophie und Wirkungsweise des Trainings dargestellt werden.
2 Beispielübung 1: Impulskontrolle
Zusammenfassung
Die Übung basiert in der Ausführung auf dem Schlagtraining in den klassischen Kampfkünsten bzw. dem Boxen. Hierbei wird auf zwei Handpratzen geschlagen.
Die Aufgabe besteht darin, Signale in einer Interaktion wahrzunehmen, diese Wahrnehmung in Bezug zu einem vorgegebenen Kontext zu analysieren und entsprechend angemessen zu reagieren.
Ziel ist, den Impuls zu reagieren bewusst zu erleben und in allen Körpersignalen nachzuspüren, um von der Affekthandlung zur kontrollierten Reaktion zu kommen. Über die Kontrolle der Körperreaktionen wird die emotionale Regulation gefördert.
In der Arbeit mit Familien kann die Übung auch eingesetzt werden, um Kommunikationsmuster innerhalb des Systems zu verdeutlichen.
Einordnung im Trainingsverlauf
Die Impulskontrolle wird genutzt, um zum Beginn des Trainingsprogramms das Grundprinzip „Wahrnehmen-Analysieren-angemessen Reagieren“ zu verdeutlichen
Im weiteren Trainingsverlauf eignet sich die Übung mit ihren verschiedenen Variationen als Standard zum Einstieg in die einzelnen Trainingseinheiten.
Material
- 2 Handpratzen
In der Regel werden für beide Hände identische Pratzen benutzt. Um die Unterscheidung der Signale zu erleichtern, ist es jedoch auch möglich, verschiedene Farben, Größen oder Formen für jede Hand zu nehmen. Dies kann beispielsweise in der Arbeit mit Kindern Anwendung finden.
Themenauswahl
- Affektregulation
- Reagieren auf Druck
- Kommunikationsmuster
- Wahrnehmungsfilter
Ablauf
Schritt 1 - Einführung
Die Teilnehmenden werden gebeten, auf die Aktionen (hochhalten der Hand) des Coaches zu reagieren, indem sie auf die Handpratzen schlagen. Zu Beginn darf auf jedes Signal reagiert werden, um ein Gefühl für den Abstand zu bekommen und die eigene Schlagkraft einzuschätzen.
Zudem kann hierbei gleichzeitig ein dynamische, kontrollierte Bewegung aus dem Sicheren Stand heraus, thematisiert werden.
Schritt 2 – Reaktionen variieren
Anschließend werden die Reaktionsmuster geändert. Je nach Seite und Handhaltung dürfen die Teilnehmenden reagieren oder ruhig bleiben.
Beispiel: Wird die Pratze der rechten Hand mit der Handfläche zum Teilnehmer gehalten, darf er reagieren (mit einem geraden Schlag), wird dieselbe Pratze mit der Kante zum Teilnehmer gehalten (Schlagposition für einen Haken), darf er ruhig stehen bleiben. Für die linke Hand gelten die Signale umgekehrt.
Wichtig ist, die Signale im Vorfeld mit den Teilnehmenden abzusprechen. Sie werden gebeten, auf Körperreaktionen zu achten und den Impuls zu reagieren kontrolliert ablaufen zu lassen. Besonders im Anfangsstadium der Übung wird bei dem Signal „Ruhe“ trotzdem eine Reaktion kommen bzw. mindestens ein Ansatz erkennbar sein (zucken, Hand heben, Vorwärtsbewegung). Diesen Moment, wenn der Impuls gerade noch unterdrückt werden kann, soll bewusst erlebt und beschrieben werden (wo wird Spannung im Körper gespürt, wie ist das Gefühl nach der Kontrolle, …).
Der Coach hat die Aufgabe, auf die verschiedenen Körperreaktionen zu achten.
In der Mehrzahl der Fälle lassen sich Bewegungsmuster erkennen, welche bei fortlaufendem Trainingsfortschritt, klarer erkennbar werden. Diese Muster können in der gemeinsamen Reflexion als Skills oder „Anker“ zur Emotionsregulation genutzt werden.
Reflexion
Frage:
- Beschreibe das Gefühl vor, während und nach dem „Unterdrücken“
Antworten aus der Praxis:
- Ich fühle mich unruhig/​ungeduldig.
- So ähnlich, wie in der Schule, wenn ich etwas sagen möchte und nicht drangenommen werde.
- So, wie wenn ich im Streit gerade noch eine böse Bemerkung zurückhalte.
