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Chancen der sozial-ökologischen Transformation für die Migrationsgesellschaft

Interdependenz statt Konkurrenz

Dr. theol. Kristina Kieslinger

veröffentlicht am 10.01.2023

Die sozial-ökologische Transformation kann Chancen für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft Deutschland bieten. Ein verändertes soziales und umweltverträgliches Miteinander ist dann möglich, wenn die Paradigmenwechsel von der Konkurrenz zur Interdependenz und von der Effizienz zur Suffizienz geschafft werden.

Inhalt

  1. 1 Wo beginnt der Wandel? – Ein Perspektivwechsel
  2. 2 Welche Verhältnisse finden wir vor – und wie müssen sie sich verändern?
  3. 3 Wer hilft hier wem? – Orientierungen für gelingende Transformation
  4. 4 Was könnte das für die Praxis der Sozialen Arbeit bedeuten? – Ein Ausblick
  5. 5 Literatur

Zusammenfassung

Die sozial-ökologische Transformation ist eine – wenn nicht die drängendste – Herausforderung unserer Zeit. Dass diese nicht nur mit Aufwand und Kosten, sondern auch mit Chancen für die Migrationsgesellschaft verbunden ist, will dieser Artikel zeigen. Eine als Paradigmenwechsel von der Konkurrenz zur Interdependenz verstandene Transformation der Gesellschaft bietet eine neue Basis für das Zusammenleben von allen in Deutschland lebenden Menschen und trägt der ökologischen wie sozialen Dimension des notwendigen Wandels Rechnung. Um diese voraussetzungsreiche These zu untermauern, soll in vier Schritten vorgegangen werden. In einem ersten Schritt wird die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenleben unter den Bedingungen des Klimawandels aufgeworfen. Zwei Perspektiven stehen sich hier gegenüber: eine Entweder-oder- und eine Sowohl-als-auch-Logik. Um diese Analyse zu stützen, soll auf Studien zum Zusammenhang von Klimaschutz, gesellschaftlichem Zusammenhalt und Migration rekurriert werden. In einer Synthese aus Sachanalyse und systematischen Überlegungen sollen drittens Kriterien für eine gelingende Transformation entwickelt werden. In einem letzten Schritt wird resümiert, wie die Praxis der Sozialen Arbeit dazu einen Beitrag leisten kann und dadurch selbst verändert wird.

1 Wo beginnt der Wandel? – Ein Perspektivwechsel

Der Deutsche Mieterbund geht verbal vehement gegen den Vorstoß der Bundesnetzagentur vor, der eine gesetzlich vorgeschriebene Drosselung der Heizungstemperatur für den Wohnungsbereich forderte – das sei „der völlig falsche Weg“, denn diese Forderung unterstelle, dass private Haushalte „Energie verschwenden würden“ (Mieterbund 2022). Dieses Beispiel zeigt, wie sehr Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des Klimaschutzes in Form des Ressourcenverbrauches zusammenhängen. Die durch den Ukraine-Krieg ausgelöste Energiekrise lässt auch die Klimakatastrophe und die damit verbundene soziale Ungleichheit wie in einem Brennglas zutage treten. Es verdeutlicht, dass die notwendige sozial-ökologische Transformation gerne individualisiert und auf Lebensstilfragen reduziert wird (vgl. More in Common 2021a: 40). Dass die Summe der Haushalte einen Unterschied im Gesamtverbrauch macht, ist keine Frage, doch es verschleiert die Tatsache, dass ein strukturelles Umdenken vonnöten ist.

