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Prekarität als proletarische Wesensbestimmung

Grundlegende marxistische Anmerkungen zum Verhältnis von Lohnarbeit und Unsicherheit

Joshua Graf

veröffentlicht am 09.01.2023

Wie sind kontemporäre Prekaritätserscheinungen gesellschaftlich zu verorten und was bedeutet das für die Soziale Arbeit? Dieser Frage soll auf Basis einer marxistischen Kapitalismusanalyse nachgegangen werden, indem Unsicherheit als Wesensbestimmung proletarischer Existenz und Bedingung kapitalistischen Wirtschaftens analysiert wird.

Inhalt

  1. 1 Prekarisierung als neue Normalität?
  2. 2 Um was geht es im Kapitalismus?
  3. 3 Die ‚Ware Arbeitskraft‘ und ihr menschlicher Träger im Produktionsprozess
  4. 4 Das ‚nackte Leben‘ als Grundbestimmtheit proletarischer Existenz
  5. 5 Konkurrenz: Vertikale und horizontale Klassenverhältnisse
  6. 6 Warum wurde die Prekarität schlimmer?
  7. 7 Politische Implikationen der Prekarität
  8. 8 Auswirkungen für eine emanzipatorische Soziale Arbeit
  9. 9 Fazit
  10. 10 Literatur

Zusammenfassung

Debatten um Prekarität sind inzwischen in politischen und soziologischen Kreisen hoch im Kurs. Das suggeriert, es handle sich um ein neues Phänomen. Diese Perspektive wird dem Gegenstand jedoch nicht gerecht. Prekarität ist vielmehr als grundlegendes Charakteristikum proletarischer Existenz zu betrachten. Das Lohnarbeitsverhältnis ist strukturell von einer Unsicherheit begründet. Der Kapitalismus beruht auf einer besonderen Form ökonomischer Macht, die darin begründet liegt, dass er das Leben von den Mitteln seiner Erhaltung abspaltet und sich das Kapital somit als Vermittlungsinstanz einspeisen kann. Lohnarbeit, die als Einkommensquelle an die Bedingung der rentablen Profiterzielung für das Unternehmen geknüpft ist, ist ihrem Wesen nach unsicher. Das proletarische Leben ist geprägt von der täglichen Anforderung, die eigene Existenz gemessen an seiner kapitalistischen Verwertbarkeit zu legitimieren.

Gleichzeitig ist eine zunehmende Intensivierung der Unsicherheit im globalisierten Kapitalismus auszumachen. Damit einher gehen spezifische Veränderungsprozesse in der Klassenstruktur und den Lebensrealitäten der Arbeiter*innen. Davon ausgehend muss die Frage nach subjektivem Klassenempfinden in sich wandelnden Arbeitsbedingungen neu betrachtet werden. Dies soll im vorliegenden Beitrag insbesondere in Bezug auf die Auswirkungen für die Soziale Arbeit diskutiert werden.

1 Prekarisierung als neue Normalität?

In Debatten um den Wandel der Arbeitsgesellschaft finden vermehrt Ausführungen zur neuen Prekarität ihren Platz. Die „Erodierung des Normalarbeitsverhältnisses“ wird gleichermaßen diskutiert, wie sich Stimmen melden, die dem „Neoliberalismus“ samt seinen Begleiterscheinungen kritisch gegenüberstehen. Ausführungen zu „Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung“ werden als die soziale Frage des 21. Jahrhunderts diskutiert (Castel & Dörre, 2009) und Oliver Nachtwey leistet mit seiner Analyse der „Abstiegsgesellschaft“ (2016) einen wichtigen Beitrag zur kritischen Darstellung zunehmender Entsicherungs- und Abstiegstendenzen in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft.

Statistische Erhebungen zeigen die Relevanz von zeitlich befristeten Verträgen. Das Statistische Bundesamt vermeldet für das Jahr 2019, dass 7,4 % der Arbeitsverhältnisse befristet waren (DeStatis, 2022a, o.S.). Besonders hoch sind hierbei die Zahlen der bis zu 34-Jährigen, die zumeist erst relativ kurz im Berufsleben stehen. Von den 25- bis 34-Jährigen hatten 15,7 % der Befragten einen befristeten Vertrag (ebd.). Der bisherige Höhepunkt war 2011, als ganze 8,9 % der Befragten angaben, einen befristeten Vertrag zu haben. Ferner verfestigen sich finanziell prekäre Lebenslagen. Über ein Fünftel der Bevölkerung war 2021 laut Statistischem Bundesamt im Niedriglohnsektor beschäftigt (DeStatis, 2022b, o.S.). Der anhaltende Trend zur Prekarisierung zeichnet sich überdies durch die Einführung von Leiharbeit, die Ausweitung von Teilzeitstellen und die zunehmende Flexibilisierung aus (Stuth et al., 2018, S. 1). Werner Seppmann kam bereits 2011 zur Einschätzung, der Druck auf die Lebensverhältnisse habe einen permanenten Charakter angenommen (Seppmann, 2011, o.S.). Oliver Nachtwey führt aus:

„Prekarität, in der sozialen Moderne ein Randphänomen, hat sich in der Abstiegsgesellschaft ausgebreitet und ist nun als relevanter Teil des Arbeitsmarkts institutionalisiert“ (Nachtwey 2016, S. 13).

Das Phänomen der Prekarität und dessen sich ausbreitende politische Brisanz stehen also nicht zur Frage.

Zur Debatte steht allerdings, ob sich ein ausbildendes Prekariat als neue eigene Klasse begreifen lässt (Standing, 2015; kritisch dazu: Wright, 2016). Außer Frage steht, dass eine zunehmende Prekarisierung Einzug gehalten hat und dass sowohl diese auf ihre Ursachen hin untersucht als auch ihr politischer Einfluss diskutiert werden muss.

Der folgende Aufsatz möchte das Phänomen an der Wurzel packen. Es wird aufgezeigt, dass die Prekarität in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse zugenommen hat und dass daraus relevante Konsequenzen folgen, welche einer eigenen Würdigung und kritischen Berücksichtigung bedürfen, um daraus adäquate politische Strategien zu entwickeln. Dabei wird die These vertreten, dass Prekarität weder eine neue Erscheinung noch eine ausschließliche Wiedererscheinung eines vergessen geglaubten Manchester-Kapitalismus darstellt. Sie ist vielmehr eine grundlegende Eigenschaft des Lohnarbeitsverhältnisses sowie der kapitalistischen Konkurrenz. Die proletarische Existenz ist, wie zu sehen ist, ihrem Wesen nach von Unsicherheit bestimmt (Lütten 2022, S. 161). Nur wenn verstanden wird, dass Prekarität eine basale und notwendige Wesenheit des kapitalistischen Wirtschafts- und Herrschaftssystems darstellt, kann die zunehmende Unsicherheit im Lichte ihrer kapitalistischen Verwurzelung verortet werden. Ausgehend von dieser Einordnung lassen sich die politischen Implikationen der „ökonomischen Macht“ (Mau, 2021, S. 16) dann als eigenständige Säule der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Herrschaft ganzheitlich erfassen.

Daher beabsichtigt der Text zunächst eine kurze theoretische Einführung in kapitalistische Grundprinzipien und in die Rolle der Arbeiter*innen in diesen Verhältnissen. Ausgehend von diesen Grundbestimmungen soll die Verbindung von Lohnarbeit und notwendigen Unsicherheiten der Lebensführung expliziert werden. Anschließend sollen anhand der Positionierung von Proletarier*innen in Bezug auf die Produktionsmittel die Konsequenzen der Konkurrenz zwischen den Kapitalen auf der einen und den Arbeiter*innen auf der anderen Seite aufgezeigt werden. Die daraus abzuleitende elementare Unsicherheit proletarischer Existenz hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten sichtbar verschärft. Die dafür entscheidenden Ursachen sollen aufgezeigt und in die generelle kapitalistische Gesellschaftsformation eingebettet werden. Auf der Basis der Analyse kontemporärer (makro-)politischer Begebenheiten sollen abschließend sowohl politische Implikationen diskutiert als auch die potenzielle Ambiguität der Auswirkungen für eine emanzipatorische Praxis Sozialer Arbeit angerissen werden.