Nach jedem Unterdrücken der Impulse, werden die Teilnehmenden eingeladen, die spürbaren Spannungen bewusst zu entspannen. Die körperliche Verortung der gespürten Spannung wird in der Reflexion aufgegriffen. Es wird besprochen, ob die beschriebenen Spannungsherde häufiger in Situationen auftreten, in denen die Möglichkeit einer geringen Impulskontrolle und Emotionsregulation besteht.
Es können dann in einem weiteren Schritt Signale benannt werden, die diesen Spannungszuständen vorausgehen, um anschließend Strategien zu entwickeln, frühzeitig entgegen zu steuern.
Die Reaktionsmuster können regelmäßig neu festgelegt werden, um auf diesem Weg dafür zu sensibilisieren, dass sich Handlungskontexte ändern und man jede Situation neu definiert.
Beispielmetaphern für den Körper-Kopf-Transfer
Körper | Kopf/Emotionen |
---|---|
Ständige Muskelanspannung, weil die Konzentration auf die Signale gelenkt wird, die eine Reaktion erfordern, statt auf diejenigen, bei denen Ruhe erlaubt ist. Es wird darauf „gelauert“ reagieren zu müssen. |
Dauerhafte Anspannung, weil die Konzentration auf „offensive Situationen“ gelenkt wird, in denen keine Entspannung möglich ist Ständiges Gefühl, „etwas tun zu müssen“ |
Ruhe in die Übung hineinbringen, indem der Fokus auf den Signalen liegt, die Ruhe erlauben. Die Reaktionen werden bewusster und weniger hektisch |
Die eigene Achtsamkeit auf entspannte Momente richten Gelassenheit entwickeln |
Signale genau wahrnehmen, um rechtzeitig und angemessen zu reagieren | Wahrnehmung und Achtsamkeit schulen Wahrnehmungsfilter erkennen |
3 Beispielübung 2: Arbeit mit der Gewichtsweste
Zusammenfassung
Schwerpunkt der Übung ist, mittels zusätzlicher Gewichte über die Körperarbeit emotional belastende Themen nachspüren zu können. Die einzelnen Teil-Gewichte symbolisieren jeweils ein Problem und da sie spürbar „am Körper hängen“, helfen sie den Teilnehmenden, Belastungen gezielt zu benennen, innerhalb des eigenen Körpers zu „verorten“ und Strategien zum konstruktiven Umgang zu entwickeln. Durch die Gelegenheit, Empfindungen wahrnehmen und versprachlichen/​verbildlichen zu können, ist ein wichtiger Schritt in Richtung konstruktiver Auseinandersetzung möglich.
Einordnung im Trainingsverlauf
Bei der Einführung der Gewichtsweste sind bereits erste Erfahrungen in der Bewegungsarbeit vorhanden. Die Metaphern zum Stabilen Stand sind bereits erarbeitet, da diese Übung eine Basis für die Arbeit mit zusätzlichem Gewicht bildet.
Material
- Trainingsweste mit Zusatzgewichten aus mehreren kleinen Sandsäcken. Ein maximales Gewicht von 10 kg ist ausreichend.
Diese Art der Trainingsweste ist denen mit Metallplatten oder ähnlichem vorzuziehen, da die Haptik der Sandsäcke in der metaphorischen Arbeit berücksichtigt wird. Die Möglichkeit, das Material in den Sandsäcken zu formen, aufzulockern oder zu verdichten unterstützt den Transfer, ein Thema nicht nur zu (be)greifen, sondern auch bewusst fühlen zu können. Weiterhin wird durch den Sand, als bewegliches Material die Dynamik des Themas spürbar. - Gegebenenfalls Handpratzen/​Schlagpolster für erweiterte Übungen
Themenauswahl
- Rolle des Coach
- Innere und äußere Haltung
- Benennen von Belastungen/​Blockaden
- Problemlösestrategien
- Reagieren auf Druck
Ablauf
Schritt 1 - Einführung
Im Rahmen eines Bewegungstrainings wird den Teilnehmenden zur Einleitung erläutert, welche Metapher die Gewichtsweste symbolisiert. Die einzelnen Teilgewichte stehen für die „Päckchen, die jeder von uns zu tragen hat“, also für Stressfaktoren, prägende Erlebnisse, Herausforderungen und sonstige Belastungen, welche unser Wirken beeinflussen.
Anschließend wird den Teilnehmenden die gefüllte Weste in die Hand gegeben, mit der Aufgabe, verschieden Bewegungsabläufe aus der Übungsreihe „Stabiler Stand“ zu absolvieren und/oder eine gewisse Strecke im Laufschritt zurückzulegen.