Was ich im Folgenden aufzeigen möchte, ist: Es braucht neben dem Blick auf das Handeln der Einzelnen eine Aufmerksamkeit für die Rahmenbedingungen, welche dieses beeinflussen und bestimmen, um die enormen Herausforderungen der Klimakrise national und global bewältigen zu können. Es braucht eine Konzeption von Sozialer Arbeit, welche eine kluge Verbindung der individuellen wie strukturellen bzw. institutionellen Dimension der Transformation schafft. Oder soziologisch gesprochen: Es bedarf einer Synthese von Handlungs- und Systemtheorie. Dabei geht es meines Erachtens darum, eine Entweder-oder-Logik, welche individuelle Lebensführung und politisches Handeln gegeneinander ausspielt, in eine Sowohl-als-auch-Logik zu verwandeln. Das würde bedeuten, dass alle Menschen in einem demokratischen Prozess an der Umgestaltung der Gesellschaft mitwirken können, und diese ist mit ihren Institutionen wiederum partizipativ [1] ausgelegt.

Wie kann die sozial-ökologische Transformation in der Migrationsgesellschaft Deutschland für alle gelingend gestaltet werden, ohne auf Kosten anderer zu leben? Zu nennen sind vor allem Menschen in prekären Lebenslagen, Menschen im Globalen Süden und zukünftige Generationen. In der Frage nach dem guten Leben in der Migrations- oder Einwanderungsgesellschaft treffen sich Fragen von Gerechtigkeit und Sozialer Arbeit, denn die Klimakrise trifft vor allem die zuerst und am härtesten, die am wenigsten dazu beigetragen haben (vgl. Kieslinger/Schaffert 2022: 94). Dies gilt nicht nur für verheerende Situationen im Globalen Süden, wo Menschen von Versteppung, dem steigenden Meeresspiegel und bewaffneten Konflikten um knapp werdendes Wasser bedroht sind. Die durch die Klimakrise sichtbar werdende und sich noch weiter vertiefende Kluft zwischen den oberen und den unteren Einkommensperzentilen ist längst in Deutschland angekommen. Wir können hier auf das Eingangsbeispiel zurückkommen: Menschen in prekären finanziellen Verhältnissen sind durch die steigenden Energiepreise von Stromsperren bedroht und können ihre schlecht isolierten Wohnungen nur unzureichend heizen. Im Sommer verschlechtert sich die gesundheitliche Situation in sich aufheizenden Gebäuden und Wohngegenden ohne nennenswerte Frischluftschneisen durch Hitzestress (vgl. Kieslinger/Schaffert 2020: 10); die Zahl der Hitzetoten steigt dort weiter an (vgl. Mrasek 2021).

Dass davon vielfältig Menschen mit Migrationshintergrund betroffen sind, lässt sich aus dem 10. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland herauslesen, der die Armutsgefährdungsquote von Migrant*innen doppelt so hoch ansetzt wie bei Menschen ohne Migrationshintergrund (Beauftragte der Bundesregierung 2014: 4–5). Noch höher schätzt sechs Jahre später das BMFSFJ die Armutsgefährdung von Menschen mit Migrationshintergrund ein (29 % Familien mit Migrationshintergrund, 30 % Familien mit eigener Migrationserfahrung; 12 % Familien ohne Migrationshintergrund; BMFSFJ 2020: 9)

Die These, welche ich im Folgenden darlegen möchte, lautet deshalb: Die sozial-ökologische Transformation führt zu einer inklusiven und partizipativen Gesellschaft, in der alle Menschen teilhaben und teilgeben [2] können. Dafür müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens, auf der ökologischen Seite braucht es einen Paradigmenwechsel von der Effizienz zur Suffizienz. Suffizienz stellt dabei die Frage: Was brauchen wir zum guten Leben wirklich? [3] Zweitens, auf sozialer Seite, bedarf es eines Perspektivwechsels von der Konkurrenz zur Interdependenz. Interdependenz soll hier gefasst werden als dynamische Wechselwirkungen der Abhängigkeit und Bezogenheit, die bei bewusster Gestaltung die Autonomie aller fördern.

