Diskurse um den nicht-invasiven Pränataltest als Kassenleistung
Eine kritische Auseinandersetzung interdisziplinärer Perspektiven
Natalie Brosi
veröffentlicht am 15.08.2022
socialnet Materialien. Reihe 2: Akademische Abschlussarbeiten
Zusammenfassung
„Wer sagt, solche Tests darf es gar nicht geben, der versperrt den Zugang zu Wissen“ (aerzteblatt, 2019c), so Jens Spahn, der Bundesgesundheitsminister aus der CDU, zum nicht-invasiven Pränataltest (NIPT) als Kassenleistung. Am 19. September 2019 hat das oberste Entscheidungsgremium der gesetzlichen Krankenkassen, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), entschieden, dass der NIPT Kassenleistung wird. Bei diesem Test handelt es sich um einen Bluttest, der in der Schwangerenbetreuung bereits angewendet werden kann, aber zurzeit noch von der schwangeren Frau selbst bezahlt werden muss. [1] Mittels Blutabnahme [2] können durch den NIPT Wahrscheinlichkeiten angegeben werden, ob das noch ungeborene Kind eine Trisomie [3], wie beispielsweise das Down-Syndrom aufweist. Ab dem Jahr 2021 soll der Bluttest „[…] in den engen Grenzen einer Anwendung bei ‚Risikoschwangerschaften‘ [4]“ (G-BA, 2016) von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden. Welche Folgen dies für unterschiedliche Akteur*innen auf gesellschaftlicher sowie persönlicher Ebene mit sich ziehen könnte, bleibt ungewiss. Doch grundsätzlich kann festgehalten werden, dass sich Menschen mit Down-Syndrom durch die Einführung dieses Tests „[…] diskriminiert und in ihrer Existenzberechtigung in Frage gestellt“ (Graumann, 2014, S. 71) sehen. Denn dieser Test fahndet nach genetischen ‚Auffälligkeiten‘ wie dem Down-Syndrom. Es ist davon auszugehen, „[…] dass bis zu 90 % der mit Trisomie 21 diagnostizierten Kinder abgetrieben werden“ (BVNP & donum vitae, 2019; in Lebenshilfe, o.J.), so der Berufsverband niedergelassener Pränatalmediziner e.V. zum NIPT. Laut Wolfgang Lenhard [5] „ist bereits jetzt abzusehen, dass Menschen mit Down-Syndrom zunehmend aus unserer Gesellschaft schwinden werden“ (Lenhard, 2003, S. 13).
Ziel dieser Ausarbeitung ist es, Diskurse um den nicht-invasiven Pränataltest als Kassenleistung zu beleuchten. Auf die erste grundlegende Frage „Welche Wissensbestände müssen vorausgehen, um an der Debatte teilnehmen zu können?“ soll zu Beginn der Arbeit eingegangen werden. Darauf aufbauend werden im weiteren Verlauf Erläuterungen zur folgenden zweiten Frage „Welche Diskurse werden sichtbar und welche werden vernachlässigt?“ thematisiert.
Die zweiteilige Forschungsfrage führte zu einem zweigliedrigen Aufbau der Ausarbeitung, der dennoch in sich verwobene Strukturen aufweist. Unter der ersten Forschungsfrage sollen im zweiten Kapitel grundlegende Wissensbestände erläutert werden, um eine Teilnahme an der Debatte des NIPT zu ermöglichen. Daher erfolgt zuerst eine Erläuterung der rechtlichen und medizinischen Wissensbestände. Die geltende Rechtslage im Kontext der Schwangerenbetreuung und des Schwangerschaftsabbruchs werden erläutert. Daran anschließend wird eine vertiefende juristische Betrachtung bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs angeführt, da dieser eine zentrale Rolle um den NIPT einnimmt. Im Anschluss werden medizinische Wissensbestände und die Angebotsstruktur der Pränataldiagnostik näher betrachtet. Einleitend werden Krankheiten und Beeinträchtigungen erläutert, welche mittels Pränataldiagnostik (PND) bereits erkannt werden könnten. Daran anknüpfend werden die invasiven und nicht-invasiven Verfahren der PND dargestellt, um den NIPT in die Angebotsstruktur der Schwangerenbetreuung einordnen zu können. Ein weiteres Kapitel im ersten Teil der Ausarbeitung soll Aufschluss und eine grobe Orientierung über die mögliche Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche nach einem möglicherweise ‚auffälligen‘ Befund geben.