2 Um was geht es im Kapitalismus?

Die bürgerliche Gesellschaft „erscheint als eine ungeheure Warensammlung“ (MEW, Band 23, S. 49). Mit dieser Feststellung beginnt Karl Marx‘ erster Band des Kapitals. Bezeichnend an dieser Feststellung ist, dass es sich eben nicht einfach um Güter, sondern um „Waren“ handelt. Die Eigenheit der Ware besteht darin, dass das hergestellte Ding samt seines Gebrauchs von Seiten der „Charaktermaske“ (MEW, Band 23, S. 91) Kapital nur insofern von Interesse ist, als dass es der materielle Träger eines Tauschwerts ist. Der Zweck der Produktion ist dementsprechend der Tauschwert und nicht die Produktion von Gütern an sich (Heinrich, 2018, S. 14).

Der Zweck der von Unternehmen eingerichteten Produktion ist im Kapitalismus nicht die planmäßige Schaffung schöner oder notwendiger Güter und die ‚faire‘ Verteilung derselben. Der von den Kapitalist*innen verfolgte Zweck ist einzig und allein, aus ihrem vorgeschossenen Kapital mehr Geld zu machen. Kapitalist*innen schießen Geld mit dem Ziel vor, durch den Verkauf ‚ihrer‘ Waren am Ende des Prozesses mehr Geld zu haben. Bedingung hierfür ist nicht lediglich die Produktion der Waren, stattdessen verlangt die Realisierung des Tauschwertes den gelungenen Verkauf der Produkte. Bei bestehenden großen Kapitalwerten übersteigt der so erzielte Mehrwert den geringen Betrag, der vonseiten der Kapitalist*innen als Privatpersonen konsumiert wird, um dadurch die eigenen materiellen Bedürfnisse zu befriedigen. Der Großteil des erzielten Mehrwerts dient dazu, den eigenen Kapitalstamm zu vergrößern.

Michael Heinrich konkludiert treffend:

„Der Gewinn eines kapitalistischen Unternehmens dient nicht in erster Linie dazu, den Kapitalisten ein angenehmes Leben zu bereiten, der Gewinn soll viel mehr erneut investiert werden, damit in Zukunft noch mehr Gewinn gemacht wird. Nicht Bedarfsdeckung, sondern Kapitalverwertung ist der unmittelbare Zweck der Produktion“ (Heinrich 2018, S. 14).

Marx polemisierte im ersten Band des Kapitals: „Akkumuliert, akkumuliert, das ist Moses und die Propheten“ (MEW, Band 23, S. 621). Weiter schrieb er: „Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen, in dieser Formel sprach die klassische Ökonomie den historischen Beruf der Bourgeoisieperiode aus“ (ebd.). Festgehalten werden kann schließlich, dass sich der Kapitalismus mitsamt seinem notwendig expansiven Wesen nicht um die Herstellung nützlicher Güter als Selbstzweck kümmert. Die Herstellung jeglicher Gebrauchswerte ist nur notwendig und wird durch die jeweiligen Einzelkapitale allein aus dem Grund organisiert, um ihr eigenes Interesse, aus Geld mehr Geld zu machen, erfolgreich zu verfolgen. Diesem Eigenzweck sind alle Produktionsbedingungen im Kapitalismus in letzter Instanz notwendigerweise untergeordnet. Wie ist in diesem Verhältnis der*die Arbeiter*in zu verorten?

3 Die ‚Ware Arbeitskraft‘ und ihr menschlicher Träger im Produktionsprozess

Der Kapitalismus bildet ein Wirtschaftssystem, in dem sich die Subjekte aufeinander als Warenbesitzer*innen beziehen (MEW, 23, S. 99). Das an sich gesellschaftliche Verhältnis erscheint so vermittelt über die Waren. Da die Waren als Gebrauchswerte qualitativ unterschiedlich sind, können sich die Warenbesitzer*innen nur in Bezug auf den Tauschwert der Waren aufeinander beziehen. Die Substanz der „Werte bildet […] gleiche menschliche Arbeit, Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft“ (ebd., S. 53). Der (Tausch-)Wert wird bestimmt durch „das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchswerts gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ (ebd., S. 54). Hervorzuheben ist eben, dass es sich beim wertbildenden Maß um „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ (ebd., S. 53) handelt und nicht um die Frage, wer individuell wie lange für die Herstellung eines jeweiligen Guts benötigt.

Was ist also der Wert der Ware Arbeitskraft?

Marx führt im Kapital aus: „Der Wert der Ware Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel“ (ebd., S. 184). Klaus Müller identifiziert bei Marx drei Komponenten, welche die Wertgröße der Ware Arbeitskraft bedingen (2018, S. 30):

  1. Historisch-moralische Einflüsse: Diese Kontingenz verweist auf das „erreichte und erkämpfte Wohlstandsniveau eines Volkes, Gewohnheiten, Lebensansprüche“ (ebd.). Dabei hat sich der Wert eben jener Waren im Zuge fortschreitender Produktivsteigerung im Kapitalismus verringert. Andererseits sind die Reproduktionsanforderungen bspw. der Gesunderhaltung der Arbeiter*innen höher als noch zu Marx‘ Zeiten (ebd.).
  2. „Den zweiten Wertbestandteil der Arbeitskraft bildet der Wert der Existenzmittel, die zur ‚Verewigung‘ der Arbeitskraft erforderlich sind“ (ebd.). Da die Arbeiter*innenklasse sich nicht nur von heute auf morgen reproduzieren können muss, sondern da sie sich auch transgenerational reproduzieren können muss, müssen ebenfalls die Lebensmittel und weitere Güter für die Kinder als Wertbestandteil berücksichtigt werden (MEW, Band 23, S. 185).
  3. „Dritter Wertbestandteil ist der Wert der Existenzmittel, die für die Entwicklung der Arbeitskraft notwendig sind“ (Müller, 2018, S. 30). Die gesellschaftliche Aufgabe der Qualifizierung der zukünftigen Arbeiter*innen durch Schule und Ausbildung muss gewährleistet sein, um die erfolgreiche Einbindung in die kapitalistische Produktion auf dem jeweiligen historischen Niveau samt ihrer Anforderungen zu ermöglichen.

Der*die Kapitalist*in kauft die Ware Arbeitskraft also zu ihrem Wert. Die Ware Arbeitskraft beinhaltet dabei eine Besonderheit im Gegensatz zu anderen Waren. Die Ware Arbeitskraft ist die einzige Ware, die mehr Wert schaffen kann, als zu ihrer Reproduktion notwendig ist. Es ist diese Eigenheit der Ware Arbeitskraft, ihre Möglichkeit, „Mehrwert“ zu schaffen, welche die Bourgeoisie an ihr interessiert. Zudem ist der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft nicht vom Körper der Proletarier*innen abzulösen (Mau, 2021, S. 176).

Die Ware Arbeitskraft schafft mehr Wert, als zu ihrer Wiederherstellung nötig ist. Wie hoch dieser Mehrwert ausfällt, hängt vom Geschick des jeweiligen Unternehmens sowie von gesellschaftlichen Faktoren [1] ab. Der Arbeitstag unterteilt sich in die ‚notwendige Arbeitszeit‘, in der der*die Arbeiter*in den Wert seiner*ihrer Arbeitskraft reproduziert und einen Teil des Arbeitstags, während dem der Mehrwert für den*die Kapitalist*in geschaffen wird. Das Verhältnis ist dabei nicht festgeschrieben, sondern ein sich stets wandelnder Ausdruck des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Marx schrieb:

„Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar“ (MEW, Band 23, S. 249).