2 Welche Verhältnisse finden wir vor – und wie müssen sie sich verändern?

Da dies eine voraussetzungsreiche These ist, möchte ich mit einer Sachanalyse beginnen, um darzulegen, auf welchen Analysen meine Aussagen beruhen. Entscheidend ist die Einsicht, dass das menschliche Leben unter dem Vorzeichen der Begrenztheit – und hier vor allem der begrenzten Ressourcen – gelebt wird. Dass ein schrankenloses Wachstum aufgrund planetarer Grenzen nicht möglich ist, hat bereits der Club of Rome in Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit (Meadows et al. 1972) deutlich gemacht. Die sozialen Folgen des Raubbaus an der Erde betreffen alle Menschen, aber in unterschiedlicher Weise. Deswegen gehören zu den zentralen Handlungsfeldern der sozial-ökologischen Transformation nicht nur die Agrarwende, die Konsum- und Mobilitätswende und die Energiewende wie dies prominent Uwe Schneidewind (Schneidewind 2019) in die Diskussion eingebracht hat, sondern die Wende des der Klimakrise zugrundeliegenden Weltbildes: eine Entweder-oder-Logik, die zu Konkurrenz und Konflikt führt.

In der bereits erwähnten Studie von More in Common zu Klimaschutz und gesellschaftlichem Zusammenhalt gaben 80 % der Teilnehmenden an, die derzeitige Klimadebatte treibe Menschen auseinander („spaltend“; More in Common 2021a: 38). Dabei ist Klimaschutz in allen befragten Fokusgruppen von Bedeutung, allerdings wird er in einem Entweder-oder zu anderen – vor allem sozialen – Themen gedacht (vgl. More in Common 2021a: 24). Dass es um ein Sowohl-als-auch geht, soll nun anhand des Beispiels der Migrationsgesellschaft aufgezeigt werden.

Das Schlagwort Migration hat in der öffentlichen Diskussion ähnlich spaltende Wirkung wie das des Klimaschutzes. Dass die Angst vor Flüchtlingsströmen in Deutschland aufgrund der Klimakrise unberechtigt ist, zeigen wissenschaftliche Studien (vgl. Brizay 2022: 221). Trotzdem heizt die Zahl von 200 Mio. Geflüchteten (vgl. Brizay 2022: 221) die Diskussion an und fällt auf fruchtbaren Boden, da Deutschland ohnehin ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Status als Migrationsgesellschaft hat (Panagoitidis 2019). „Zu verstehen, auf welchen weltanschaulichen Boden die Migrations- und Integrationsdebatte fällt und mit welchen gesellschaftlichen Dynamiken sie ggfs. verschränkt ist, ist deshalb zentral für den Anspruch, sich als aufnehmende Gesellschaft von dem Thema nicht auseinanderdividieren zu lassen.“ (More in Common 2021b: 5)

Deswegen möchte ich mich an ein partizipatives – in Abgrenzung zu einem assimilatorischen – Migrationsverständnis (vgl. Schirilla 2016: 65–71) anlehnen, wenn ich für einen Paradigmenwechsel von der Konkurrenz zur Interdependenz plädiere. Dabei wird aus der Tatsache der global und national begrenzten Ressourcen, wie zu Beginn der Sachanalyse dargestellt, nicht der Schluss der Konkurrenz und des Windhund-Prinzips gezogen, sondern die Erkenntnis der Interdependenz erreicht. Um dies etwas zu konkretisieren, kann auf das schon gewählte Beispiel des Wohnens zurückgegriffen werden. So hat die Studie von More in Common zum Zusammenhalt in der Einwanderungsgesellschaft herausgefunden, dass 80 % der an der Befragung Teilnehmenden der Aussage zustimmen, dass durch Einwanderung „die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt ansteig[e]“ (More in Common 2021b: 13). Wichtig ist, dass diese Zustimmung „nicht unbedingt etwas darüber aussagt, ob sie kulturell aufgeschlossen sind oder ob sie Einwanderung bejahen“ (More in Common 2021b: 13). Das heißt, es muss keine negative Einstellung gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund vorhanden sein, um sich in einer Konkurrenzsituation zu fühlen. Wird nun stärker in Kategorien der Interdependenz gedacht – etwa: alle Menschen in Deutschland haben das Menschenrecht auf Wohnen und alle sind der kapitalistischen Logik des Wohnungsmarktes ausgeliefert – dann öffnet dies den Blick. Die und der Andere muss nicht als Gegner*in gesehen werden, sondern es kann gemeinsam einen Schritt zurückgetreten werden, um die strukturellen Ursachen der Krise des Wohnungsmarktes anzugehen. Dies will auf keinen Fall leugnen, dass Menschen in Deutschland sehr unterschiedlich von prekären Wohnsituationen betroffen sind und es Menschen mit Migrationshintergrund – oder Menschen, deren Nachname auf einen solchen schließen lässt – es besonders schwer haben (Süddeutsche Zeitung 2017).

