Machtsensibilität
Ein Handlungskonzept für pädagogische bzw. sozialarbeiterische Interaktionen
Prof. Dr. Melanie Misamer
veröffentlicht am 09.03.2023
Inhalt
- 1 Einleitung
- 2 Macht
- 3 Ohnmacht und ihre Auswirkungen
- 4 Fallstricke der Machtanwendung: zum Umgang mit der Macht
- 4.1 Der Staus als Sozialarbeiterin bzw. als Sozialarbeiter
- 4.2 Mögliche Korrumpierungsmechanismen der Macht
- 4.3 Das Eigenwirkpotenzial von Macht
- 4.4 Unterschiedliche Wahrnehmungen bei der Machtanwendung
- 4.5 Sozialpsychologische Fallstricke der eigenen Wahrnehmung
- 4.5.1 Die Theorie Sozialer Identität
- 4.5.2 Stereotype Vorstellungen
- 4.5.3 Der Halo-Effekt und Vorurteile
- 4.5.4 Der Pygmalioneffekt
- 4.5.5 Der Perseveranzeffekt
- 4.5.6 Der fundamentale Attributionsfehler
Zusammenfassung
Macht ist meist negativ besetzt und wird selten explizit und differenziert betrachtet, dabei hat jede und jeder Macht inne. Machtsensibilität beschreibt eine konstitutive (= grundlegende, fundamentale) Empfindsamkeit gegenüber der Machtanwendung. Voraussetzung zur Entwicklung von Machtsensibilität bei Sozialarbeitenden gegenüber Adressierten sind ein Wissen und Bewusstsein über grundlegende Machtdynamiken, unter anderem darüber, dass Macht situationsspezifisch ist. In einem Bereich verfügt jemand über Macht, im anderen jedoch nicht. Beispielsweise ist man Führungskraft am Arbeitsplatz, aber nur Ersatzperson im Fußballverein. Macht ist relativ, denn Machtmittel wirken nur, wenn die andere Seite möchte, was man bieten kann, oder hiervon abhängig ist. Macht ist zudem „janusköpfig“, man beäugt die Macht anderer eher kritisch, während man selbst gerne mehr davon hätte (Scholl 2007a, S. 27). Auch wirkt Macht bereits, bevor sie angewendet wurde (von Machtposition ausgelöste positive Affekte, s. Keltner, Gruenefeld und Andersen 2003, S. 19 f.). So können Korrumpierungsautomatismen wirksam werden (z.B. Keltner 2016, S. 101–103; Kipnis 1972; Mitchell et al. 1998; Scholl 2012, S. 213).
Es ist wichtig, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, welche Ziele auf welche Art und Weise beim Gegenüber erreicht werden können, warum diese Ziele erreicht werden sollen und welche Konsequenzen das jeweils hat. Was Ohnmacht bei Menschen bewirkt, ist in dem Zusammenhang ein wichtiger Aspekt, denn aus destruktiven (machtmissbräuchlichen) Formen der Machtanwendung können Ohnmachtsgefühle beim Gegenüber entstehen. Zur Machtsensibilität gehört außerdem Wissen über (sozialpsychologische) Wahrnehmungsverzerrungen, die zu Fallstricken bei der Machtanwendung werden können. Dabei handelt es sich beispielsweise um Wissen über die unterschiedliche Wahrnehmung von Machtausübung je nach Blickwinkel – ob also die machtanwendende Person betrachtet wird oder die Person, auf die Macht angewendet wird (Misamer 2019a, S. 138 f.; Witte 2001, S. 8) –, den Perseveranzeffekt (Ross, Lepper und Hubbard 1975), den fundamentalen Attributionsfehler (z.B. Jonas, Stroebe und Hewstone 2014, S. 90 f.) oder den Halo-Effekt (Thorndike 1920).
Durch Machtsensibilität können destruktive (machtmissbräuchliche) Strukturen frühzeitig wahrgenommen und durch konstruktive (nützliche, Win-win-Situationen herstellende) Strategien wie partizipative, konfliktlösende, vertrauens- und gerechtigkeitsfördernde Handlungsweisen ersetzt werden. Machtsensibilität kann über ein Screening gemessen werden (Misamer 2024, S. 53) und sollte bereits im Studium behandelt werden, um sie in die berufliche Identitätsbildung einfließen zu lassen und so in das professionelle Handeln zu integrieren: „Professionelle der Sozialen Arbeit verfügen in der helfenden Beziehung über Macht. […] Soziale Arbeit muss sensibel mit Macht und Machtstrukturen umgehen“ (DBSH 2014, S. 26).
Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Nach einer Einleitung (1) werden Macht und Ohnmacht aus einer interdisziplinären Perspektive dargestellt (2 & 3), um anschließend auf verschiedene Fallstricke der Machtanwendung einzugehen (4). Hier geht es a) um den Status, den Sozialarbeitende innehaben, b) um mögliche Korrumpierungsmechanismen, die mit einer Machtposition einhergehen können, c) um das Eigenwirkpotenzial von Macht, d) um unterschiedliche Wahrnehmungen bei der Machtanwendung und e) um sozialpsychologische Fallstricke der Wahrnehmung, denen jeder Mensch in gewissem Maße unterliegt. Die jeweiligen Abschnitte enden mit Hinweisen, wie die Verzerrungseffekte in der Arbeitspraxis reduziert werden könnten. Im darauffolgenden Abschnitt (5) wird sich mit dem Thema der Machtsensibilität auseinandergesetzt und die Frage behandelt, warum ein Bewusstsein für das eigene Machthandeln wichtig ist. Hierauf gibt es mehrere Antworten, beispielsweise a) um der Verantwortung gegenüber Adressierten besser gerecht werden zu können, b) um sich vor Machtmissbrauch zu schützen, c) um Adressierten gegenüber Vorbildverhalten zeigen zu können, d) um für (neue) Kolleginnen und Kollegen eine Multiplikator*innenfunktion erfüllen zu können und e) um den unterschiedlichen Anforderungen Sozialer Arbeit (noch) besser gerecht werden zu können. Abschließend werden Machtsensibilität, Konstruktivität und Regularien (wie z.B. die berufsethischen Prinzipien der DBSH) als Korrektive für das eigene Machthandeln diskutiert und der bisherige Forschungsstand zur Machtsensibilität dargestellt (6) sowie ein Fazit gezogen (7).
1 Einleitung
Definition: Machtsensibilität
Machtsensibilität beschreibt eine konstitutive Empfindsamkeit gegenüber der Machtanwendung. Machtsensibilität beinhaltet ein Wissen um:
- den eigenen Status
- mögliche Korrumpierungsmechanismen
- das Eigenwirkpotenzial von Macht
- unterschiedliche Wahrnehmungen der Machtanwendung je nach Standpunkt
- sozialpsychologische Fallstricke der eigenen Wahrnehmung (Misamer und Hennecken 2022, S. 197)
Auch wenn es bereits Beiträge zur Macht in der Sozialen Arbeit gibt (z.B. von Staub-Bernasconi, Sagebiel, Pankofer, Kraus und Krieger), ist Machtsensibilität bis vor Kurzem nicht thematisiert worden, obwohl sie in der Arbeitspraxis durchaus eine Rolle spielt (Misamer und Albrecht 2023). Auch empirisch ist Machtsensibilität noch wenig beachtet. Dies ist bemerkenswert, da sich in den berufsethischen Richtlinien des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit e.V. Hinweise zum Umgang mit Macht, insbesondere aber auch ein Hinweis auf den sensiblen Umgang mit derselben finden: „Soziale Arbeit muss sensibel mit Macht und Machtstrukturen umgehen“ (DBSH 2014, S. 26).
Die Leitfrage der folgenden Ausführungen lautet daher: Wie lässt sich Machtsensibilität für die Soziale Arbeit beschreiben, sodass Fachkräfte Sozialer Arbeit hiermit für sich und Adressierte gewinnbringend arbeiten können? Ziel des Beitrags ist eine interdisziplinäre Darstellung des Handlungskonzepts Machtsensibilität. Weil Macht ein universelles Konstrukt ist, das in verschiedensten Bereichen des sozialen Lebens in ähnlicher Weise wirkt, kann die Beschreibung nicht disziplinär auf eine Profession begrenzt bleiben. Es gibt Theorien und Forschung zur Macht aus der Psychologie, den Erziehungswissenschaften, der Sozialen Arbeit, der Philosophie und der Soziologie, die Machtmechanismen, zwar teilweise mit anderen Worten, aber im Tenor ähnlich beschreiben. Wird das Wissen aus diesen Bereichen zusammengetragen und gebündelt, können das Machtkonstrukt und der sensible Umgang hiermit breiter und umfassender beschrieben werden als aus dem Blickwinkel nur einer Disziplin (s. zus. Misamer 2019a, S. 22–49).
Bei der Machtsensibilität handelt es sich um eine Kategorie, die auf einer interdisziplinär verorteten Idee von Macht und Ohnmacht basiert. Machtsensibilität ist ein (bisher in Teilen) evidenzbasiertes Handlungskonzept für pädagogische und sozialarbeiterische Interaktionen, das in machtasymmetrischen Situationen den ‚schwächeren Part‘ absichert und partizipativ stärkt.