Aus diesem Grund liegt es im Interesse der Unternehmen, sowohl den absoluten Mehrwert als auch die relative Mehrwertrate weiter zu steigern und so einen möglichst langen Arbeitstag durchzusetzen. Der Versuch der absoluten Mehrwertsteigerung stößt jedoch an biologische Grenzen; zum einen, weil der Tag nur 24 Stunden hat, und zum anderen, weil die generelle Reproduktion der Ware Arbeitskraft durch eine zu vehemente, absolute Aneignung auf Dauer verunmöglicht werden würde. [2] Ferner zielt der Versuch der relativen Mehrwertsteigerung darauf, bei einem gleich lang bleibenden Arbeitstag die Arbeitszeit, welche der*die Proletarier*in für sich und die Reproduktion seiner Lebenshaltung arbeiten muss, zu verringern, um folglich die Surplus-Arbeit zu verlängern. Die Kapitalkalkulation, die Kosten für ihr Menschenmaterial pro Stück nach bestem Können zu reduzieren, bildet einen Kontrast zu der Tatsache, dass die Einverleibung von Mehrarbeit überhaupt die Art und Weise ist, wie die Unternehmen ihren Mehrwert produzieren und ihren Profit realisieren können. Das scheinbare Paradox lässt sich zusammenfassen: „Da kann es gar nicht genug Arbeit geben, weil die Arbeit die Unternehmen bereichert, und zugleich sorgen die Unternehmen dafür, dass immer weniger Arbeit dieser Anforderung genügt“ (Wirth & Möhl, 2014, S. 10).

Die Ware Arbeitskraft und ihre materiellen Träger, sprich die Lohnabhängigen, kommen in der kapitalistischen Berechnung als klein ‚v‘, als variables Kapital vor. Sie sind als Mittel zum Zweck einer Wirtschaftsweise verdammt, die einerseits aus ihren Profiterwägungen die Arbeitskraft pro Stück gegen null zu streben versucht, die andererseits aber überhaupt kein anderes Mittel zur Erreichung ihres hochheiligen Ziels kennt als die Aneignung von möglichst viel Surplus-Arbeit. Dementsprechend kann sich die benötigte Arbeitskraft auch erhöhen, selbst wenn die Arbeitszeit pro Stück kürzer wird. Die Voraussetzungen hierfür sind die erfolgreiche Expansion und die Erschließung neuer Märkte, um dort die Produkte abzusetzen.

Mit dieser Funktionsbestimmung geht ein unumstößlicher Widerspruch einher. Zum einen stellen die Arbeiter*innen für ‚ihr‘ Unternehmen als Einzelkapital eine unerlässliche Reichtumsquelle dar, die den Unternehmen aber notgedrungen dennoch als lästige Kosten erscheint. Aus diesem Grund sind Löhne möglichst knapp zu bemessen (Chibber, 2021, S. 11). Die Unternehmen versuchen, nicht mehr für ihr variables Kapital zu zahlen, als sie vonseiten der Konkurrenz oder staatlichen Verpflichtungen her müssen. Diese Stellung als zu vermeidende Kosten führt aufseiten der Arbeiter*innen dazu, dass diese mit ihrem knappen Gehalt haushalten müssen, um über die Runden zu kommen. Dass sie mit ihrem Lohn nicht automatisch ausreichend Mittel in der Hand haben, ihr Leben zu bestreiten, wird self-evident, wenn ein Arbeiter bspw. auf einmal Vater von Vierlingen wird, denn dann erhöht sich sein Lohn nicht in dem Maße, dass er zu Hause alle hungrigen Mäuler ausreichend zu stopfen vermag (Dillmann & Schiffer-Nasserie, 2018, S. 23). Der Lohn richtet sich danach, mit wie wenig Geld die Konzerne wegkommen, um möglichst ungehindert ihrem Ziel der Kapitalakkumulation nachkommen zu können. Ergo ist der Lohn kein Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts an sich, er ist aber durch die Arbeiter*innen als solches zu behandeln.

Auf der anderen Seite sind Arbeiter*innen im Kapitalismus zwar für ‚ihr‘ Unternehmen Kosten aus der Kategorie ‚v‘, zugleich sind sie mit ihrem Geldbeutel für andere Unternehmen potenzielle Kund*innen, die als zahlende Kundschaft die Realisierung des Wertes und damit den erfolgreichen Abschluss eines Produktionszyklus erst ermöglichen. Dieser grundlegende Widerspruch ist notwendig in den Charakter von Lohnarbeiter*in und Konsument*in in Personalunion eingeschrieben und nicht aufzulösen. Er verweist auf einen der grundlegenden, unumgehbaren Widersprüche im Kapitalismus.

4 Das ‚nackte Leben‘ als Grundbestimmtheit proletarischer Existenz

Die kapitalistische Klassenstruktur untergliedert sich grob in Proletariat und Bourgeoisie [3]. Diese Distinktion ist in Bezug auf ihre Stellung zum Eigentum der Produktionsmittel zu bestimmen. Kapital ist deshalb nicht einfach angehäuftes Geld, vielmehr stellt es ein „durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis“ (MEW, Band 23, S. 793) dar. Da die Produktionsmittel, rechtlich verbrieft, in den Händen der Bourgeoisie sind, ist der Großteil der Gesellschaft von den Mitteln zur Herstellung ihrer notwendigen Lebensmittel und anderer Konsumgüter strukturell getrennt. Da diese Menschen tatsächlich nichts besitzen als ihre eigene Arbeitskraft, sind sie gezwungen, ihre eigene Haut zu Markte zu tragen und sich als Lohnarbeiter*innen dem Kapital anzubieten. Marx fand hierfür die Bezeichnung des „stummen Zwangs“ (MEW, Band 23, S. 765) der Produktionsverhältnisse. Der*die Lohnarbeiter*in wird nicht von staatlicher Seite aus gezwungen zu arbeiten. Da er*sie aber qua staatlichem Gewaltmonopol abgeschnitten ist vom Zugang zu den Mitteln, derer er*sie für seine*ihre Subsistenzerhaltung bedarf, besteht ein ‚stummer Zwang‘, sich an eine*n Kapitalist*in zu verkaufen. Die feudalen Ketten wurden historisch mal langsamer, mal schneller gesprengt. Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Fronherr und Bauer bestehen nicht mehr. Formale rechtliche Freiheit und Gleichheit sind inzwischen durchgesetzt. Der*die Arbeiter*in ist nicht gezwungen, sich an diese*n oder jene*n Kapitalist*in zu verkaufen, um für diese*n zu arbeiten. Die Unterordnung erfolgt also nicht unter eine*n bestimmte*n Kapitalist*in an sich, wohl aber unter die generelle Kommandogewalt des Kapitals. Die proletarische Existenz ist definiert als eine Form der Verlassenheit (Mau, 2021, S. 154). Diese Verlassenheit ist im modernen bürgerlichen Staat nicht rechtlicher Art, sondern im materiellen Nichtverfügen der Arbeiter*innen über die Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts bezeichnet (ebd.).

