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Emotionengeschichte und/oder Psychohistorie

Dr. phil. Ulrich Kießling

veröffentlicht am 08.06.2022

Psychoanalytische Reflexionen zu: Claudia Jarzebowski: „Kindheit und Emotion – Kinder und ihre Lebenswelten in der Europäischen frühen Neuzeit“. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2018, 343 Seiten, Preis € 89,95

Claudia Jarzebowski, seit 2021 Professorin für Emotionengeschichte an der Universität Bonn (Center for Dependency and Slavery Studies, BCDSS), früher Wissenschaftlerin am Exzellenzcluster „Language of Emotions“, hat mit ihrer aktuellen Monografie ein Gebiet betreten, das früher fest in psychoanalytischer Hand war, damals als „Psychohistorie“ definiert.

Die Annäherung von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse lässt sich seit längeren beobachten. Ein relativ früher Reader zu diesem Thema wird 1971 von Hans Ulrich Wehler herausgeben, der offenbar die Biografie für das passende Format „psychohistorischer“ Bemühungen hält. Im Übrigen sieht er die Gefahr eines methodischen Determinismus, die Parin (1975) aus psychoanalytischer Sicht einräumt. Gleichwohl zugesteht Wehler der Psychoanalyse, „selbst historische Wissenschaft in dem Sinn zu sein, daß sie aus der Lebensgeschichte der Individuen die Grundlagen ihrer Diagnose und Therapie gewinnt“ … – „Der Verstehensbegriff der Psychoanalyse ist mit dem auf Erfassung intentionalen Handelns gerichteten „Verstehen“ des Historismus aufs engste verwandt“ (Wehler 1971, S. 17). Lutz Niethammers Oral History (er war ursprünglich ein Schüler von Hans Mommsen) war vom Anspruch und Stil her kaum mehr zu unterscheiden von interpretativen Texten aus dem Feld der Kulturanalyse oder der qualitativen Sozialforschung. Je mehr die Geschichtswissenschaft nun ihren Anspruch auf die Darstellung historischer Gesamtepochen oder Persönlichkeiten aufgibt, um sich mit Selbstzeugnissen und anderen „qualitativen“ Quellen zu beschäftigen, umso mehr wird sie zur interpretativen Kulturwissenschaft, die nur Aussagen trifft, wo ihr signifikante Zeugnisse vorliegen. Fehlen diese, etwa weil nicht genügend Abstand vergangen ist und Archive noch nicht zugänglich sind, kann eine Geschichte der Gegenwart sich auf die Aussagen von Zeitzeugen stützen, aber auch z.B. auf private Korrespondenzen. Somit unterscheidet sich der zeitgenössische Umgang mit Quellen zwischen Geschichtswissenschaft, Ethnopsychoanalyse und Grounded Theory kaum noch.

Mit dem Problem nicht leicht zugänglicher Quellen ist auch die Autorin des vorliegenden Werks konfrontiert. In ihrem Anspruch, auf die emotionale Welt realer Kinder historisch-analytisch zuzugreifen, konnte sie ausschließlich Texte hinzuziehen, die kaum dem gängigen Aufbewahrungsinteresse historischer Archivare entsprechen. Sie bezieht sich auf Traktate über Fürstenerziehung, einem vor allem in der Renaissance üblichem literarischen Genre, auf das Tagebuch eines Landsknechts im 30-jährigen Krieg, auf Mecklenburgische Gerichtsakten (letztere dokumentieren einen „Zaubereiprozess“ im Jahr 1694 gegen einen Jungen, dem ein Teufelsbündnis zum Vorwurf gemacht wurde), schließlich auf gedruckte evangelische Sterbepredigten für verstorbene Kinder aus dem Gefolge der Reformation (1594–1740). Weiterhin werden herangezogen: gelehrte Weltgeschichten bzw. Geografien für Kinder (wiederum ein literarisches Genre des 18. Jahrhunderts) und im Anschluss daran einige private Texte, die ein Schlaglicht auf die Beziehung der Autoren und ihrer Kinder werfen (im speziellen Fall einer hochbegabten Tochter). Alle verwendeten Zeugnisse leuchten Felder aus, die dem Subjekt Gestaltungsräume der Beziehung eröffnen, welche nicht traditionell oder gar rituell ausgefüllt werden, sondern eben emotional.