2 Macht
Menschen werden auf verschiedene Weise immer wieder mit Macht konfrontiert. Das beeinflusst ihr Fühlen, Denken und Handeln, auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst sind. Das gilt auch für Sozialarbeitende (Sagebiel und Pankofer 2015, S. 13). Sozialarbeitende kennen das manchmal diffuse, mitunter aber auch eindeutige Gefühl, sich aktuell in einer Machtsituation zu befinden (Loeken und Windisch 2013, S. 46). Machtanwendung ist ein tabuisierter Aspekt des professionellen Fachkräftehandelns, der besonders in machtasymmetrischen (also ungleichen) Beziehungen zum Tragen kommt. Die Sozialarbeitenden-Adressierten-Beziehung basiert auf einer solchen ungleichen Machtbeziehung, in der die Sozialarbeitenden hierarchisch höher stehen als die Adressierten, die sich oftmals gleichzeitig in sozialen Notlagen befinden. Dabei gilt, je jünger oder uninformierter Adressierte sind, desto ungleicher ist das Machtverhältnis zwischen Adressierten und Fachkräften. Sozialarbeitende haben Fachexpertisen, Entscheidungsmacht und/oder Wissen um Handlungsoptionen, das Adressierten in der Regel nicht zur Verfügung steht. Sozialarbeitende verfügen also über Macht und tragen damit eine hohe Verantwortung gegenüber Adressierten (Misamer 2019b, S. 164). Es braucht eine (selbst-)kritische, differenzierte und theoretisch reflektierte Auseinandersetzung mit den Kategorien Macht und Ohnmacht sowie eine ethische Begründung, wann und wie Macht gegenüber Adressierten eingesetzt werden darf und soll (Schulze-Weigmann 2011, S. 46). Macht bedeutet verfügen können
„z.B. über Gesundheitsressourcen. Das kann eine private im Vergleich zu einer gesetzlichen Krankenversicherung sein, die bessere Leistungen, schnellere Termine bei Spezialist*innen oder auch einen größeren Umfang an gesundheitlichen Leistungen ermöglicht. Es kann aber auch bedeuten, dass eine Person die Ressource hat, jemanden zu kennen, die*der Gesundheitsprozesse unkomplizierter, schneller oder reibungsloser ablaufen lassen kann, als es ohne diese Ressource der Fall wäre. Das Gegenteil, also Ohnmacht, kann im Gegensatz dazu fehlende Ressourcen bedeuten, z.B. dass benötigte oder sinnvolle Optionen und Hilfen trotz Suche und Bemühung nicht ‚in Reichweite‘ kommen“ (Misamer und Hackbart 2021, S. 106).
Daher stellt sich die Frage: Wie kann Macht im positiven Sinne ermächtigend und nicht ohnmächtig machend eingesetzt werden?
Definition: Macht und ihre Ausprägungen
Macht kann als zunächst neutrales Potenzial betrachtet werden, das auf die eine oder andere Weise von Sozialarbeitenden gegenüber Adressierten eingesetzt werden kann:
- Konstruktive Machtanwendung: Machthandlungen im Sinne der berufsethischen Prinzipien zum Nutzen und mit einem Gewinn für Adressierte
- Destruktive Machtanwendung: Machthandlungen explizit nicht zum Nutzen oder sogar zum Schaden Adressierter
(Misamer und Hackbart 2021, S. 106 f.)
Wenn Macht an sich zunächst neutral ist, ist es möglich, sie als Waffe oder aber als Werkzeug zu nutzen:
„Ein Messer kann eine Waffe oder ein Werkzeug sein; es kommt eben darauf an, wofür man es benutzt. Man kann es für kriegerische, aggressive Handlungen nutzen oder man kann damit Kartoffeln für eine hungrige Familie schälen, damit sie etwas zu essen bekommen“ (Jörg Baum zit. in Misamer 2023, S. 25).
Auch Staub-Bernasconi sagt:
„Ob Macht problematisch ist, hängt, (…) von der Art der Regeln ab, mit denen Ressourcen/Güter verteilt, Menschen arbeitsteilig aufeinander bezogen, Ideen und Werte gewählt und institutionalisiert werden, mit denen diese Regeln legitimiert und Erzwingungsmittel (Belohnungen und Bestrafungen) eingesetzt werden“ (2007, S. 374 f.) und „Soziale Arbeit ist ohne eine differenzierte Auseinandersetzung mit Macht nicht denkbar“ (Staub-Bernasconi 2007, S. 395 f.).
Erläuterung zur Herleitung der konstruktiven und destruktiven Machtanwendung
Fachdiskurs aus der Sozialen Arbeit
Der disziplinäre Fachdiskurs zur Macht mit Positionen unter anderem von Staub-Bernasconi, Sagebiel, Pankofer, Kraus und Krieger wird in diesem Beitrag nicht eröffnet, weil es sich bei dem Konstrukt der Machtsensibilität um eine Kategorie, die auf einer interdisziplinär verorteten Idee von Macht und Ohnmacht basiert.