Marx‘ Ausführungen über den „doppelten freien Lohnarbeiter“ und den „vogelfreien Proletarier“ verweisen darauf, was er als „absolute Armut“ (MEW, Band 23, S. 746) benennt. Das Proletariat ist strukturell getrennt von den Mitteln, welche es zu seiner eigenen Lebenserhaltung benötigen würde. Der Zugang zu diesen ist nur vermittelt über das Lohnarbeitsverhältnis möglich, wenn es Proletarier*innen gelingt, ihre Haut zu Markte zu tragen und eine*n Käufer*in für ihre Ware, namentlich ihre Arbeitskraft, zu finden. Wie wir gesehen haben, ist das nur möglich, wenn die Arbeiter*innen in der Kalkulation der Kapitalseite als adäquates Mittel zur Verfolgung des Zwecks der Profiterzielung betrachtet werden. Oder kurz ausgedrückt: Jobs gibt es im Kapitalismus nur, wenn diese sich für die Berechnungen der Unternehmen lohnen (sollen). Für die Arbeiter*innen bedeutet das, „entweder sie produzieren Profit oder gar nichts“ (Dillmann & Schiffer-Nasserie, 2018, S. 22). Das Lohnarbeitsverhältnis stellt also prinzipiell ein Abhängigkeitsverhältnis des*der Lohnarbeiter*in dar und impliziert, von der Kapitalseite ausgebeutet zu werden. Die Funktion von Arbeitsplätzen ist die möglichst weitreichende Abpressung von Mehrwert zur Profitsteigerung und nicht, was die Arbeitnehmer*innen sich davon erhoffen, nämlich damit über ein passendes Mittel zur Bestreitung eines auskömmlichen Lebens für sich und ihre Liebsten zu verfügen. Dementsprechend kennzeichnet das Lohnarbeitsverhältnis eine grundlegende Vulnerabilität. Die proletarische Existenz hat sich tagtäglich aufs Neue durch ihre gewinnbringende Funktion für ‚ihre*n‘ Kapitalist*in zu rechtfertigen. Hierzu bemerkt Marx in einer Fußnote des 23. Kapitel des ersten Kapitalbands scharfzüngig:

„Unter ‚Proletarier‘ ist ökonomisch nichts zu verstehen als der Lohnarbeiter, der ‚Kapital‘ produziert und verwertet und aufs Pflaster geworfen wird, sobald er für die Verwertungsbedürfnisse des ‚Monsieur Kapital‘, wie Pecqueur diese Person nennt, überflüssig ist“ (MEW, Band 23, S. 642).

Es ist die verankerte Trennung des Großteils der Gesellschaft von den Produktionsmitteln, welche das Kapital intermediär zwischen dem „nackten Leben“ (Mau, 2021, S. 136) und seinen Bedingungen installiert (ebd.).

So mag die Lohnarbeit für den*die einzelne*n Proletarier*in mit einigen Zumutungen einhergehen, sie ist aber dadurch, dass sie zumindest etwas Geld abwirft, die bessere Alternative dazu, gar nicht in Lohn und Brot zu stehen.

5 Konkurrenz: Vertikale und horizontale Klassenverhältnisse

Im Kapitalismus gibt es nicht lediglich ein Unternehmen, welches alle Arbeiter*innen anstellt, sondern es herrscht Konkurrenz auf verschiedenen strukturellen Ebenen. Wenngleich einige Sektoren eine ausgeprägte Tendenz zu Monopolen oder mindestens Oligopolen aufweisen, konkurrieren diverse Unternehmen miteinander. Damit sich der Profit realisieren lässt, müssen nicht nur Produkte hergestellt werden, sondern diese auch erfolgreich an eine zahlungsfähige Kundschaft verkauft werden. Was den Kapitalist*innen in der Konkurrenz mit anderen Unternehmen als vermeintlicher Zwang zu allerlei Maßnahmen begegnet, ist nichts als ihr ohnehin bestehendes Interesse an diesem Verhältnis, sprich ihr Interesse der möglichst erfolgreichen Kapitalakkumulation (Schadt, 2020, S. 115). Sören Mau erklärt:

„Was dem einzelnen Kapital begegnet, wenn es einem Konkurrenten gegenübersteht, ist nichts anderes als sein eigenes Wesen, verkleidet als ein anderes einzelnes Kapital“ (Mau, 2021, S. 217).

Es konkurrieren dementsprechend nicht nur Kapitalist*innen und Arbeiter*innen miteinander in Kämpfen um die Höhe des Lohns, die Länge des Arbeitstags und Ähnlichem. Neben diesen vertikalen Klassenverhältnissen sind auch die horizontalen Klassenverhältnisse zu betrachten (ebd., S. 187 ff.). Vertikale und horizontale Klassenverhältnisse sind, laut Sören Mau, „als zwei miteinander verbundene, aber unterschiedliche Quellen der Macht des Kapitals“ (ebd., S. 210) zu verstehen. Dieses Verhältnis und inwiefern dieses die Macht des Kapitals sowie die Ohnmacht und Prekarität der Arbeiter*innen fördert, ist nun zu untersuchen.

Es existieren im idealen Durchschnitt zwei Konkurrenzverhältnisse auf verschiedenen Ebenen. Diese Konkurrenzverhältnisse sind Beziehungen innerhalb ein und derselben Klasse. Sprich: Es handelt sich um die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Unternehmen sowie die Konkurrenz zwischen den Arbeiter*innen um die (besten) Jobs. Jede Ebene geht mit sich gegenseitig bedingenden Wechselwirkungen einher.

Das Verhältnis zwischen den Unternehmen ist über Marktbeziehungen organisiert. Mau führt aus:

„Der Markt ist eine emergente Eigenschaft. Obwohl er in letzter Instanz nichts anderes als die Totalität von Beziehungen zwischen Menschen ist, löst er sich dennoch bis zu einem gewissen Grad von diesen Menschen und stellt sich ihnen als fremde Macht gegenüber“ (ebd., S. 189).

Dass die Konkurrenz und ihre Zwecke ein von Menschen geschaffenes und nicht naturnotwendiges Verhältnis sind, bedeutet keineswegs, dass ihre schonungslosen Gesetze für die Menschen nicht sehr real sind, insoweit diese im Kapitalismus leben.

Unternehmen konkurrieren also gerade dadurch, dass sie ein gleiches Ziel verfolgen, miteinander (MEW, Band 4, S. 161). Den Unternehmer*innen erscheint dies als Zwang. Arbeitsverdichtung, Kostensenkung und dergleichen fungieren als Maßnahmen, um ihr Ziel erfolgreich in Abgrenzung zu ihresgleichen zu exekutieren. Für ‚ihre‘ Arbeiter*innen bedeuten solche Maßnahmen zumeist eine weitere Verschlechterung ihrer Lage sowie die Erhöhung der Ausbeutungsrate. Gleichwohl haben sie nichts anderes als ihren Lohn, den sie als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts behandeln könnten. Dieser wird ihnen von einem Unternehmen gezahlt, auf dessen Überleben sie folglich angewiesen sind, wenn sie die einzige Quelle ihrer Lebensmittel nicht verlieren wollen. Würde ‚ihr‘ Unternehmen bankrottgehen, so wären sie mit ihrer Anstellung zugleich ihren Lohn los und, zumindest bis sie einen neuen Job gefunden haben, bis auf ihnen möglicherweise zustehende Sozial(-versicherungs-)leistungen vom nötigen Geld abgeschnitten, um das sich bekanntlich in dieser Welt alles dreht.

Aus dieser Perspektive ist die Sorge der Arbeiter*innen um das Abschneiden ‚ihres‘ Konzerns in der Konkurrenz nachvollziehbar. Ihre „absolute Armut“ (MEW, Band 23, S. 746) drängt sie in eine Rolle der realen Abhängigkeit vom Überleben ‚ihres‘ Ausbeuters, für den sie gleichzeitig nichts als ein mit Kosten verbundenes Mittel zum Zwecke der Erreichung seines Ziels der Kapitalakkumulation sind. Damit einher geht der grundsätzliche Widerspruch, dass die eigene Quelle des Reichtums, der Lohn, gerade dem schadet, auf das man so unabdingbar angewiesen ist, nämlich dem marktwirtschaftlichen Erfolg des eigenen Konzerns, ohne den es ansonsten früher oder später keinen Lohn mehr gibt. Je mehr der*die einzelne Arbeiter*in für sein*ihr Tagwerk erhält, desto weniger kann das Unternehmen investieren, um andere Kapitale im globalen Konkurrenzkampf erfolgreich auszumerzen [4]. Die horizontale Konkurrenz zwischen den Kapitalen und vor allem den diversen nationalen Kapitalstandorten ist eine Form „ökonomischer Macht“ (Sören Mau, 2021, S. 16) des Kapitals und verschärft somit die grundlegende Unsicherheit des Lohnarbeitsverhältnisses.