Die Historikerin konstatiert in allen Fällen ein hohes Maß an Individualität und Bezogenheit von und zwischen Eltern, anderen Erwachsenen und Kindern; Lloyd de Mause’ „Hört ihr die Kinder weinen“ ist nicht der Tenor der Analysen – vielmehr zeigt J.: Selbst im schlimmsten aller denkbaren Fälle, nämlich in der Barbarei des Krieges oder im Hexereiprozess, konnten Erwachsene Kinder evtl. schützen, sie emotional adressieren und mentalisierend auf ihre Probleme eingehen. Besonders eindrucksvoll ersichtlich wird das in den Protokollen eines Zaubereiprozesses aus dem Jahr 1694: Ein fantasiebegabter Junge gab vor, über magische Fähigkeiten zu verfügen. Während ein Schulrektor durch suggestive Verhöre gewissermaßen bereits eine Vorverurteilung des Kindes erkennen ließ, handelte das Gericht besonnen: Die Richter erkannten, dass es sich um bloßes Renommieren eines nach Anerkennung (Wärme/Liebe?) strebenden, emotional vernachlässigten Jungen handelte und retteten ihn so vor dem Feuertod.

Keineswegs wird von J. behauptet, es wäre immer so ausgegangen, und auch der durchschnittliche repressive Umgang mit Kindern wird keineswegs geleugnet – aber es gab eben auch anderes: Sorge, Verständnis, Elternliebe und Förderung der geistigen Fähigkeiten.

Die umfassenden Analysen der Autorin kann ich nur andeuten. Mich bewegt an dieser Stelle auch weniger eine Rezension des Werks; vielmehr will ich zeigen, warum die analytisch orientierte Psychohistorie ihre ursprüngliche Faszination verloren hat und heute eher ein Schattendasein führt:

Sieht man auf psychoanalytische Texte, die weitestgehend dem Genre der Psychohistorie zugerechnet werden können, so fällt, genauso vereinfachend global beurteilt, genau das Fehlen dieser wohlwollend schützenden Haltung gegenüber Kindern auf. Im psychohistorischen Diskurs sind Kinder immer (nur) Gegenstand der Repression. Selbst Freuds Diktum „Kultur ist durch Triebverzicht erkauft“, findet eine weitgehend pessimistische Interpretation, denn der Verzicht auf Gewalt gegenüber Kindern ist ja zweifellos ein Sieg der Kultur über den Trieb, der freilich, wie wir wissen, nie endgültig sein kann. Diese verkürzende (weil ahistorische) Perspektive finden wir bis in die Auseinandersetzungen der Gegenwart. Die psychohistorische Perspektive wird da von einer Haltung der „Hypermoral“ abgelöst, die einen öffentlichen Diskurs führt, über jedwede Form von vermeintlicher Unterdrückung (dabei werden entsprechende Diskurse kampagnenförmig im digitalen Netz verbreitet).

In der Psychoanalyse ging es ursprünglich vor allem um eine Rekonstruktion der biographischen Vergangenheit, die Direktbeobachtung etwa durch teilnehmendes Beobachten außerhalb des analytischen Settings galt als unanalytisch. Durch freies Assoziieren sollte die durch Abwehrmechanismen unkenntlich gemachte – seinerzeitige erlebte Realität wieder ans Licht geholt werden. Auf das Subjekt bezogen entspricht das auch einem naiven Verständnis von Historiographie oder noch besser Archäologie. Heute wird eher die Entwicklung eines individuell sinnstiftenden Narrativs erhofft; die frühere Realität zu rekonstruieren, traut die Psychoanalyse sich nicht mehr zu; neuere Hirnforschung hat die Vorstellung demontiert, dass das Gedächtnis alles abbildgleich speichere, was eine Person erlebt. Vielmehr besteht heute eine konstruktivistische Auffassung über die Natur der Erinnerung. Gleichermaßen hat aber auch die Geschichtswissenschaft den Anspruch aufgegeben, die Vergangenheit rekonstruieren zu können: Mehr und mehr folgen Historiker:innen einem gegenwartsbezogenem Erkenntnisinteresse, das die Vergangenheit im Lichte heutigen Fragestellungen neu interpretiert, vielleicht könnte man sogar sagen konstruiert.

Zu den Erkenntnissen der Psychoanalyse gehört auch der Topos, dass kulturelle und gesellschaftliche Anpassung repressiv erzwungen werde (und auch erzwungen werden müsse). Freud war wohl eher kein Anhänger gelebter Freiheit, ihm ging es allein um die Freiheit des Geistes, in Maßen auch um die reformerische Überwindung schlimmster gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse.

Kultur (persönlich wie gesellschaftlich) ist nur um den Preis des Triebverzichts zu erreichen (Freud 1930). Gesellschaftsutopien und revolutionäre Ideen betrachtete Freud in der Regel skeptisch.