Interdisziplinärer Fachdiskurs
Es gibt historisch und auch aktuell verschiedenste Machtdefinitionen aus verschiedensten Professionen. Eine ausschließlich Negative findet sich bei Machiavelli. Demgegenüber sehen Weber, Lewin, Foucault, Arendt, Claessens, Popitz, Staub-Bernasconi und Kraus den Machtbegriff – obgleich auf verschiedenen Grundannahmen basierend – differenziert, nämlich in ein grundsätzliches ‚gegen andere‘ und ein ‚für bzw. mit andere(n)‘. Auf übergeordneter Ebene können dieses ‚gegen andere‘ als ‚destruktive Machtanwendung‘ und das ‚für bzw. mit andere(n)‘ als ‚konstruktive Machtanwendung‘ gefasst werden. Foucault und Machiavelli verweisen jeweils aus verschiedenen Blickwinkeln auf die Subjektivität von Macht. Allen Beschreibungen ist gemein, dass implizit (Arendt, Claessens, Kraus, Luhmann, Staub-Bernasconi, Weber) oder explizit (Foucault, Glöckler, Machiavelli) von einer Allgegenwärtigkeit oder Unumgehbarkeit von Macht ausgegangen wird. Die verschiedenen Ansätze zur Macht zeigen auf, dass es sich bei der Machtanwendung um ein dimensionales (nicht eindimensionales) Konzept handelt (Misamer 2019a, S. 29), das man, weil Macht an sich zunächst ein neutrales Potenzial ist, auf die eine oder andere Weise einsetzen kann. Daher ist ein differenzierter Blick auf die Machtanwendung nicht ausschließlich in ihrer gemeinhin negativen Konnotation sinnvoll.
Empirische Absicherung der Machtdefinitionen
Um auf die Dimensionen ‚konstruktiv‘ und ‚destruktiv‘ zu kommen, wurden interdisziplinär in den Bereichen Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Soziale Arbeit und (politische) Philosophie theoretische Abhandlungen wie auch empirische Studien recherchiert, abgeglichen, subsumiert und anschließend in eigenen Studien faktorenanalytisch reliable Skalen konstruktiver und destruktiver Machtanwendung ermittelt (siehe Misamer, Hackbart und Thies 2017 für die Soziale Arbeit; Misamer 2019a für den Schulkontext; Misamer und Scholl 2021 für den Bereich Kindheitspädagogik).
3 Ohnmacht und ihre Auswirkungen
Ohnmacht bedeutet ‚ohne Macht‘ und bezeichnet eine ‚Schwäche, Machtlosigkeit, Unmöglichkeit zu handeln‘. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Medizin und beschreibt einen vorübergehenden Bewusstseinsverlust. Die hier gemeinte psychologische Definition der Ohnmacht (Synonym: Machtlosigkeit, Kontrollverlust, gefühlt oder tatsächlich) kam später durch Seligmann hinzu und beschreibt ein Gefühl von Hilflosigkeit und mangelnden Möglichkeiten, die eigene Umwelt zu beeinflussen, um eigenen Bedürfnissen und Wünschen nachzukommen (Seligmann, 1975). Vulnerable und von anderen abhängige Personengruppen, wie Adressierte, erleben nicht selten Ohnmachtsgefühle.
Durch das berufsspezifische Wissen von Sozialarbeitenden entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis aufseiten der Adressierten, das möglichst in Hilfe zur Selbsthilfe und Selbstermächtigung münden soll. Zunächst sind Adressierte mit Hilfebedarfen oder Unterstützungswünschen jedoch von den gegebenen Informationen ihrer Sozialarbeitenden abhängig. Adressierte sind darüber hinaus nicht nur gegenüber Sozialarbeitenden, sondern häufig auch gegenüber anderen Personen oder (Alltags-)Situationen in der schwächeren Position, woraus vermehrt Ohnmachtsgefühle entstehen können.
Innerhalb der Sozialarbeitenden-Adressierten-Beziehung spielt das Machtmittel der Verteilung von Ressourcen eine zentrale Rolle. Diese werden nämlich von den Sozialarbeitenden im Hinblick auf eine Bedarfs- und Anspruchsbegründung für Adressierte eingeschätzt. Das bedeutet, es wird mit Entscheidungsmacht darüber entschieden, ob eine Leistung für Adressierte gewährt wird – und damit Wünsche und Bedürfnisse befriedigt werden – oder ob diese vorenthalten bleibt. Auch kennen sich Sozialarbeitende in der Regel besser als ihre Adressierten mit formalisierten Abläufen und Kontexten in anderen Institutionen aus, also damit, ‚wo‘ man sich ‚wie‘ zu verhalten hat und ‚wo‘ ‚welcher Ablauf‘ ‚wie‘ zu wahren ist. Adressierte kennen sich auch meist weniger mit fachlichen und rechtlichen Regeln, Abläufen, der Hilfeplanung, Hilfsmöglichkeiten und persönlichen Rechten aus, was sie wieder in die schwächere Position versetzt. So kann die Rolle als adressierte Person Ohnmachtsgefühle auslösen und die ungleiche Situation, in der sich Adressierte im Vergleich zu Sozialarbeitenden befinden, kann zu psychosozialen Belastungen (wie z.B. Stress) führen – und das, obwohl sich Adressierte (meist) in Situationen existenzieller Krisen befinden, die zudem Schamgefühle oder das Gefühl alleine gelassen zu sein mit sich bringen. Ohnmachtserleben oder Belastungen können auch entstehen, wenn Rollenerwartungen aus Sicht von Sozialarbeitenden nicht erfüllt werden. Beispielhaft lässt sich in diesem Kontext anbringen, dass Sanktionen als Konsequenz eines unpünktlichen oder unkooperativen Verhaltens von Adressierten ausgesprochen werden, oder klare Vorstellungen und explizite Hilfewünsche abgelehnt werden. Adressierte könnten sich zum Beispiel eine eigene Wohnung wünschen, während der/die Sozialarbeitende eine betreute Einrichtung als sinnvoller einschätzt und in die Wege leitet (Misamer 2023, S. 60 nach Urban-Stahl, 2012).