Reflexion 1
Frage:
- Wie beeinflusst das Zusatzgewicht die Aktivität?
Antworten aus der Praxis:
- Die Weste rutscht ständig weg und stört einen flüssigen Bewegungsablauf. Man kann sie nicht richtig greifen.
- Das Gewicht ist schwer zu handhaben, da man es vor sich her trägt.
- Zur besseren Handhabung beugt man sich nach hinten, um das Gewicht auszugleichen.
Transfer:
Die zusätzlichen Belastungen bringen ein Ungleichgewicht. Man muss sich verbiegen. Dadurch werden Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, man wird unflexibel.
Schritt 2 - Ordnen/​Benennen – Prioritätensetzung, gleichmäßige Verteilung der Last
Die Teilnehmenden legen die Weste mit Unterstützung des Coachs so an, dass die Gewichte gleichmäßig verteilt sind.
Bei Bedarf, wenn die Rolle des Coach noch nicht klar definiert ist, folgt hierbei bereits die nächste Reflexion.
Reflexion 2
Frage
- Was habe ich als Coach gerade getan?
Antworten aus der Praxis:
- Du hast mir geholfen, die Weste anzuziehen.
- Du hast mir gezeigt, wie ich mich mit dem Gewicht bewegen kann.
Transfer:
Die Rolle des Coaches ist, zunächst dabei zu unterstützen, die Last so zu ordnen, dass eine aufrechte, standfeste (Körper)haltung möglich ist und die Bewegungsabläufe trotz zusätzlicher Belastung flexibel und flüssig durchgeführt werden können.
Ziel ist nicht, Last von den Schultern zu nehmen, sondern zu zeigen, wie mit den eigenen Ressourcen ein Umgang mit der Belastung möglich ist.
Im Anschluss werden die Bewegungsabläufe aus Schritt 1 wiederholt.
Reflexion 3
Frage:
- Was ist anders?
Antworten aus der Praxis:
- Die Bewegungen sind langsamer.
- Man wird schneller müde.
- Man spürt die Muskeln intensiver bzw. Muskeln, die man vorher nicht so wahrgenommen hat.
- Man merkt eine deutliche Entlastung, wenn man den Körper gerade hält.
Transfer:
- Eine aufrechte Haltung mit Blick nach vorne erleichtert das Tragen der Last.
- Die Last lässt sich besser (er)tragen, weil das gesamte System, alle Ressourcen zusammenwirken.
- Benennen aller beteiligten Muskeln. Wo spüre ich neue Muskeln? Wie spüre ich diese?
Schritt 3 – Körper-Kopf-Transfer
Die Körpererfahrungen werden mit der kognitiven und emotionalen Ebene in Bezug gesetzt.
Ausgewählte Teilgewichte/Päckchen werden mit emotionalen Themen belegt und benannt.
Dabei wird analog zur Körperarbeit eine Analyse vorhandener Ressourcen durchgeführt. Jedem beteiligten Muskel, der für eine aufrechte Haltung mitverantwortlich ist, wird eine Fähigkeit zugeordnet, die es erleichtert, Lasten zu tragen. Muskeln, die die Teilnehmenden vorher bewusst noch gar nicht so intensiv wahrgenommen hatten, werden im Transfer genutzt, um nach bisher unbewussten Ressourcen zu suchen bzw. diese zu benennen.
Reflexion 4 – Krise als Chance
Frage:
- Warum benutzen Sportler die Gewichtsweste?
Antworten aus der Praxis:
- Um stärker zu werden.
- Um mehr Muskeln zu bekommen.
Transfer:
Die Mehrbelastung wird bewusst zur Stärkung von Bewegungsabläufen genutzt. Haltung, Flexibilität und Kraft werden gefördert.
Diese Effekte können auch bei unfreiwilligen Belastungen genutzt werden.
Hinweis zur Ressourcenorientierung: Man kann nicht mehr Muskeln bekommen. Die Anzahl der Muskeln ist von Geburt an festgelegt und kein Mensch hat mehr oder weniger Muskeln, als ein anderer.
Wir können unserer Muskeln lediglich durch Training leistungsfähiger machen, das Wachstum fördern und Bewegungsabläufe automatisieren.
Auf der emotionalen Ebene bedeutet dies, dass bereits alle Ressourcen zum Umgang mit Belastungen bereits angelegt sind. Mit gezieltem Training können diese daher auch bewusst gestärkt und automatisiert werden.