Kurz gefasst heißt das: Die Logik der sozial-ökologischen Transformation kann zum Zusammenhalt in der Migrationsgesellschaft einen Beitrag leisten, indem sie diese als Beziehungsnetz denkt. Das klingt nach einer Utopie und vielleicht sogar blauäugig, deswegen braucht es Kriterien, um den Paradigmenwechsel in die Tat umzusetzen.

3 Wer hilft hier wem? – Orientierungen für gelingende Transformation

Damit die Annahme eines Beziehungsnetzwerkes, in der jede Masche gleichwichtig und -wertig ist, keine Gleichmacherei oder eine Diffusion von Verantwortung nach sich zieht, braucht es Orientierungen. Um die Fäden tatsächlich ineinandergreifen und zu tragfähigen Maschen werden zu lassen, braucht es Kriterien. „Kernfragen, die für den Zusammenhalt in der Einwanderungsgesellschaft verhandelt werden müssen, sind die von Zugehörigkeit und Ausschluss. […] Fast alle anderen Fragen zum Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft lassen sich dieser ‚Gretchenfrage‘ von ‚wir‘ und ‚die‘ unterordnen.“ (More in Common 2021b: 14). Deswegen sind als Erstes die Kriterien von Teilhabe und Teilgabe zu nennen, um so die von Menschen mit Migrationshintergrund immer wieder gemachten Exklusionserfahrungen anzugehen.

Diese sind um weitere zu ergänzen, von denen ich ein paar hervorheben möchte, in dem Wissen, dass das Netz lückenhaft bleiben muss. Denn manche von ihnen betonen eher die individuelle Dimension der Lebensführung und müssten um den sozialen Aspekt ergänzt werden; andere sind eher strukturell ausgerichtet und müssten durch eine individuelle Dimension komplementiert werden.

Ich möchte das Kriterium der Achtsamkeit, wie es in der Ethik der Achtsamkeit (Conradi 2001) von Elisabeth Conradi im Rahmen einer Care-Ethik vorgeschlagen wurde, nennen, denn die Achtsamkeit für die Exklusion des Anderen setzt die Wahrnehmung der eigenen Privilegien voraus. Dies könnte praktisch durch den Anti-Bias-Ansatz gestärkt werden, der auf die Selbstverständlichkeit von Privilegien aufmerksam macht (‚If you don't have to think about it, it's a privilege,‘). Dadurch könnte auch die strukturelle Seite der Achtsamkeit gestärkt werden, indem auf (unbewusste) Macht- und Hierarchiefragen aufmerksam gemacht wird, um sie so zu einer institutionell verankerten Haltung werden zu lassen.