Während das Vorhandensein von (Gesundheits-)Ressourcen durch Unterstützungsleistungen ermächtigend wirkt, können fehlende Zugänge zu ebendiesen Ressourcen zu Ohnmacht führen. Für Adressierte nutzbringende oder förderliche Hilfen können mitunter trotz Bemühungen nicht in die die Wege geleitet werden, weil kein Anspruch auf diese Leistungen besteht oder die nötigen monetären Mittel nicht vorhanden sind. Ohnmacht repräsentiert hier ein Defizit, das sozial, psychisch oder körperlich (drei Bereiche nach Staub-Bernasconi 2019) sein kann und nicht aus eigenen Kräften behebbar ist. Wie helfen sich beispielsweise Adressierte, die sich sprachlich nicht ausreichend ausdrücken können, um die Hilfe zu benennen, die sie benötigen würden? Oder wie sollen Adressierte, die unter Ängsten leiden, aus eigener Kraft den schützenden Wohnort verlassen und sich Unterstützung suchen beziehungsweise sich trauen, digital Kontakt zu Personen oder Einrichtungen aufzunehmen, die helfen könnten? Was ist mit Adressierten, die nicht über entsprechendes Handlungswissen verfügen, um Gesundheitsleistungen überhaupt in Anspruch zu nehmen; die also nicht wissen, welche Hilfen ihnen zustünden und über welche Wege diese angestoßen werden könnten (Misamer 2023, S. 63)?
Die Gefühle, die Macht und Ohnmacht erzeugen können, stehen sich diametral entgegen. Das heißt, Macht- und Ohnmachtserleben bedingen sich (bei destruktiver Machtanwendung) gegenseitig. Daher muss, wenn beschrieben wird, was Ohnmacht bewirkt, gleichzeitig beschrieben werden, was destruktive Macht bewirkt.
Keltner, Gruenfeld und Andersen (2003) haben herausgefunden, dass Machterleben einhergeht mit …
- Stereotypen Denkweisen, z.B. „Adressierte sind doch sowieso alle gleich“
- Outgroup-Diskriminierung, z.B. „Adressierte in Wohngruppen klauen meistens und sind nicht vertrauenswürdig“ oder „Die heißen doch sowieso alle Kevin, Jaqueline und Chantalle und haben nichts im Kopf“
- Ingroup-Favorisierung, z.B. „Sozialarbeitende handeln immer ethisch richtig. Das hat diese Berufsgruppe einfach im Blut“
Im Gegensatz geht Ohnmachtserleben einher mit …
- Individuierenden Denkweisen, z.B. „Meine Sozialarbeiterin will bestimmt, dass ich ihr einen Kaffee anbiete, wenn sie mich zu Hause besucht. Das stimmt sie freundlicher, also biete ich ihr natürlich einen Kaffee an“
- Ingroup-Diskriminierung, z.B. „Die meisten Leute, die Sozialhilfe beziehen, sind asozial, das stimmt schon“
- Outgroup-Favorisierung, z.B. „Die Leute von der Sozialen Arbeit sind klug, wissen über alles Bescheid und helfen Leuten wie uns. Ich wäre selbst gerne Sozialarbeitende“ (s. zus. Misamer 2023, S. 61)
Es gibt also diverse Problematiken, die Machtanwendung mit sich bringen kann. Im nächsten Abschnitt werden verschiedene Fallstricke, die mit der Machtanwendung einhergehen können, beschrieben und Vorschläge angeführt, wie diese Effekte in der Arbeitspraxis reduziert werden können.