Die zweite Forschungsfrage wird für die weiteren Kapitel der Ausarbeitung maßgebend sein. Im dritten Kapitel der Ausarbeitung werden zuerst verschiedene Akteur*innen des Gesundheitswesens dargestellt. Zudem wird der Versuch unternommen, deren Vernetzung aufzuzeigen. Hierbei geht es um die Identifizierung unterschiedlicher Akteur*innen innerhalb des Bewertungsverfahrens um den NIPT. Zu Beginn werden daher die Hauptakteur*innen, der G-BA und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vorgestellt. Dies könnte auch zur ersten Forschungsfrage gezählt werden, da hier Funktionen und Aufbau des G-BA und des IQWiG vorgestellt werden, die grundlegend für die weitere Betrachtung sein werden. Dies veranschaulicht die Verwobenheit der Forschungsfragen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Methodenbewertung zum NIPT, die tragenden Gründe, die laut G-BA für die Einführung des Tests als Kassenleistung sprechen, sowie die erstellte Versicherteninformation zum NIPT erfolgt im anknüpfenden Unterkapitel. Die Stellungnahme der Herstellerfirma LifeCodexx und Diskurse, die sich innerhalb der Orientierungsdebatte im Deutschen Bundestag zur Einführung des Bluttests als Kassenleistung ausmachen lassen, werden in den darauffolgenden Unterkapiteln erläutert, um mögliche Antworten auf die zweite Forschungsfrage zu geben.
Im vierten Kapitel erfolgt eine ethische Betrachtung der PND. Einleitend wird die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zum NIPT aufgegriffen. Anschließend werden „unerwünschte Nebenfolgen“ (Dungs et al., 2009, S. 15), die sich auf der persönlichen Ebene des Individuums sowie auf gesellschaftlicher Ebene entwickeln könnten, betrachtet. Unter der Hinzuziehung der ethischen Perspektiven von Sigrid Graumann, Kirsten Achtelik sowie Giovanni Maio zur PND, werden diese Ebenen differenziert erläutert. Die interdisziplinären Perspektiven können als Erweiterung der bisherigen Diskursbetrachtung unter der zweiten Forschungsfrage dienen.
Das fünfte Kapitel „Leben und arbeiten mit dem Beschluss zum nicht-invasiven Pränataltest als Kassenleistung – Stimmen aus der Praxis“ beinhaltet Stellungnahmen weiterer Expert*innen, die in erster Linie von der Einführung des Bluttests betroffen sein werden. Expert*innen in eigener Sache [6], Menschen mit Down-Syndrom, Familien mit einem Kind mit Down-Syndrom, Fachärzt*innen in der Schwangerenbetreuung, Entbindungshelfer*innen, Sozialarbeiter*innen von Beratungsstellen sowie die gemeinsame Stellungnahme mehrerer Verbände werden innerhalb des letzten Kapitels zu Wort kommen. Dieses Kapitel soll weitere Diskurse beleuchten und mögliche Antworten auf die zweite Forschungsfrage liefern.
[1] Zurzeit ist ein NIPT laut Herstellerfirmen ab 130 € erhältlich. Je größer das Suchspektrum des Bluttests, desto teurer ist die Durchführung (LifeCodexx, 2019a).
[2] Folglich wird im weiteren Verlauf der Ausarbeitung unter anderem die Bezeichnung „Bluttest“ als Synonym für den NIPT verwendet.
[3] Die häufigste Form der Trisomie ist die Trisomie 21, auch bekannt unter der Bezeichnung „Down-Syndrom“ (Kolleck & Sauter, 2019, S. 64). Weitere Trisomien, die seltener auftreten, sind die Trisomien 13 und 18.
[4] Verschiedene Begriffsbezeichnungen, die meines Erachtens ein negatives Werteurteil über das Leben von Menschen mit einer Beeinträchtigung implizieren, kennzeichne ich mit einfachen Anführungszeichen.
[5] Lenhard ist ein Professor der Psychologie an der Universität in Würzburg (Universität Würzburg, 2020).
[6] Hierbei handelt es sich um ein indirektes Zitat aus einem Redebeitrag von Frau Heinkel, Leiterin einer Beratungsstelle für Pränataldiagnostik, der in der Pressemitteilung der Diakonie Württemberg vom 26. Mai 2020 erschienen ist (Heinkel; in Diakonie Württemberg, 2020). Siehe Kapitel 5.5 „Sozialarbeiter*innen in Beratungsstellen“, S. 72.
Verfasst von
Natalie Brosi
Sozialarbeiterin in der Eingliederungshilfe
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Zitiervorschlag
Brosi, Natalie, 2022.
Diskurse um den nicht-invasiven Pränataltest als Kassenleistung [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 15.08.2022 [Zugriff am: 04.10.2023].
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