Neben den Konkurrenzverhältnissen der Unternehmen verstärkt auch die Konkurrenz zwischen den Arbeiter*innen die Prekarität. Friedrich Engels schrieb bereits 1844 in seinem berühmten Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“:

„Diese Konkurrenz der Arbeiter gegeneinander ist aber die schlimmste Seite der jetzigen Verhältnisse für den Arbeiter, die schärfste Waffe gegen das Proletariat in den Händen der Bourgeoisie“ (MEW, Band 2, S. 306–307).

Indem die Arbeiter*innen um Arbeitsplätze konkurrieren, reduzieren sie den Wert der Ware Arbeitskraft. Weil Menschen bereit sein müssen, härter und für weniger Geld zu arbeiten, wenn sie jederzeit ersetzt werden können, ist die Bereithaltung einer „industriellen Reservearmee“ (MEW, Band 23, S. 502) eine wirksame Waffe in den Händen der Bourgeoisie. Konkurrenz zwischen den Arbeiter*innen und die ständige Möglichkeit des Zugriffs auf weiteres ‚Humankapital‘ ist also im objektiven materiellen Interesse der Bourgeoisie und eine Säule der Macht. Aber auch die Frage, wie viele Menschen gerade unter welchen Bedingungen abrufbar sind, entscheidet über den Grad der Unsicherheit.

6 Warum wurde die Prekarität schlimmer?

Wie aufgezeigt wurde, ist die Prekarität kein Phänomen der letzten Jahre oder Jahrzehnte, sondern unumgehbar eingeschrieben in die materielle Existenz einer Klasse, die nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft an Leute mit prinzipiell antagonistischen Interessen leben kann. Dennoch sind Ausführungen über sich deutlich verschärfende Unsicherheitsverhältnisse auch in den Ökonomien der globalen kapitalistischen Zentren zutreffend. Die Analyse ihrer sie bedingenden Faktoren ist politisch notwendig.

Wie gezeigt wurde, haben Kapitalist*innen ein Interesse daran, die Angreifbarkeit der Arbeiter*innen zu steigern (Wright, 2020, S. 89). Dadurch können sie das Lohnniveau drücken und höhere Profitraten erzielen. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten offenkundig intensiviert. Nicht nur wurde, insbesondere in Deutschland, ein manifester Niedriglohnsektor eingeführt, sondern auch die Zahl befristeter Verträge aller Couleur und Scheinselbstständigkeit prägen das Gesicht der neuen Arbeitswelt. Diesen Wandel in der Arbeitswelt nachzuvollziehen, kann immer nur unter Berücksichtigung der zuvor ausgeführten Grundprinzipien kapitalistischen Wirtschaftens und der immanenten Klassenantagonismen geschehen.

Mit dem Untergang des Realsozialismus entschwand auch die zuvor bestehende Systemkonkurrenz. Diese oktroyierte den westlichen kapitalistischen Staaten, vor allem Deutschland als Grenze zum Osten, eine gewisse soziale Ausgleichspolitik auf, sodass die Bürger*innen ihre Lage als besser gegenüber den realsozialistischen Staaten empfanden. Die Existenz einer Alternative sorgte für politischen Druck hin zu einem eher sozialdemokratisch gestimmten Klassenkompromiss (Kalmring, 2012, S. 200).

Es liegt im Interesse der Bourgeoisie, mithilfe einer jederzeit abrufbaren ‚industriellen Reservearmee‘ Druck auf die bestehende Belegschaft auszuüben. Dies gelingt nur, wenn keine (annähernde) Vollbeschäftigung gegeben ist. Je mehr Jobs es gibt, desto stärker ist die Verhandlungsposition der Arbeiter*innen. Wer sich ziemlich sicher sein kann, zur Not woanders gleich die nächste Anstellung zu finden, ist nachvollziehbarerweise weniger konfliktscheu. Das fordistische Akkumulationsregime (Aglietta, 2015) war geprägt von hohen Beschäftigungsraten. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren hohe Wachstumsraten dank des Wiederaufbaus möglich. Dieser bot die Möglichkeit, den neu geschaffenen Wohlstand tatsächlich zumindest teilweise an die, die ihn geschaffen haben, weiterzugeben.

Die gesellschaftlichen Bedingungen schienen eine Vereinbarkeit mit den Bedürfnissen des Wiederaufbaus und dem kapitalistischen Wachstumsimperativ zu ermöglichen. Hohe Wachstumsraten, weitgehende Beschäftigung sowie der stetige Druck, nicht den Glauben an die Überlegenheit des eigenen Systems in der Systemkonkurrenz gegen den Realsozialismus zu gefährden, stellten gute Verhandlungspositionen für Gewerkschaften dar und führten zu einer Art ‚Klassenkompromiss‘.

Dass jeder vermeintliche Kompromiss zwischen zwei aufeinander angewiesenen Partner*innen, die zugleich antagonistische Interessen verfolgen, notwendigerweise höchst labil ist, wurde in den letzten Jahrzehnten, spätestens nach der Agenda 2010, mehr als deutlich.

Dabei führen Schlagwörter wie ‚Globalisierung‘ und ‚Digitalisierung‘ dazu, die Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung zurückzuschrauben und den Zugriff des Kapitals auf ‚sein Menschenmaterial‘ flexibler und billiger zu ermöglichen. Mit dem Impetus einer Gesetzmäßigkeit wird die ‚Digitalisierung‘ oder die ‚Globalisierung‘ als Scheinsubjekt vorstellig gemacht, die ‚uns‘ vermeintlich zu allerlei Reformen zwänge (Schadt, 2020). Ideologisch ist diese Vorstellung darin, dass sie die Akteur*innen von Digitalisierung und Globalisierung sowie deren Klasseninteresse unterschlägt. Wenn Unternehmen mit neuer Technik nach kapitalistischen Zwecken effizienter produzieren und sich infolgedessen eines nun überflüssigen Teils des Personals entledigen, ist keineswegs die Maschine schuld. Sie ist Mittel zum Zweck und wird von ihrer Genese an konzipiert zum Zwecke der Arbeitsverdichtung, mithilfe derer das Kapital sein eigenes Interesse in der globalen Konkurrenz exekutiert. „Die Digitalisierung macht selber gar nichts“ (Schadt, 2022, S. 105). Sie ist eine Waffe in den Händen des Kapitals und wird von diesem sehr zweckmäßig eingesetzt. Die Digitalisierung geht also tatsächlich mit einer Schwächung der Position der Arbeiter*innen einher. Dass Arbeit verdichtet, Personal entlassen und Überwachung professionalisiert wird, liegt aber nicht an der Technik, sondern hat seine Ursache in den kapitalistischen Verhältnissen. Insofern ist es wichtig, die Digitalisierung zu betrachten, da sie mit erheblichen Veränderungen einhergeht. Dennoch darf sie nicht fetischisiert als Akteurin behandelt werden, sondern als effizientes Mittel zum Zweck real handelnder Subjekte, sprich der Kapitalist*innen, die diese nutzen.