4 Fallstricke der Machtanwendung: zum Umgang mit der Macht
Im Folgenden werden Aspekte beschrieben, die für eine differenzierte Sicht auf die eigene Macht(-anwendung) notwendig sind zu kennen:
- der Status
- mögliche Korrumpierungsmechanismen
- das Eigenwirkpotenzial von Macht
- unterschiedliche Wahrnehmungen bei der Machtausübung
- sozialpsychologische Fallstricke der eigenen Wahrnehmung
4.1 Der Staus als Sozialarbeiterin bzw. als Sozialarbeiter
Sozialarbeitende erhalten durch ihren Hochschulabschluss (Diplom, Bachelor oder Master im Fachbereich Sozialer Arbeit) in unserer Gesellschaft ihren legitimierten Status und damit einhergehend Macht. Dieser Status legitimiert Sozialarbeitende, Adressierten Unterstützung zu leisten, sie in verschiedenen Bereichen anzuleiten und zum Teil auch schwerwiegende Entscheidungen für sie oder sogar in ihrem Namen zu treffen. Das kann beispielsweise eine Jugendgerichtshilfe sein, die in ihrem Gutachten die Beurteilung von Jugendlichen nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht vorschlägt. Vergleichbar einschneidend für Adressierte kann der Beschluss des Allgemeinen Sozialen Dienstes sein, ein Kind schlussendlich aus einer Familie zu nehmen. Dazwischen gibt es viele weitere Situationen, in denen Sozialarbeitende ihren Status und damit auch ihre Macht geltend machen können, was auf das Leben Adressierter jeweils mehr oder weniger starke Auswirkungen hat (Misamer und Hennecken 2022, S. 194). Mit dem Status als Fachkraft in der Sozialen Arbeit geht also eine hohe Verantwortung einher, mit der es gilt, bewusst umzugehen. Dabei ist es wichtig, sich der Wirkung des eigenen Status bewusst zu sein, denn mit einer Machtposition gehen nicht nur positive Gefühle einher, sondern auch eine verzerrte Einschätzung der eigenen Machtnutzung. So ist man eher der Überzeugung, dass der eigene Status, mit der die eigene legitimierte Machtposition einhergeht, konstruktiver ausgeführt wird, als es tatsächlich der Fall ist. Beispielsweise schätzen Sozialarbeitende ihre eigene Machtanwendung konstruktiver ein als die ihrer eigene Berufsgruppe (Misamer 2023, S. 100). Bei einer Untersuchung von 85 Sozialarbeitenden zeigte sich, dass auch die eigene Machtsensibilität höher eingeschätzt wird, als die der eigenen Berufsgruppe (Misamer und Hennecken 2022, S. 198). Allem Anschein nach gibt es hier also machtspezifische Verzerrungen.
Diesen Effekt in der Arbeitspraxis reduzieren
Eine Möglichkeit diese Verzerrung zu reduzieren kann sein, sich bewusst zu machen, dass der eigene Status und die damit zusammenhängende Macht nicht an die eigene Person gebunden ist („Ich mache es besser als die anderen“), sondern an die Funktion von Sozialarbeitenden („Ich übe meinen Beruf gewissenhaft und für Adressierte nutzbringend aus und nur dafür sind mein Status und meine Machtposition da“, Misamer 2023, S. 140).
4.2 Mögliche Korrumpierungsmechanismen der Macht
Macht gilt als eines der letzten Tabus (Pfeffer 1992; Scholl 2007a, S. 27). Ein Tabu ist ein unhinterfragt und stillschweigend angewendetes gesellschaftliches Regelwerk, das gewisse Verhaltensweisen erlaubt oder verbietet. Als soziale Normen bleiben Tabus meist unausgesprochen und werden somit indirekt thematisiert (Zöllner 1997; Reimann 1989, S. 421 f.). Im Falle der Macht produziert die Kombination aus mehreren Faktoren das Tabu:
- Machtstreben ist ein menschlicher Wesenszug (Russell 1947, S. 7)
- Macht ist in allen sozialen Beziehungen zu finden (Christ 2010, S. 251)
- Macht ist in den Köpfen der Menschen meist etwas Negatives (Scholl 2007a, S. 28)
- Macht wird häufig negativ angewendet (Scholl 2007a, S. 33)
- Von Machtanwendung geht potenziell eine korrumpierende Wirkung aus (Kipnis 1972; Kipnis, Schmidt und Wilkinson 1980; Wang und Sun 2015; Mitchell et al. 1998)
Diese Kombination macht das Thema Macht unumgehbar und gleichzeitig hochgradig heikel. Machtstreben gilt schon seit Bertrand Russell als menschlicher Wesenszug: „Tiere hören auf zu jagen, wenn sie satt sind. Wenn der Lebensunterhalt von Menschen gesichert ist, hören sie deshalb noch nicht auf, tätig zu sein. Dieser Zug mehr zu wollen, findet sich bei jedem Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt“ (Russell 1947, S. 7). Auch Lord Acton sagte „Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely“ (Acton 1878, o. S.). Kipnis (1972, S. 34) meint/betont, dass Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschafterinnen offen sagen, dass Macht korrumpiert, also Personen dazu bringt, weniger Mächtige ungerecht zu behandeln und sie auszubeuten. Korrumpierung kann sich auf verschiedene Arten zeigen:
- Machtstreben als Selbstzweck: Die erste bezieht sich auf die Überzeugung, dass diejenigen, die Macht haben, dazu neigen sie über alle anderen Werte zu stellen und stetig nach noch mehr Macht zu streben. Die Korruption bezieht sich hier darauf, dass Macht zum Selbstzweck wird.
- Machtanwendung als Mittel zum Zweck: Die zweite Art bezieht sich auf das rücksichtslose Verhalten Mächtiger, das durch den Wunsch nach persönlichem Gewinn motiviert ist. Macht korrumpiert in diesem Zusammenhang, weil sie der mächtigen Person ein Maximum an Verlockung bietet und die Gelegenheit, die eigenen Taschen zu füllen. Macht ist hier ein Mittel zum Zweck.