Soweit Psychoanalytiker ihre Wissenschaft auf die historische Vergangenheit bezogen, entstanden zahlreiche überwiegend biografische Studien, etwa über eine Kindheitserinnerung Leonardo da Vincis (Freud, 1910), über Moses (Freud, 1939), über den „Jungen Mann Martin Luther“ (Erikson, 1958) oder Goethe (Eissler, dt. 1983). Diese Texte zeigen, wie eine neurotische Versagung schöpferisch bewältigt werden kann. Es handelt sich nicht um eigentlich klinische Arbeiten – die Protagonisten waren den Autoren ja nicht einmal persönlich bekannt – sondern um psychohistorische Studien, die auf der Analyse von gedruckten Quellen basierten.

Neben diesen erschienen klinische (Einzelfall)-Studien über Patient:innen, wie z.B. Anna O. (Breuer, 1895); Dora (Freud, 1905); der Rattenmann (1909); der Wolfsmann (1918). In diesen Studien wird, mehr als es heute etwa aus Gründen der Wahrung der Anonymität zulässig wäre, nicht nur eine Art biografischer Abriss gezeigt, sondern gewissermaßen auch ein psychoanalytisches Verständnis der Erkrankung entfaltet. Diese Studien enthalten implizit den Kontext der (psycho-)kulturellen Atmosphäre, in der das Individuum lebt, und sind somit selbst zu psychohistorischen Quellentexten geworden.

Die in diesen Studien beschriebenen Krankheitsfälle verweisen in der Regel auf eine ödipale Genese der Erkrankung: Das „Miterleben“ des elterlichen Geschlechtsakts steht als Urszene im Zentrum des Prozesses. Es werden gewissermaßen Patienten-Idealtypen beschrieben und aufgezeigt, dass deren Symptome nicht nur verständlich, sondern auch veränderbar waren. Der Fall Schreber (Freud, 1911) nimmt dabei eine Art Mittelstellung ein; Freud behandelt ihn nicht, sondern stützt seine Analyse auf ein Buch, das Schreber selbst verfasst hat. Seine Familie konnte erreichen, dass drei Kapitel unveröffentlicht blieben; diese haben auch Freud nicht vorgelegen. Dennoch ist Freuds Analyse eine klinische Studie, die allen späteren Psychohistorischen Untersuchungen zugrunde liegt, die etwa die brutalen Erziehungsmethoden von Schrebers Vater zum Gegenstand haben (etwa Niederland 1978; Lothane 2004).

An dieser Literatur entzündet sich eine frühe Kontroverse zwischen empirischer Wissenschaft (Israels, 1989) und Psychohistorie. Israels wirf der Gegenseite vor, die historischen Tatsachen zu ignorieren, ja zu unterdrücken (sein Tenor, Schrebers Vater sei kein Tyrann gewesen, sondern ein fortschrittlicher Lebensreformer und in pädagogischen Fragen eher liberal, zeigt, wie sehr die „Historisierung“ von Befunden nötig ist, um zu angemessenen Interpretationen zu gelangen).

Zur Persönlichkeit Hitlers erschienen zahlreiche Studien psychoanalytischer Provenienz (Erikson 1969, Fromm 1973, Stierlin 1975, Alice Miller 1980, Paul Matussek et al 2000). Alle diese Arbeiten kamen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen, die wenig Übereinstimmung mit der (fach-)historischen Hitlerforschung aufweisen (vgl. auch Parin 1975).

Ähnlich kontrovers fallen die psychoanalytischen Befunde zum repressiven Potenzial unterschiedlicher sozialer Kulturen aus. Beispielhaft dafür steht etwa die Kontroverse zwischen Freud und Malinowski, ob der Ödipuskonflikt in allen Gesellschaften anzutreffen ist.