Und ich möchte das Kriterium der Befreiung nennen, wie es im Anschluss an eine „Theologie der Befreiung“ (Hathaway/Boff 2022) dargestellt werden kann: Es gilt Menschen mit Exklusionserfahrung aus der Isolation zu befreien, indem Strukturen der Ausgrenzung umgestaltet werden – hier wäre die individuelle Seite zu stärken, indem die ausschließenden Personen aus der Blindheit für die Not der Anderen befreit werden. Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass Befreiung hier nicht im Sinne einer paternalistischen Bevormundung oder einer barmherzigen Hilfeleistung zu verstehen ist, wie dies auf Grundlage einer Entweder-oder-Logik („Ich helfe dir!“) leicht geschehen könnte. Es geht um die radikale Verbundenheit und Angewiesenheit der Menschen mit- und aufeinander („Wir helfen uns!“), was mit einem Zitat der Aborigine Aktivistin Lilla Watson zum Ausdruck gebracht werden kann: „If you have come to help me, you are wasting your time, but if you have come because your liberation is bound up with mine, let’s work together“ (zitiert bei Riggs 2004). [4]

Ein letztes Kriterium, das die individuelle wie auch strukturelle bzw. soziale Dimension in sich bereits vereint und das ich hier deswegen ganz besonders hervorheben möchte, ist das Prinzip der Suffizienz (Wissenschaftliche Arbeitsgruppe 2018: 43–44), die oft als Tugend der rechten Maßhaltung beschrieben wird. In seiner individuellen Dimension geht es darum, nicht viel zu haben, sondern gut zu leben. In seiner sozialen Dimension richtet es seinen Blick auf Institutionen und ist mit dem Begriff der Suffizienzpolitik (vgl. Kopatz 2015) verbunden. Es geht darum, Strukturen zu schaffen, die helfen Ressourcen zu sparen und einen suffizienten Lebensstil der Einzelnen zu ermöglichen (z.B. Kreislaufwirtschaft). Ein möglicher Einwand könnte hier lauten, dass Suffizienz besonders kritisch mit Blick auf Menschen zu sehen ist, die nicht viel haben. Es muss aber deutlich gesagt werden, dass Menschen in prekären Lebenslagen, die aus finanzieller Not heraus bereits jetzt klimaneutral leben, nicht die ersten Adressat*innen für Verzicht sind. Damit wäre auch das Anliegen des Suffizienzgedankens verfehlt, dem es darum geht, den Finger in die Wunde legen und zu fragen: Wo ist der Fehler im System? Wo hängt die sozio-ökonomische Exklusionserfahrung mit gesellschaftlichen Werten und Maximen zusammen, die der Suffizienz (im Sinne des guten Lebens und nicht des Verzichts) widersprechen? Mit dem Paradigmenwechsel von der Konkurrenz zur Interdependenz geht also ein zweiter einher: von der Effizienz zur Suffizienz.

Den aufmerksamen Leser*innen wird nicht entgangen sein, dass ich in den letzten Absätzen sehr allgemein von Menschen und der Gesellschaft, weniger von Migrant*innen und Migrationsgesellschaft gesprochen habe. Wenn den hier vorgeschlagenen Paradigmenwechseln gefolgt wird, beginnen sich die Kategorien gewissermaßen zu verflüssigen, in einem Vorgang von „Kategorisierung und Dekategorisierung in sich gegenseitig beeinflussenden Prozessen“ (Kieslinger, 2022: 25). So wird deutlich, dass das gute Leben einzelner – jetzt noch unter Exklusionserfahrungen leidender – Gruppen (Stichwort: Intersektionalität) nicht vom guten Leben der Gesamtgesellschaft, ja der Menschheit getrennt werden kann. Es braucht eine inklusive und partizipative Systemperspektive, welche das gute Leben der Einzelnen (Teilhabe, Teilgabe, Befreiung, Suffizienz) integriert.

