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Wenn ein Spätzünder auf einen Seestern und ein Initiator auf ein Nesthäkchen trifft

Eine Untersuchung zur wechselseitigen Konstruktion von Paarsexualität in heterosexuellen Beziehungen

Daniel Ewert

veröffentlicht am 26.09.2022

socialnet Materialien. Reihe 2: Akademische Abschlussarbeiten

Masterarbeit zur Erlangung des Grades „Master of Arts“ (M.A.) im Studiengang Sozialwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Erstgutachterin: Prof. Dr. Heike Ohlbrecht
Zweitgutachter: Dr. Torsten Winkler
Sommersemester 2022
Note: 1,3

Zusammenfassung

Die qualitative Untersuchung fragt nach der wechselseitigen Konstruktion von Paarsexualität in heterosexuellen Beziehungen: Wie entsteht ein sexuelles Paar in einem heterosexuellen Kontext? Den theoretischen Hintergrund bildet die These Becks und Beck-Gernsheims (2005), dass sich in individualisierten Gesellschaften eine Loslösung des Menschen aus „traditionalen Vorgaben und Sicherheiten, aus fremden Kontrollen und überregionalen Sittengesetzen“ und auch eine Freisetzung verinnerlichter Geschlechterrollen vollziehen. In der Konsequenz müssen in Paarbeziehungen einzelne Akteur:innen die erforderlichen Konstruktionsleistungen selbst erbringen und eine sexuelle Paarordnung herstellen.

Bei der Erhebung und der Auswertung orientiert sich die Arbeit am verstehende Interview nach Jean-Claude Kaufmann (2015, 2. Auflage), da es sich besonders eignet, um sich einem privaten und potentiell schambehafteten Untersuchungsthema sowohl sensibel als auch fokussiert zu nähern. Das Sample stellt einen maximalen Kontrast im Sinne der Grounded Theory dar. Es wurde ein christlich-religiös orientiertes Paar sowie ein Paar in einer offenen Beziehung befragt. Die Reichweite und Validität der Studie ist im Rahmen einer studentischen Qualifikationsarbeit damit deutlich begrenzt. Es geht in erster Linie vor allem darum, Fallrekonstruktionen durchzuführen, in denen das Gesellschaftliche am Sexuellen im Allgemeinen und die sinnhafte Besetzung sexueller Praktiken im Besonderen exemplarisch aufgezeigt wird.

Unter Berücksichtigung dieser Limitationen lassen sich die Hauptergebnisse wie folgt zusammenfassen: Vorstellungen von Sexualität finden bei beiden Paaren in handlungsleitenden Idealen der Gleichberechtigung, Kommunikation und Individualität ihren Ausdruck. Sie stellen einen Sinnhorizont zur Verfügung und konstituieren eine narrative Paarsexualität.

Weiter konnte dargelegt werden, wie sexuelle Praktiken als Herstellungsleistungen den Stand der Sozialbeziehung anzeigen. So spielen erstens Pettingformen in der Anfangsphase zwischen Autonomiebewahrung und ersten Kollektivierungsprozessen eine entscheidende Rolle, während vaginaler Geschlechtsverkehr die Beziehung begründet. Zweitens konnte an den Beispielen der Enthaltsamkeit und der offenen Beziehung gezeigt werden, wie sich der Besitz und Einsatz von unterschiedlichen Arten „sexuellen Kapitals“ (Illouz & Kaplan 2021) bei beiden Frauen in einen Nachteil umschlagen kann, wodurch sich eine ungleichberechtigte Beziehungsordnung festigt. Da Machtkonstellationen im Bereich der Sexualität deutungsoffen sind und durch essenzialistische oder triebbasierte Legitimationstheorien gestützt werden, können drittens Geschlechterrollenkonflikte schließlich auch spielerisch ausgetragen und eine Sozialbeziehung reguliert werden. Auch wenn die praktische der narrativen Ebene zuwiderläuft, gelingt es beiden Paaren an ihren sowohl persönlichen als auch kollektiven Bilderbuchgeschichten festzuhalten. Differenzen und damit auch Geschlechterungerechtigkeiten entziehen sich entweder gänzlich dem Bewusstsein der Akteur:innen oder werden geschickt verschleiert. Die „Illusion der Gleichheit“ (Koppetsch & Burkhart 1999) zeigt sich nicht nur in Bezug auf den Haushalt, sondern lässt sich auch auf den Bereich der Paarsexualität übertragen.

Quellenangaben

Beck, Ulrich & Beck-Gernsheim, Elisabeth (2005): Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Illouz, Eva & Kaplan, Dana (2021): Was ist sexuelles Kapital? Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Kaufmann, Jean-Claude (2015): Das verstehende Interview. 2. Auflage. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz.

Koppetsch, Cornelia & Burkart, Günter (1999): Die Illusion der Emanzipation. Zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich. Konstanz: UVK.

Verfasst von
Daniel Ewert
Sozialwissenschaftler (M.A.); Redakteur bei socialnet für den Bereich Rezensionen Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg Forschungsschwerpunkte: Qualiative Sozialforschung, Gesundheitssoziologie, Einsamkeit, Geschlechter- und Sexualsoziologie
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Zitiervorschlag
Ewert, Daniel, 2022. Wenn ein Spätzünder auf einen Seestern und ein Initiator auf ein Nesthäkchen trifft [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 26.09.2022 [Zugriff am: 23.03.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/29554.php

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