- Verzerrte Selbstwahrnehmung: Die dritte Art von Korruption bezieht sich auf die Art und Weise, wie Macht die Selbstwahrnehmung der mächtigen Person und deren Wahrnehmung anderer beeinflusst. Machthabende entwickeln hier eine überhebliche und selbstherrliche Sichtweise ihres eigenen Wertes, was wiederum das Mitgefühl für andere hemmt (Kipnis 1972, S. 34).
Es wurden konkrete Stufen gefunden, wie Korrumpierung abläuft:
Stufe | Verhalten |
---|---|
1 | Die Einsatzwahrscheinlichkeit von Macht: Mit Machtzuwachs steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Selbige eingesetzt wird |
2 | Der Eindruck, Kontrolle ausüben zu können: Je mehr Macht angewendet wird, desto stärker ist der Kontrolleindruck |
3 | Die Abwertung anderer: Sich Unterwerfende werden durch die machtanwendende Person abgewertet |
4 | Die Distanzierung gegenüber anderen: Die abgewertete Person tritt in soziale Distanz zur machtanwendenden Person |
5 | Übersteigerung des Selbstwerts: Machtverfügung und -gebrauch steigern das Selbstwertgefühl der machtanwendenden Person (bis zur Übersteigerung) |
Tabelle 1 Korrumpierungsstufen (nach Kipnis 1972, S. 39 f.)
Korrumpierung zeigt sich also beispielsweise dadurch, dass verfügbare härtere Machtmittel auch ohne Notwendigkeit genutzt werden. Dies führt wiederum zu der Überzeugung, dass es sinnvoll und richtig ist, die eigene Macht genauso anzuwenden. Diese Rechtfertigung basiert auf der Abwertung anderer und Aufwertung der eigenen Person. Hierdurch findet eine Distanzierung gegenüber denen statt, auf die die Macht ausgeübt wurde. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass weiterhin Machtüberlegenheit demonstriert wird.
Diesen Effekt in der Arbeitspraxis reduzieren: den Fokus auf die Bedürfnisse der Adressierten legen
Der Fokus sollte bei der Machtanwendung nicht auf die eigenen Bedürfnisse, sondern auf die Bedürfnisse anderer gelegt werden. In diesem Fall auf die Bedarfe Adressierter. Professionelles sozialarbeiterisches Handeln basiert auf dem Wissen, dass man als Fachkraft Status und Macht hat, um sich für die Belange anderer einzusetzen.
4.3 Das Eigenwirkpotenzial von Macht
Laut Keltner, Gruenfeld und Andersen (2003) hat Macht ein hohes Eigenwirkpotenzial. Das heißt, sie wirkt bereits vor der Anwendung. Es reicht, sich vorzustellen, mächtiger zu sein als andere oder die Erinnerung an eine Situation, in der man sich mächtig fühlte, dann ändern sich die Wahrnehmung sowie die Einschätzung der Situation und in der Folge auch das Handeln (Zusammenfassung von Studien, Keltner 2016, S. 101–134). Das Eigenwirkpotenzial von Macht resultiert aus dem erhebenden Gefühl, das mit Macht bzw. einem sozialen Status einhergeht und den neuen Möglichkeiten, die zuvor nicht bestanden. Die neue Macht bzw. der neue Status wurden dabei noch nicht angewendet. Es reicht bereits das Gefühl, dass man es jetzt könnte.
Gedankenexperiment
Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie Ihr Studium abgeschlossen haben und endlich Ihre Bachelor- oder Masterurkunde in den Händen hielten. Ihre Familie war wahrscheinlich sehr stolz auf Sie, dass Sie es geschafft haben, den langen und sicher nicht immer einfachen Weg des Sozialarbeitsstudiums zu gehen und mit Erfolg – vielleicht sogar mit sehr guten Noten – abzuschießen. Endlich durften Sie sich offiziell Sozialarbeiterin bzw. Sozialarbeiter nennen. Sie hatten eine neue Ebene erreicht und ein Kapitel erfolgreich abgeschlossen.
War das nicht ein erhebendes Gefühl?
Das erhebende Gefühl an sich wäre kein Problem. Es hat sich jedoch in Studien gezeigt, dass die Empathie für andere Menschen nachlässt, wenn man sich mächtig fühlt (Handmuskelreflex-Test, Hogeveen, Inzlicht und Obhi 2014). Und Empathie für andere ist ein wichtiges Element Sozialer Arbeit.