4 Was könnte das für die Praxis der Sozialen Arbeit bedeuten? – Ein Ausblick

Welche Konsequenzen ergeben sich aus den gemachten Überlegungen? Welche Orientierungen können sie für die Praxis der Sozialen Arbeit anbieten? Zum einen möchte ich dazu anregen, auf einer individuellen Ebene verstärkt die Haltungen der in der Sozialen Arbeit Tätigen in den Blick zu nehmen. Im Sinne einer Professionsethik kann die Frage nach dem gelingenden Leben unter den dafür aufgestellten Kriterien dazu führen, sich der Motivation und Zielperspektive des eigenen professionellen Handelns bewusst zu werden. Welche Rolle spielt das professionelle Handeln bei der Mitgestaltung der sozial-ökologischen Transformation, damit diese tatsächlich für alle Menschen zu einem Mehr an Lebensqualität führt?

Dies bringt uns zur strukturellen Ebene dessen, was aus dem hier Vorgeschlagenen folgen könnte: Soziale Arbeit könnte politisch wirksam werden, um so ihre „Depolitisierung“ (Brokow-Loga 2022: 267) zu überwinden und ihre immense Erfahrung in den politischen Diskurs verstärkt einbringen. Das wäre im Einsatz für die Überwindung ihrer „Einzelfallfixierung“ (Brokow-Loga 2022: 267) denkbar, damit sich Sozialarbeiter*innen allen Menschen zuwenden können, die unter Unterdrückungserfahrungen leiden. Die radikale Konsequenz des Umdenkens von der Konkurrenz zur Interdependenz lautet, dass alle, auch die ‚Unterdrückenden‘ – die ihrerseits oft unter Systemzwängen leiden –, in die gemeinsamen Arbeit für die Transformation der Gesellschaft mit einzubeziehen sind (vgl. Brokow-Loga 2022: 269–270).

Zusammenfassend heißt das: Die sozial-ökologische Transformation mit ihren beiden Paradigmenwechseln bietet die Chance für die Einzelnen, eine Haltung zu entwickeln, in der sie sich mit dem Schicksal anderer Menschen – seien sie mit oder ohne Migrationshintergrund – verbunden fühlen. Sie bietet die Chance, die Verhältnisse in Richtung einer inklusiven und partizipativen Gesellschaft zu gestalten, welche befreiend für alle unter Exklusionserfahrungen leidenden Menschen wirken. Für die konkrete Umsetzung sind weitere Überlegungen notwendig, die an anderer Stelle fortzuschreiben sind.

5 Literatur

Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (2018): Teilhabe: ein zentraler Begriff für die Kinder- und Jugendhilfe und für eine offene und freie Gesellschaft. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ. Abrufbar unter: https://www.agj.de/positionen/artikel-7.html?tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=7052&cHash=62e31b64e479acc2e12b03fdd68d671b; zuletzt aufgerufen am: 03.01.23.

Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2014): 10. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland (Oktober 2014) – Kurzfassung für die Presse. Abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/publikationen/10-bericht-der-beauftragten-der-bundesregierung-fuer-migration-fluechtlinge-und-integration-ueber-die-lage-der-auslaenderinnen-und-auslaender-in-deutschland-729976; zuletzt aufgerufen am: 03.01.23.

Boff, Leonardo/Hathaway, Mark (2022): Die Weisheit des Kosmos. Ein zukunftsweisendes Weltbild. Mit einem Vorwort von Fritjof Capra (Theologie, Forschung und Wissenschaft 67). Münster: Lit Verlag.

Brizay, Ulrike (2022): Klimawandel und Migration. In: Pfaff, Tino/Schramkowski, Barbara/Lutz, Ronald (Hrsg.). Klimakrise, Sozialökologischer Kollaps und Klimagerechtigkeit. Spannungsfelder für Soziale Arbeit, Weinheim: Beltz Juventa, S. 216–228.