Selbiges gilt für ‚die Globalisierung‘. Auch diese ist nicht zu leugnen und sie bleibt auch keineswegs folgenlos. Wenn die Möglichkeit besteht, weltweit schneller zu kommunizieren, Produktion zu verlagern und Ähnliches, dann ist damit noch nicht gesagt, dass dieses zu Arbeitslosigkeit oder zumindest dem stetigen Drang führen muss, immer prekärere Arbeiten anzunehmen, um sich noch irgendwie über Wasser zu halten. Dies lässt sich beispielhaft an der Rolle der kapitalistischen Logistik sehen. Sören Mau schreibt hierzu:

„Die Macht des Kapitals über die Arbeiter*innen wird durch die zunehmende Fähigkeit gestärkt, die Produktion zu verlagern oder die Zulieferer zu wechseln. Die Macht […] beruht […] auf der Fähigkeit, die fragile Verbindung zwischen dem proletarischen Leben und seinen Bedingungen durch Verlagerungen und Entlassungen zu unterbrechen. Der Kapitalismus beruht darauf, dass sich die Logik der Verwertung als Überbrückung der Kluft zwischen dem Leben und seinen Bedingungen etabliert“ (Mau 2021, S. 281).

Wenn es im Zuge der Globalisierung möglich wird, die Produktion zu verlagern oder zumindest damit zu drohen, um in Deutschland Niedriglohnsektoren aufzubauen, um ‚konkurrenzfähig‘ zu bleiben, dann sind solche betrieblichen oder politischen Maßnahmen keine Naturnotwendigkeit. Das bedeutet keineswegs, dass die Konkurrenz, die bekanntlich nicht schläft, folgenlos wäre. Die Konkurrenz zwingt das Kapital, sein ureigenes Interesse schonungsloser durchzusetzen und dabei auf einen möglichst flexiblen und günstigen Stamm an variablem Kapital zuzugreifen. Für die Menschen, die dieses variable Kapital darstellen, heißt das ganz real, dass ihre Abhängigkeit immer noch die vom Kapital und dem nationalen Standort ist. Das Kapital verfügt aber über ausgereiftere Mittel und ist gleichzeitig durch die Konkurrenz gezwungen, diese auch einzusetzen, um auf dem Markt bestehen zu können.

Diese Konkurrenz wird zudem intensiviert durch das Auftreten strukturell verankerter Krisen. Es gibt keine Krise des Kapitals, die nicht zugleich Krise der von ihm abhängig gemachten Menschen wäre (Freunde der klassenlosen Gesellschaft, 2019, S. 97–98). Durch die sich so verstärkende Vulnerabilität der Proletarier*innen, die jetzt um weniger und schlechtere Arbeitsplätze miteinander konkurrieren müssen, wird sogar noch die Krise zu einer Potenzierung der ökonomischen Macht des Kapitals (Mau, 2021, S. 312).

Die sich potenzierende Prekarität ist folglich nicht einfach die Folge eines ‚neoliberalen Diskurses‘, sondern besitzt ihre materielle Basis in der sich verschärfenden Konkurrenz zwischen den Kapitalen in einer globalisierten Welt. „Das Kapital ist immer auf der Flucht“ (ebd., S. 268), nicht nur vor zu hohen Kosten, sondern auch vor seiner eigenen immanenten Krisentendenz.

7 Politische Implikationen der Prekarität

Wenn es nicht nur darauf ankommt, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern (MEW, Band 3, S. 7), dann ist es unsere Pflicht, die ausgeführten Punkte auf ihre Auswirkungen für eine emanzipatorische Praxis zu untersuchen.

Erstens liefert die eingeführte betriebliche Hierarchisierung zwischen Stammbelegschaft und Leiharbeiter*innen liefert den Nährboden zur Verstärkung der Spaltung der Arbeiter*innenklasse. Die materielle Privilegierung gewisser Teile der Arbeiter*innenklasse bringt die begründete Gefahr mit sich, dass sich die unterschiedlich gestellten Gehaltsgruppen untereinander verwerfen, anstatt ihre Gemeinsamkeit als Lohnabhängige in den Vordergrund zu stellen. Die Privilegierten sehen in prekär Beschäftigten eine andauernde Gefährdung ihrer bisherigen Stellung. Andersherum können sich Neidgefühle gegenüber der ‚privilegierten‘ Stammbelegschaft entwickeln. Eine solche Verarbeitung der Situation erscheint dem Alltagsverstand (Gramsci, Gefängnishefte Band 6, Heft 10, § 48) am nächsten und daher am wahrscheinlichsten. Leiharbeiter*innen sind tatsächlich ein Mittel, um die Stammbelegschaft unter Druck zu setzen. Insofern ist eine solche Interpretation nicht abwegig. Der springende Punkt ist jedoch, zu verstehen, dass sie als Personen nicht die Ursache dafür sind. Vielmehr begegnet den Arbeiter*innen ihre eigene immanent prekäre Stellung als ‚nacktes Leben‘ im Antlitz der Anderen. Es bedarf wirksamer Strategien, um die real materiell verankerte Spaltung erfolgreich zu überwinden. Eine stetige Verdeutlichung und Betonung der Gemeinsamkeiten proletarischer Existenzen, über alle bestehenden und zu reflektierenden Unterschiede hinweg, erscheint hierfür unerlässlich.

Zweitens gehen Veränderungen im Akkumulationsregime mit einer zunehmenden Isolierung der Arbeiter*innen einher. Scheinselbstständige Lieferkurier*innen machen andere Erfahrungen, als es Arbeiter*innen in klassischen Fabriken tun. Materialistisch betrachtet müssen die damit einhergehenden Bewusstseinsformationen kritisch reflektiert werden. Akte von Solidarität dürften schwerer zu implementieren sein, wenn zwischenmenschliche Bindungen und gemeinsame alltägliche Lebensrealitäten mit anderen Arbeiter*innen nicht vorhanden sind.

Drittens muss die zunehmende Prekarität an sich mit ihren politischen Folgen behandelt werden. Fraglos geht diese mit einer objektiven Verschlechterung der Lebenssituation einher. Hierin liegt ein Widerstandspotenzial. Gleichwohl darf die grundlegende Abhängigkeit von der Lohnarbeit als einzige proletarische Einkommensquelle keineswegs unterschätzt werden. Wer verschärft Angst um seinen Job haben muss, wird wohl weniger aufbegehren, aus der Angst heraus, diesen auch noch zu verlieren.

Viertens impliziert eine marxistische Analyse eine grundlegende Revision des herrschenden Staatsverständnisses. Prekarität ist nichts, was der Staat durch ‚De-Regulierung‘ in die Welt gebracht hätte, sondern etwas, das dem Kapitalismus immanent ist. Durch den Schutz der kapitalistischen Eigentumsordnung und der Setzung von Menschen als freie und gleiche Subjekte unter Auslassung der realen materiellen Unterschiede, sprich der Klassendifferenzen, reproduziert der Staat die Klassenherrschaft und etabliert die proletarische Prekarität des Lohnarbeitsverhältnisses (Krölls, 2009, S. 25). Ferner ist damit eine Lesart zurückzuweisen, welche von einer ‚De-Regulierung‘ spricht und jene als schlechte Politik kritisiert. Verkannt wird hierbei, dass die breitere rechtliche Ermöglichung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen eben nicht das Gegenteil von Regulierung ist, sondern eben eine Regulierung anhand neuer Maßstäbe. Außerdem wäre zu fragen, inwieweit Niedriglohnsektoren und andere Reformen der neuen Arbeitswelt ‚schlechte Politik‘ darstellen. Viel eher sind sie Ausdruck einer geplanten und sachgerechten Verwaltung des Kapitalstandorts Deutschland samt dem selbsterklärten Anspruch, ‚Export-Weltmeister‘ zu sein. Niedriglohnsektoren und Aufweichungen von Arbeitnehmer*innenschutzrechten sind keine dilettantischen Verfehlungen oder schlechte Politik. Daher stellen sie auch keine Abweichung von den gepriesenen Idealen ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ dar, im Gegenteil sind sie die Konsequenz der realen Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit als Verfahrensform bürgerlicher Herrschaft (Dillmann & Schiffer-Nasserie, 2018, S. 31). Die Behandlung ökonomisch Ungleicher als formal frei und gleich ist gerade die Art, wie sich der bürgerliche Staat als Klassenstaat konstituiert und die Klassenherrschaft reproduziert. Die Sorge um Deutschland als Kapitalstandort, organisiert durch den Staat als „ideellen Gesamtkapitalist“ (MEW, Band 19, S. 222), und die Sorge um das Vorkommen der einzelnen Leute in diesen Verhältnissen sind analytisch zu trennen. Eine Betrachtung des prinzipiellen Klassencharakters des Staates muss dabei nicht zwangsläufig jegliche Reformmöglichkeit verwerfen. Der Staat ist als die „materielle Verdichtung eines Verhältnisses“ (Poulantzas, 2002 [1978], S. 176) zwischen den Klassen zu fassen und die eigenen politischen Ansätze sind daran auszurichten. Die Erklärung des Terrains, auf dem gekämpft wird, muss nicht zu einer Lethargie führen, sollte sehr wohl aber zu einer kritischen Beschäftigung mit Chancen und Begrenzungen führen.