Schritt 4 – Unterscheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Belastungen
Freiwillig bedeutet hierbei, dass unabhängig vom Ursprung einer Last, die „getragen wird“, es jetzt in den eigenen Händen liegen kann, diese umzuverteilen oder abzulegen.
In Bezug auf die Benennung der einzelnen „Päckchen, die auf den Schultern lasten“ wird in dieser Phase definiert, welche davon selbstbestimmt verändert werden können.
Sind entsprechende Päckchen definiert, wird entschieden, ob die Last abgelegt, umverteilt oder unverändert akzeptiert werden soll.
Option 1: Ablegen
In der Körperarbeit werden die Teilnehmenden eingeladen, die benannte und lokalisierte Last aus der Weste zu nehmen. Die Beschaffenheit der Weste bedingt, dass dies jedoch mit etwas Mühe verbunden ist, da sich der Sand in den Päckchen absenkt und verdichtet. Es ist also notwendig, das Gewicht zunächst aufzulockern, sich also näher damit zu befassen, statt es einfach mit einer kurzen Bewegung zu entfernen.
Reflexion 5
Wie nehme ich die Last in die eigene Hand? Welche Strategien lockern feste/​festgefahrene Belastungen auf, um sie letztendlich von den Schultern nehmen zu können?
Wichtig: Der Coach lässt die Teilnehmenden das Gewicht selbst zur Seite legen, statt es ihnen „abzunehmen“.
Option 2: Umverteilen
Es wird thematisiert, wo das „Päckchen“ im Körper verortet ist. Liegt es schwer im Magen? Sitzt eine Belastung im Kreuz oder im Genick? Ist bei dem Gedanken daran ein Druck auf der Brust spürbar?
Reflexion 6
Bei welchen Aktivitäten blockiert mich das Gewicht?
Ist eine Umverteilung, also eine neue Gewichtung möglich und hat sie einen positiven Effekt auf das (innere) Gleichgewicht?
In der Bewegung wird gemeinsam erarbeitet, welche Abläufe von der aktuellen Verteilung der Teilgewichte in der Weste, beeinflusst werden sowie welche Muskelaktivierung und Körperhaltungen hier einen Ausgleich schaffen, um eine flexible Bewegungsroutine zu gewährleisten.
Option 3: Unverändert akzeptieren
Manche Belastungen können weder abgelegt, noch umverteilt werden.
In diesem Fall wird in der Form eine Stärkung der Persönlichkeit angestrebt, die es erlaubt bzw. nötig macht, mit diesen unveränderbaren Themen konstruktiv umzugehen, sie zu akzeptieren und Entwicklungschancen daraus zu entwickeln
Beispielmetaphern für den Körper-Kopf-Transfer
Körper | Kopf/Emotionen |
---|---|
Zusatzgewichte ziehen bei Bewegungen nach vorne oder hinten | Belastungen bringen aus dem Gleichgewicht Notwendigkeit, sich zu verbiegen |
Muskelschmerzen durch unausgeglichen Körperhaltung | Sich verbiegen, bedeutet auf Dauer einen ungesunden Zustand |
Gerader Oberkörper zur Kompensation des Zusatzgewichts | Aufrechte Haltung/​klare Einstellung erleichtert den Umgang mit Belastungen |
Muskelstärkung durch Bewegungsausführung mit Zusatzgewichten | Nutzen von Krisen als Chance zur Weiterentwicklung |
Die Arbeit mit der Gewichtsweste erstreckt sich in der Praxis über mehrere Trainingseinheiten. Hierbei kann das Tragen der Weste auch bei anderen Themen mitlaufen. Das heißt, der Umgang mit der Last, die Gewöhnung und Akzeptanz werden in andere Bewegungsübungen integriert.
4 Fallbeispiel
In der Zusammenarbeit mit einem jugendlichen Klienten stellte sich die Situation so dar, dass dieser sich in den stattfindenden gemeinsamen Terminen zwar auf alle Übungen engagiert einlassen konnte, aber Schwierigkeiten hatte, sich an ausgemachte Termine zu halten. Seinen Aussagen nach, wollte er einerseits Unterstützung annehmen, und fühlte sich nach den Übungseinheiten gut, andererseits blockierte ihn etwas, diese zuverlässig wahrzunehmen.