Brokow-Loga, Elisabeth/Brokow-Loga, Anton (2022): Die Soziale Arbeit der Unterdrückten. Mit Ansätzen aus dem Globalen Süden gegen die imperiale Lebensweise. In: Pfaff, Tino/Schramkowski, Barbara/Lutz, Ronald (Hrsg.): Klimakrise, sozialökologischer Kollaps und Klimagerechtigkeit. Spannungsfelder für Soziale Arbeit, Weinheim: Beltz Juventa, S. 266–277.

Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (2020): Gelebte Vielfalt: Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland; abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/gelebte-vielfalt-familien-mit-migrationshintergrund-in-deutschland-116882; zuletzt aufgerufen am: 03.01.23.

Conradi, Elisabeth (2001): Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt a.M.: Campus-Verlag.

Deutscher Mieterbund (2022): Mieterbund gegen gesetzlich vorgeschriebene Absenkung der Mindesttemperatur: Energiesparen geht alle an. Abrufbar unter: https://www.mieterbund.de/startseite/news/article/69594-mieterbund-gegen-gesetzlich-vorgeschriebene-absenkung-der-mindesttemperatur.html; zuletzt aufgerufen am: 03.01.23.

Kieslinger, Daniel (2022): Die Refinanzierung inklusiver Leistungsangebote im Spannungsfeld von wirtschaftlicher und fachlicher Jugendhilfe, Freiburg i.Br.: Lambertus-Verlag.

Kieslinger, Kristina/Schaffert, Astrid (2022): Klimaschutz: ambitioniert und sozial gerecht. Die Bewältigung einer Jahrhundertaufgabe aus Sicht eines Wohlfahrtsverbandes, in: Pfaff, Tino/Schramkowski, Barbara/Lutz, Ronald (Hg.), Klimakrise, Sozialökologischer Kollaps und Klimagerechtigkeit. Spannungsfelder für Soziale Arbeit, Weinheim: Beltz Juventa, 93–103.

Kieslinger, Kristina/Schaffert, Astrid (2020): Klimaschutz ambitioniert und sozial gerecht gestalten. Hintergründe, Fakten und Forderungen zur Umsetzung in der Caritas. Abrufbar unter: www.caritas.de/cms/contents/caritas.de/medien/dokumente/schwerpunkte/klimaschutz-caritas/hintergrundbroschuere_klima__caritas.pdf; zuletzt aufgerufen am: 03.01.23.

Kieslinger, Kristina/Schlögl-Flierl, Kerstin (2022): Moral Licensing: Zum modernen Ablasshandel im Klimaschutz in: Stimmen der Zeit 147 (2022), 367–376.

Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz (2021): Wie sozial-ökologische Transformation gelingen kann. Eine interdisziplinäre Studie im Rahmen des Dialogprojektes zum weltkirchlichen Beitrag der katholischen Kirche für eine sozial-ökologische Transformation im Lichte von Laudato si´ (Studien der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ 22). Bonn.

Kopatz, Michael (2015): Sozial- und Suffizienzpolitik als Teil der Energiewende. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 56 (1), S. 61–71.

Meadows, Dennis L./Meadows, Donella H./Randers/Jørgen/Behrens III, William W. (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt.

More in Common Deutschland/Assad, Caroline/Gagné, Jérémie/Krause Laura-Kristine (2021): Zusammenhalt in der Einwanderungsgesellschaft. Wie die sechs gesellschaftlichen Typen über Migration denken. Berlin; abrufbar unter: https://www.moreincommon.de/unsere-arbeit/publikationen/; zuletzt aufgerufen am: 03.01.23.

More in Common Deutschland/Gagné, Jérémie/Krause, Laura-Kristine (2021): Einend oder spaltend? Klimaschutz und gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland. Berlin; abrufbar unter: https://www.moreincommon.de/klimazusammenhalt/; zuletzt aufgerufen am: 03.01.23.

Mrasek, Volker (2021): Der Klimawandel ist schon heute tödlich. Abrufbar unter: www.deutschlandfunk.de/hitzetote-der-klimawandel-ist-schon-heute-toedlich.676.de.html?dram:article_id=498150; zuletzt aufgerufen am: 03.01.23.