Die Kontroverse zwischen Erich Fromm und Herbert Marcuse zur Bedeutung der Triebunterdrückung für die Charakterbildung wird in den 50er Jahren, also im Amerika McCarthys ausgetragen. Beide Autoren aus dem Umfeld der kritischen Theorie sind bis heute für die analytische Sozialpsychologie bedeutungsvoll geblieben, wobei Marcuses Arbeit zur „repressiven Ent-Sublimierung“ (Das Veralten der Psychoanalyse, 1963) bis heute eher als relevant gilt als Fromms von der Aufgabe des Triebkonflikts geprägte Interpretation. An die Stelle der Triebunterdrückung tritt sozial vermittelte Repression. Marcuses Entsublimierung steht Fromms Marketingcharakter gegenüber (Sozialcharakter der sich im 20. Jhd. aus dem autoritär zwanghaftem Charakter gebildet habe): Bei Fromm meint repressiv die sozialpsychologisch vermittelte Unterdrückung emotionaler Wünsche mit dem Ziel, sich in einer Wettbewerbsgesellschaft besser positionieren, letztlich sich selbst Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Dieser Marketingcharakter trete in kapitalistischen Gesellschaften massenhaft auf. Mir scheint die Fragestellung heute überholt; triebpsychologische und sozialpsychologische (Bindung, Beziehung) Perspektiven ergänzen sich eher und sind gleichzeitig wirksam; mein Konzept der Repressionskultur steht in der Schuld beider Denker. Die wissenschaftliche Kontroverse der 50er Jahre kann heute als gelöst betrachtet werden: Konstruktivistische und zirkuläre Modelle erleichtern es, Phänomene multiperspektivisch zu betrachten. In der Betrachtung sozialer Phänomene in großen Gruppen lassen sich triebpsycholgische Befunde kaum begründen, gleichermaßen ist jedoch die Untersuchung Einzelner als Verkörperung typischer Mitglieder der Gruppe sinnvoll.

Mit Lloyd de Mause erreicht die psychoanalytischen Psychohistorie ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihr Ende. Sein Beitrag („Hört ihr die Kinder weinen“, 1977) wird breit rezipiert: Der Eröffnungssatz steht programmatisch für den umfangreichen Text: „Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte der Kindheit zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht werden“. Ob dieses Globalurteil in der Lage ist, irgendeine Realität abzudecken, muss dahingestellt bleiben; vielleicht sagt es mehr über den Verfasser aus als über des untersuchte Problem.

Allein Alice Miller hat zu Beginn der 80er Jahre in ihrer massenhaft verkauften (und vermutlich auch gelesenen) Trilogie „Das Drama des begabten Kindes“ (1979), „Am Anfang war Erziehung“ (1980), „Du sollst nicht merken“ (1981) nicht nur eine letzte von der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommene psychohistorische Studie veröffentlicht, sondern ein wirkmächtiges Paradigma der psychoanalytischen Sozialforschung bekräftigt, eine psychoanalytische Betrachtung des Lebens entspreche einer Betrachtung repressiver Umstände (vor allem Erziehungsverhältnisse), die die Entfaltung des Subjekts zeichneten. Warum das Ergebnis der Misshandlungen bei Paul Klee so anders ausfiel als bei Adolf Hitler, kann sie jedoch nicht überzeugend erklären. Auch die zeitgenössische Psychoanalyse schon folgt Miller nicht mehr; ihre Texte werden als esoterische Verwirrung verstanden (Psychoanalytisches Seminar Zürich 1981).

In einem posthumen Text (M. Miller 2013) beschreibt ihr Sohn, dass seine depressive Mutter außerstande war, ihm emotional gerecht zu werden: Ihre Bücher wären vielleicht Anspruch an sich selbst gewesen; dem sei sie aber in der Realität nie nahe gekommen. Es stellt sich die Frage, ob Alice Millers Texte nicht mehr darüber aussagen, wie sie sich ihre Kindheit gewünscht hätte, als dass man sie als historische Annäherung an reale Kindheiten verstehen kann.

Psychoanalytische Psychohistorie ist einerseits Allgemeingut geworden, andererseits droht sie zum Klischee zu erstarren. Die bloße Feststellung angeblich zunehmender Repression oder auch repressiver Entsublimierung (z.B. durch die Zugänglichkeit digitaler Medien) generiert keinen Zuwachs an Erkenntnis. Wie Martin Dornes in seinem Text von der Modernisierung der Seele aus dem Jahr 2012 zeigt, kann auch sehr bezweifelt werden, dass das Ausmaß der Repression gegen Kinder ständig zunimmt; vielmehr gibt es auch Befunde, die für eine zunehmende Sublimierung der Gewalt gegen Kinder sprechen. In diesem Zusammenhang wäre die Heimenquete zu nennen, oder auch die von der katholischen Bischofskonferenz angeregte Untersuchung über Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland, aber auch Beispiele faktischer Überwindung misshandlungs- und missbrauchsaffiner Strukturen, wie etwa die Schließung der Odenwaldschule oder der Haasenburg in Brandenburg. Auch die Kontroverse über den Film Elternschule, bei der anhaltender Protest empörter Eltern zu einer sehr heftigen Auseinandersetzung mit dem Verhaltenstherapeutischen Konzept der dargestellten Klinik führten, wäre hier zu erwähnen.