Es stellte sich in Folgegesprächen heraus, dass er in der Vergangenheit regelmäßig mit Forderungen aus seinem Umfeld konfrontiert wurde, „sich zu ändern“, ohne dass dabei seine persönlichen Bedürfnisse beachtet wurden. Bisherige pädagogische Maßnahmen hatten ihm das gleiche Gefühl vermittelt. Da auch unsere Zusammenarbeit ursprünglich nicht seine Entscheidung war, bewahrte er sich trotz der positiven Effekte der Trainingseinheiten, ein gewisses Maß an Zurückhaltung und Misstrauen, weil ihm meine Rolle innerhalb des Helfersystems nicht klar war.
Daher suchte ich zunächst nach einer Möglichkeit, ihm seine Möglichkeiten der Partizipation aufzuzeigen und seine erlebte Selbstwirksamkeit zu stärken.
In einem ersten Schritt thematisierten wir mittels der Gewichtsweste meine Rolle als Coach, wie in Reflexion 2 beschrieben. Am Ende dieser Trainingseinheit war ihm bewusst, dass zwar die Maßnahme an sich nicht seine eigene Entscheidung war, er es allerdings in der Hand hat, welche Ziele ich mit ihm, in seinem Auftrag, bearbeiten würde.
In der folgenden Trainingseinheit benannte er drei Themen, die ihn belasteten und verortete diese anhand der Gewichtsweste an seinem Körper. Zwei der „Päckchen“ saßen ihm im „Kreuz“ und hinderten ihn an einem Weiterkommen auf seinem Weg, da das Gewicht ihn „nach hinten zog“. Das dritte Thema „lag ihm im Magen“ und krümmte ihn, sodass er seinen Blick nicht gerade nach vorne richten konnte, also nicht sah, wo ihn sein Weg hinführt bzw. welches Ziel er ins Auge fassen soll.
Der nächste Schritt beinhaltete die Entscheidung, welches Päckchen zuerst intensiver in die Hand genommen werden muss, um ihn von der Last zu befreien. Dazu erarbeiteten wir zunächst, welche Körperhaltung es ihm erlaubte, diese Verteilung der Lasten auszugleichen, also, was an seiner (inneren) Haltung verändert werden kann, um sich im Gleichgewicht zu fühlen. Jede notwendige Bewegung und eingenommene Haltung ließ ich benennen und über den Körper-Kopf-Transfer die Möglichkeiten erarbeiten, innerhalb der belastenden Themen, „Bewegung“ hineinzubringen und eine neue, ausbalanciertere Haltung dazu zu entwickeln.
Da die Sandsäcke in der Gewichtsweste zum Entfernen aufgelockert werden müssen, weil sich der Sand bei den Bewegungen mit der Weste verdichtet, wurde diese Dynamik genutzt, um zu erörtern, wie „verdichtet“ die gespürten Belastungen sind und wie sie aufgelockert werden können. Mit diesem Vorgehen wurde der Jugendliche dazu gebracht, sich bewusst mit den Themen auseinanderzusetzen und seine individuellen Handlungsmöglichkeiten zu reflektieren.
Durch das „selbst in die Hand nehmen“ der Päckchen wurde ihm erst richtig bewusst, welche Möglichkeiten er selbst besaß, um seine Last zu erleichtern.
In den folgenden Trainingseinheiten wurden nach und nach selbstbestimmte Strategien erarbeitet, die benannten Belastungen abzulegen, beginnend mit dem Auflockern fester Strukturen, welche die Situation verdichteten.
5 Wirksamkeit des Konzepts
Die Wirksamkeit des Konzepts lässt sich aus den Erfahrungen und Rückmeldungen in der alltäglichen Praxis ableiten. Die praktische Umsetzung erfolgte bisher in vielfältiger Form, als zeitlich begrenztes Programm zur Aggressionskontrolle, als fortlaufendes Angebot zur Persönlichkeitsentwicklung im ambulanten, teilstationären und stationären Bereich der Jugendhilfe sowie als Angebot in der Erwachsenenbildung (z.B. Deeskalation für Rettungskräfte). Die Durchführung erfolgt sowohl im Gruppen-, als auch im Einzelsetting.
Verfasst von
Sven Weingarth
Diplom-Pädagoge
Regionalleitung für die Kinder-, Jugend- und Familienhilfe Meilenstein GbR
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Zitiervorschlag
Weingarth, Sven, 2022.
Embodiment in der Jugendhilfe – Förderung der Persönlichkeitsentwicklung über das Konzept des Kreativen Kämpfens© [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 04.01.2022 [Zugriff am: 04.10.2024].
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