Panagiotidis, Jannis (2019): Migrationsgesellschaft Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung; abrufbar unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/298556/migrationsgesellschaft-deutschland/; zuletzt aufgerufen am: 10.01.2023.

Riggs, Damienv (2004): „Benevolence and the Management of Stake: On Being ‚Good White People‘“. In: Philament4; abrufbar unter: http://www.philamentjournal.com/articles/benevolence-and-the-management-of-stake-on-being-good-white-people/; zuletzt abgerufen am: 16.06.2022.

Schirilla, Nausikaa (2016): Migration und Flucht. Orientierungswissen für die Soziale Arbeit (Handlungsfelder Sozialer Arbeit). Stuttgart: Kohlhammer.

Schneidewind, Uwe (2019): Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 4. Aufl.

Straßburger, Gaby/Rieger, Judith (Hg.; 2019) Partizipation kompakt – Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Süddeutsche Zeitung o.A. (22.06.2017): Ausländischer Name ist bei der Wohnungssuche eine Hürde; abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/leben/gesellschaft-auslaendischer-name-ist-bei-der-wohnungssuche-eine-huerde-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-170622-99-952689?print=true; zuletzt aufgerufen am: 03.01.23.

Wissenschaftliche Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz (2018): Raus aus der Wachstumsgesellschaft. Eine sozialethische Analyse und Bewertung von Postwachstumsstrategien (Studien der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ 21). Bonn.


[1] In dem Wissen, dass Partizipation ein schillernder Begriff ist und viele Definitionen erfahren hat, möchte ich mich hier der Konzeption einer Partizipationspyramide von Straßburger/Rieger anschließen, die besagt: „Partizipation bedeutet, an Entscheidungen mitzuwirken und damit Einfluss auf das Ergebnis nehmen zu können. Sie basiert auf klaren Vereinbarungen, die regeln, wie eine Entscheidung gefällt wird und wie weit das Recht auf Mitbestimmung reicht“ (Straßburger/Rieger 2019: 120).

[2] „Die Integration der Einzelnen ist konstitutives Merkmal einer offenen und freien Gesellschaft. Sie hat aber nicht nur Auswirkung auf den oder die Einzelne, sondern verändert die (neu entstehende) Gruppe als Ganzes. Teilhabe realisiert sich also über ein Geben und Nehmen. Staatliche Unterstützung der Teilhabe beruht dabei auf einem Interesse der demokratischen Gesellschaft an sozialem Zusammenhalt und wirkt der destruktiven Gefahr einer Segregation von Gruppen entgegen.“ (vgl. Positionspapier AGJ 2018)

[3] So zieht die Definition von Suffizienz (lat: sufficere: genügen/ausreichen, also eine Haltung der Genügsamkeit) eine Abkehr von dem reinen Vertrauen in technische Lösungen nach sich, welches oft zu Rebound-Effekten führt: Bei technischen Geräten wird beispielsweise am Ende mehr Energie verbraucht, weil dies vermeintlich sparsamer ist. Für den Effekt des Moral Licensing, der sich hier Bahn bricht, vgl. Kieslinger/Schlögl-Flierl 2022.

[4] Folgende Übersetzung findet sich bei Brokow-Loga 2022, 275: „Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen, verschwendest du deine Zeit. Aber wenn du gekommen bist, weil deine Befreiung mit meiner zusammenhängt, dann lass uns zusammenarbeiten!“.

Verfasst von
Dr. theol. Kristina Kieslinger
Inhaberin der Guardini-Professur für Ethik an der Katholischen Hochschule Mainz
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Zitiervorschlag
Kieslinger, Kristina, 2023. Chancen der sozial-ökologischen Transformation für die Migrationsgesellschaft [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 10.01.2023 [Zugriff am: 16.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/29681.php

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