8 Auswirkungen für eine emanzipatorische Soziale Arbeit

Fraglos geht die zunehmende Prekarisierung mit Konsequenzen für die Soziale Arbeit einher. Zum einen ist mit einer Zunahme der Zahl potenzieller Nutzer*innen Sozialer Arbeit zu rechnen. Nicht nur finanzielle Unsicherheiten, sondern auch Probleme bei der mentalen Verarbeitung der eigenen Position als Konkurrenzsubjekt in sich intensivierenden Leistungskämpfen können die Soziale Arbeit auf den Plan rufen. Zum anderen betreffen zunehmende Prekarität und Austerität die Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit.

Soziale Arbeit hat in kapitalistischen Gesellschaften eine Disziplinierungs- und Kontrollfunktion inne (Hollstein, 1973, S. 190). Formen hegemonialer Sozialarbeit, die gesellschaftlich bedingte Problemlagen primär durch personalisierende Unterstützungsangebote adressieren und auf eine Normierung delinquenter Subjekte zielen, lassen sich mit Karam Khella als „Sozialarbeit von oben“ (Khella, 1982, S. 11) benennen. Dem eine „Soziale Arbeit von unten“ (ebd.) entgegenzustellen, kann nur auf der Basis einer kritischen Bestandsaufnahme bestehender Spielräume erfolgen.

Radikale Soziale Arbeit kann sich nur als Arbeit innerhalb bestehender Widersprüche entwerfen. Zum einen sind auch kritisch ambitionierte Praktiker*innen aus ihrer Funktion heraus ein Teil staatlich organisierter Disziplinierungsinstitutionen. Zum anderen ermöglicht ein an Gramsci und Poulantzas anknüpfendes hegemonietheoretisches Staatsverständnis es, Brüche und Spaltungslinien im kapitalistischen Machtblock auszumachen und dadurch Handlungsspielräume zu erkennen sowie zu nutzen (Corrigan & Leonard, 1978, S. 94). Um diese Spielräume zu nutzen, sind ein politisches Einstehen gegen eine zunehmende Ökonomisierung und neoliberale ‚neue Steuerungsmodelle‘ der Sozialen Arbeit unerlässlich. Ausreichende finanzielle und insbesondere personelle Rahmenbedingungen sind eine zwar notwendige, aber keinesfalls allein hinreichende Bedingung für radikale und kritische Sozialarbeitspraxis. Spielräume in den sich zunehmend verschärfenden global-kapitalistischen Widersprüchen zu erkämpfen und zu bewahren, ist als Sisyphos-Aufgabe ermüdend und dennoch unerlässlich. Die vorher aufgezeigte Intensivierung des weltweiten Standortwettbewerbs der Nationen schwächt die Kampfposition von engagierten Sozialarbeiter*innen. Der Neoliberalismus ist somit nicht lediglich als diskursive Ideologie zu fassen, sondern auch als Reaktion auf real bestehende Überakkumulationskrisentendenzen zu charakterisieren (Smith, 2017, S. 231). Überdies kann die zunehmende Finanzialisierung sozialer Dienstleistungen als Form innerer kapitalistischer Landnahme (Dörre, 2021, S. 52) bezeichnet werden. Die immer weiter getriebene Kommodifizierung, also die Unterwerfung von Gütern oder Dienstleistungen unter die Warenform, macht auch vor dem sozialen Bereich nicht Halt. Durch die Privatisierung sozialer Dienstleistungen wird auch versucht, der dem Kapitalismus immanenten Krisentendenz entgegenzuwirken (Singh & Cowden, 2015, S. 376). Der in der Warenform angelegte Expansionsdrang und der Zwang zur immer weiter ausufernden Verwertung des ‚Produkts‘ sind systemimmanent. Daraus folgt eine schwache Verhandlungsposition. Einher geht dies mit der Gefahr der zunehmenden Prekarisierung für die Fachkräfte. Diese besteht durch gekürzte Mittel und befristete Projekte, die sich anhand vermeintlich objektiv nachweisbarer ‚Erfolge‘ messen lassen müssen.

Dies darf jedoch nicht zur Resignation angesichts übermächtiger Strukturen führen. Sozialarbeiter*innen sind in Zeiten sich verschärfender Prekarität oft mit weniger Mitteln aufgefordert, sich vertiefender sozialer Krisen anzunehmen. Entgegen individualisierenden Tendenzen, die eine Professionalisierung unter sich weiter erschwerenden Umständen von einzelnen Fachkräften verlangen, kann dies nur durch eine Kollektivierung von Sozialarbeiter*innen zur gemeinsamen Interessensartikulation gelingen. Notwendig sind eine Verankerung im Stadtteil und Zusammenschlüsse mit anderen sozialen Bewegungen und Akteur*innen, um die Existenz radikaler Praxis gegen individualisierende Ansätze zu verteidigen (Ferguson, 2009, S. 96).

Der Ausgangspunkt radikaler Sozialer Arbeit ist dabei kein idealistischer moralischer Standpunkt. In der Reflexion der eigenen Klassenposition als Lohnarbeiter*innen können Sozialarbeiter*innen gemeinsame objektive Interessen mit ihren Klient*innen erkennen. Insbesondere unter dem Vorzeichen einer intensivierten Prekarität und eigener befristeter Verträge wird deutlich, dass die eigene Lebensführung unter kapitalistischen Verhältnissen auch für Sozialarbeiter*innen unsicher ist. Die Basis radikalen Handelns ist folglich keine Einsicht in höhere moralische Werte, sondern das Erkennen kollektiver materieller Interessen zwischen sozialarbeiterischem*r Lohnarbeiter*in und Klient*in. Sowohl Sozialarbeiter*innen als auch ihre Klient*innen sind mit Strukturen konfrontiert, die ihnen reale Gestaltungsmöglichkeiten wesentlicher Teile ihres Lebens verunmöglichen (Ferguson & Lavalette, 2004, S. 304). Das bedeutet keineswegs, bestehende Machtasymmetrien zwischen Sozialarbeiter*innen und Klient*innen zu leugnen. Diese sind zwangsweise kritisch zu reflektieren und die ungleiche Verfügungsgewalt über Ressourcen ist stets zu berücksichtigen. Das Wissen um eine ungleiche Verteilung von Macht in der Arbeit mit Klient*innen sollte aber nicht so weit gehen, die gemeinsamen Interessen zu negieren. Eine solche Perspektive lehnt sich strikt gegen paternalistische, ‚gönnerhafte‘ Ansätze auf und formuliert einen Anspruch solidarischen Handelns. Zunehmende Prekarität im neoliberalen, aktivierenden Sozialstaat hat folglich auch Auswirkungen auf die Arbeits- und damit auch die Lebensbedingungen von Sozialarbeiter*innen. Dadurch könnten einerseits gemeinsame Interessen mit Klient*innen Sozialer Arbeit kollektiv erkannt und artikuliert werden, andererseits muss hier aber auch der ‚stumme Zwang‘ reflektiert werden. Sozialarbeiter*innen sind als Lohnarbeiter*innen, genauso wie alle Arbeiter*innen, davon abhängig gemacht worden, ihren Arbeitsplatz zu behalten. Mit verstärkter Unsicherheit durch befristete Projekte schrumpft potenziell der Handlungsspielraum widerständiger Praxis durch die nachvollziehbare Angst, keine Folgefinanzierung zu erhalten. Der Umgang von Sozialarbeiter*innen mit der zunehmenden Prekarisierung ist demnach nicht vorentschieden, sondern als politisches Kampffeld zu verstehen. Emanzipatorische Praxis muss kollektiv gegen Austeritätspolitik verteidigt werden.