Die Skandalisierung der Strukturen struktureller Gewalt in Institutionen erfolgt allerdings häufig ahistorisch. Es wird so getan, als gelte Freuds „Unbehagen in der Kultur“ heute nicht mehr.

Der Grundgesetzartikel von der Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen gilt jedoch uneingeschränkt seit 1949, und damit ist die gewaltförmige Unterwerfung des Menschen zumindest in Deutschland illegal.

Um nicht immer wieder den gleichen Verirrungen aufzusitzen, bedarf es einer Besinnung auf einige längst verstandene Regeln:

Kulturerwerb, selbst in der Familie und erst recht in Institutionen, insbesondere in solchen, die als Sozialisationsinstanzen gesehen werden können (wie Kita, Schule, Heim etc.), ist immer notwendig und ohne Ausnahme repressiv, als Sonderfall aber auch repressiv entsublimiert.

In jeder Epoche, aber auch in jeder institutionellen Tradition, entstehen eigene repressive Kulturen, die mit ihren jeweiligen Ansprüchen z.B. einen enormen Leistungsdruck produzieren (z.B. Musikhochschulen), Einrichtungen nach dem Modell Priesterseminar, die Triebverzicht fordern, oder Einrichtungen nach dem Modell Gefängnis, die die Freiheit massiv beschränken. Je totalitärer der institutionelle Rahmen, desto lückenloser wird die jeweilige Repressionskultur durchgesetzt.

In hedonistischen Kulturen kann also auch ein Gebot: Amüsiert euch, oder konsumiert mit Spaß, zur repressiven Forderung werden, die z.B. Menschen mit depressiver Grundstruktur erkranken lässt.

Paul Parins (1975) kritische Einwendung: „Für den Historiker sollte es selbstverständlich sein, sein Studienobjekt als unbewusstes Werkzeug geschichtlich wirksamer Kräfte zu begreifen, eine Aufgabe, die sich umso dringlicher stellt, je mehr sich die historische Person in den Blickpunkt gerückt hat, je mehr es ihr gelungen ist, den Sinn des politischen Geschehens durch ihre eigene Deutung der Geschichte […] zu entstellen und ihm damit ihre persönliche Form und Gestalt zu geben. Ich fürchtete, der Psychoanalytiker habe kein Instrument zur Verfügung, eine dementsprechende Aufklärung zu leisten. Unweigerlich müsste das Ergebnis seiner Studien den Menschen [Adolf Hitler] als Werkzeug unbewusster Seelenkräfte darstellen“.

… und die politisch-ökonomische Dimension ausblenden, ist nicht leicht zu entkräften.

Die Beurteilung des repressiven Potenzials einer Kultur erfordert einerseits psychohistorische Kompetenzen und andererseits historische Einordnung, wie es das eingangs vorgestellte Buch von Claudia Jarzebowski beispielhaft leistet.

Quellenangaben

Brandenburgisches Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (Hg., 2013): Bericht und Empfehlungen der unabhängigen Kommission zur Untersuchung der Einrichtungen der Haasenburg GmbH. Autoren: Dr. Martin Hoffmann (Vorsitz), Prof.

Dr. Hubertus Adam, Hans Hansen, Monika Paulat, Inge Scharnweber, Prof. Dr. Karlheinz Thimm

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de Mause, L. (1977): „Hört ihr die Kinder weinen“. Frankfurt: Suhrkamp

Dietz, H. (2018): Geheilt oder nur gehorsam? Eine Petition fordert die Absetzung der Dokumentation „Elternschule“ über eine Kinderklinik. Unsere Kolumnistin teilt viele der Vorwürfe, hält den Film aber für wichtig. In Zeit-Online Zugriff am 19.03. 2019

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Freud, S. (1909): Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose in Studienausgabe Bd. 7

Freud, S. (1923, 3. verm. Aufl.): Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Leipzig/Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag

Freud, S. (1910): „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiografisch beschriebenen Fall von Paranoia in: Studienausgabe Bd. 7

Freud, S.: (1939): Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Studienausgabe Bd. 9

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Psychoanalytisches Seminar Zürich (1981): Die neuen Narzißmustheorien: Zurück ins Paradis? Frankfurt: EVA/Syndikat

Schreber, D. P. (1903): Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: ›Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?‹ Leipzig:Mutze

Stierlin, H. (1975): Adolf Hitler. Familienperspektiven. Frankfurt: Suhrkamp

Verfasst von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Kießling, Ulrich, 2022. Emotionengeschichte und/oder Psychohistorie [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 08.06.2022 [Zugriff am: 28.11.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/29489.php

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