9 Fazit

Die Prekarität ist eine der proletarischen Existenz innewohnende Wesenheit. Sie ist begründet in der grundlegenden Trennung des Lebens von seinen Bedingungen, wie sie die proletarische Existenz kennzeichnet (Mau, 2021, S. 136). Darin liegt die grundlegende Abhängigkeit vom Kapital, das sich als Vermittler zwischen dem Leben und seinen Bedingungen implementiert (ebd.). Es ist diese Grundlage, aus der sich eine Verschärfung der schon angelegten Unsicherheit des ‚nackten Lebens‘ ergibt. In Anlehnung an Horkheimers berühmtes Zitat „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (Horkheimer, 1939, S. 115) wäre zu konstatieren, dass man ebenso wenig von der Prekarität reden kann, falls man vom Kapitalismus schweigen möchte.

Die Verschärfung der Unsicherheit durch die Implementierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und eines manifesten Niedriglohnsektors ist im erklärten Interesse der Kapital-Seite, um möglichst flexibel auf möglichst günstige Arbeitskraft zugreifen zu können (Chibber, 2021, S. 32). Die Digitalisierung und Globalisierung sind „Scheinsubjekte“ (Schadt, 2020). Sie werden von Akteur*innen der Kapital-Seite zur Durchsetzung ihrer Interessen eingesetzt. Folglich verschärfen sie die basale Unsicherheit der Lohnabhängigen. Weil das Proletariat qua der staatlich durchgesetzten Eigentumsordnung davon abhängig ist, dass der Kapitalstandort sich im globalen Konkurrenzkampf durchsetzt, sind Reformvorhaben nur im kleinen Rahmen der Vereinbarkeit mit der erfolgreichen Kapitalakkumulation durchführbar. Begrenzte Kämpfe um die Kräfteverhältnisse im kapitalistischen Staat sind wichtig, doch sind sie auch eine „Sisyphusarbeit“ (Nuss, 2019, S. 77).

Die materielle Struktur der kapitalistischen Abhängigkeit erklärt, weshalb eine Gespaltenheit der Normalzustand der Arbeiter*innenklasse ist (Deppe, 2021 [1981], S. 149 ff.). Die Isoliertheit des*der einzelne*n Arbeiter*in und seine*ihre Gezwungenheit, sich dem Kapital unterzuordnen und zu dessen Akkumulation beizutragen, machen die Abwesenheit großer kollektiver Protestbewegungen verständlich. Die Konkurrenz macht sich als reale Macht geltend, die es kurzfristig attraktiv erscheinen lässt, den eigenen Arbeitsplatz nicht zu gefährden, sondern höchstens subtile individualisierte Widerstandspraxen zu wählen (Chibber, 2022). Die grundlegende Unsicherheit der proletarischen Existenz potenziert sich durch technologische Innovationen des Kapitals und macht Formen des Widerstands zunehmend schwieriger. Wer jederzeit Angst um seinen*ihren Job und damit um seine*ihre Existenz hat, wird sich wohl kaum dazu überreden lassen, gegen die Bedingungen aufzubegehren und damit die eigene Revenue-Quelle zu gefährden (ebd.).

Abschließend ist Erik Olin Wright beizupflichten, dass es sich beim Prekariat um keine eigene Klasse handelt. Besonders prekäre als auch vermeintlich gesichertere Arbeiter*innen sind dem Proletariat hinzuzurechnen. Ihre Lebensbedingungen weisen elementare Überschneidungen auf. Die Gemeinsamkeiten aller Lohnabhängigen in der dargelegten prinzipiellen Unsicherheit und die gemeinsamen Erfahrungen der Unterordnung unter die Kommandogewalt des Kapitals rechtfertigen es, über alle bestehenden graduellen Unterschiede hinweg von einer gemeinsamen Klasse zu sprechen. Gleichwohl erscheint es als notwendig, die konkreten Bedingungen kritisch zu untersuchen und Spaltungspotenziale sowie Ungleichzeitigkeiten auszumachen. Der berühmte Übergang von einer Klasse „an sich“ zur „Klasse für sich“ (MEW, Band 4, S. 181) erfordert eine ausführliche Beschäftigung mit den unterschiedlichen konkreten Lebensrealitäten der zu mobilisierenden Lohnabhängigen. Aus diesem Grund scheint es mir zielführend, von ‚Klassenfraktionen‘ zu sprechen.

Anschließend an diese Idee sollten sich auch Sozialarbeiter*innen ihrer grundlegend prekären Lage gewahr werden und, trotz aller graduellen Differenzen, eine solidarische Praxis auf Basis gemeinsamer Klasseninteressen verfolgen.

Die Betrachtung legt nahe, dass ein Kapitalismus ohne Angst um die grundlegenden Bedingungen zur Lebensbestreitung nicht möglich ist und sich diese Unsicherheit in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach weiter verschärfen wird. Der Kapitalismus muss seiner Funktionslogik nach immer wieder die grundlegenden Bedürfnisse der Arbeiter*innen verletzen (Heinrich, 2018, S. 33). Um „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW, Band 1, S. 385), wird man die Sache an der Wurzel packen (ebd.) und mit kapitalistischen Lohnarbeits- und Eigentumsverhältnissen Schluss machen müssen. Soziale Arbeit sollte sich dieses Fernziels gewahr sein und dennoch wirksame politische Reformmaßnahmen erstreiten. Diese Dialektik muss getreu Rosa Luxemburgs Credo einer revolutionären Realpolitik stets kritisch reflektiert und gegebenenfalls neu ausjustiert werden.

10 Literatur

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[1] Zur genaueren Bestimmung jener ‚gesellschaftlichen Faktoren‘ siehe Abschnitt 6.

[2] Dies bedeutet keineswegs, dass die einzelnen Kapitale in ihrem „Werwolfsheißhunger für Mehrarbeit“ (MEW, Band 23, S. 258) nicht immer wieder bestrebt sind, den Arbeitstag zu verlängern. Marx erkannte den Zug am Kapitalismus, dass seine Partizipant*innen in ihrem individuellen Streben nach möglichst viel Mehrarbeit und Profit sogar rücksichtslos gegenüber der letztlichen Quelle eben jenes Profits agieren. Er polemisierte: „Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetze von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen?“ (ebd., S. 505).

[3] Von einer Diskussion über ‚Zwischenklassen‘ und unterschiedliche Klassenfraktionen wird hier aus Platzgründen abgesehen.

[4] Diese Logik lässt sich den gewerkschaftlichen Kalkulationen ansehen, wenn jene zugleich die Löhne der von ihnen vertretenen Mitglieder qua Verhandlung mit dem geschätzten ‚Sozialpartner‘ anheben wollen, dabei aber stets im Blick behalten, dass die gestellten Forderungen unter keinen Umständen die Verhandlungspartner*innen überfordern und so letztlich die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen sowie des nationalen Standorts als solchem unterminieren. Die Vereinbarkeit von einem starken Wirtschaftsstandort und ‚guten Löhnen‘ wird behauptet und der nationale Standpunkt, weiter führend in der Welt zu sein, übernommen.

Verfasst von
Joshua Graf
M.A. Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Graf, Joshua, 2023. Prekarität als proletarische Wesensbestimmung [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 09.01.2023 [Zugriff am: 06.11.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/29680.php

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