Diesen Effekt in der Arbeitspraxis reduzieren: einen Perspektivwechsel vornehmen
Das Erlernen der Fähigkeit, einen regelmäßigen Perspektivwechsel vorzunehmen, im Sinne von: „Wie fühlt sich mein Adressat, Herr Klein, wenn ich jetzt A) oder B) in die Wege leite?“ hilft, die Situation aus dem Blickwinkel des Adressierten zu sehen und empathischer (also ohne einen solchen Perspektivwechsel) vorzugehen. Helfen könnte auch der Gedanke: „Wie würde ich mich an der Stelle von Herrn Klein fühlen, wenn jemand für mich A) oder B) in die Wege leiten würde? Fände ich das in Ordnung?“
4.4 Unterschiedliche Wahrnehmungen bei der Machtanwendung
Wenn Macht angewendet wird, dann macht es einen entscheidenden Unterschied, in welcher Position man sich befindet. Man befindet sich in der:
- Oberen Position: die Position der Person, die Macht ausübt
- Unteren Position: die Position der Person, auf die Macht ausgeübt wird
Jede der Positionen fühlt sich anders an und geht mit anderen Gedanken und Verhaltensweisen einher.
Forschende haben empirisch und theoretisch hergeleitet, wie Personen, je nach Position (obere oder untere) (1) sich selbst einschätzen (Selbstkonzept), (2) welche Emotionen sie haben, (3) welche Verhaltensweisen sie an den Tag legen und (4) wie sie in ihrem Umfeld reagieren.
Obere Position: hohes Machtpotenzial | Untere Position: niedriges Machtpotenzial |
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(1) Selbstkonzept, zum Beispiel … | |
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(2) Emotionen, zum Beispiel … | |
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(3) Verhaltensweisen, zum Beispiel … | |
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(4) Reaktionen im eigenen Umfeld, zum Beispiel … | |
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Tabelle 2 Unterschiedlichkeiten je nach Machtpotenzial (nach Keltner, Gruenfeld und Andersen 2003, untermauert durch Forschung und theoretische Herleitungen)
Diesen Effekt in der Arbeitspraxis reduzieren: Selbstreflexion und Selbstbeschränkung der eigenen Machtanwendung
Wenn Sozialarbeitende wissen, dass sie in einer Machtposition dazu neigen könnten (nicht zwangsläufig müssen), unter anderem selbstgerechter zu werden oder andere zu stereotypisieren, dann sollte hieraus die Konsequenz gezogen werden, sich bei der Arbeit mit Adressierten stetig selbst zu reflektieren. DAs bedeutet zu hinterfragen, ob das eigene Selbstkonzept, die eigenen Emotionen, Verhaltensweisen und Reaktionen im Umfeld der eigenen professionellen Haltung als Fachkraft angemessen sind. Zudem sollte im Blick behalten werden, welche Aspekte mit der Position Adressierter einhergehen können (in der Regel die Position, auf die Macht ausgeübt wird) und dementsprechend machtsensibel agiert werden, z.B. wo möglich partizipativ, einbeziehend, motivierend, unterstützend, Handlungsspielräume einräumend, um die Effekte dieser Position abzumildern.
4.5 Sozialpsychologische Fallstricke der eigenen Wahrnehmung
Unsere Wahrnehmung beinhaltet Annahmen über soziale Rollen, Personen, Gruppen und uns selbst. Diese Annahmen helfen, unsere Umwelt besser verstehen und einordnen zu können. Unser Gehirn leistet also wichtige Filterarbeit und vereinfacht so unser Handeln. Problematisch wird es jedoch an den Stellen, wo diese Wahrnehmungen falsch oder verzerrt sind und Schubladendenken und stereotype Einstellungen zu Vorurteilen führen (Jonas, Stroebe und Hewstone 2014, S. 67 f.). Es gibt empirisch fundierte Beispiele für Fallstricke der Wahrnehmung von Menschen, die die Machtanwendung beeinflussen können, von denen im Folgenden einige ausgewählte vorgestellt werden: (1) die Theorie Sozialer Identität, (2) stereotype Vorstellungen, (3) der Halo-Effekt und Vorurteile, (4) der Pygmalion-Effekt, (5) der Perseveranzeffekt und (6) der fundamentale Attributionsfehler.
4.5.1 Die Theorie Sozialer Identität
In Abschnitt 3.4 ist in der Tabelle im Teil Reaktionen im eigenen Umfeld zu lesen, dass Personen mit hohem Machtpotenzial die eigene Gruppe stärker bevorzugen, indem sie ihr zum Beispiel Ressourcen zuweisen oder andere Gruppen diskriminieren. Auch bewerten ranghöhere Personen, insbesondere ihren eigene Machtgebrauch eher positiv. Das hat sich bei Lehrkräften gezeigt (Misamer 2019a, S. 141) und auch bei Sozialarbeitenden (Misamer und Hennecken 2022, S. 198). Eine Erklärung, warum das so ist, liefert die Theorie Sozialer Identität:
In der Theorie der Sozialen Identität wird die eigene Gruppe eher favorisiert und die fremde Gruppe eher diskriminiert. Soziale Identität wird relevant, wenn Menschen sich als Mitglied einer Gruppe verstehen, wie zum Beispiel Sozialarbeitende als Teil der Disziplin und Profession Soziale Arbeit. Ein Teil des Bildes, wie man sich selbst sieht (Selbstbild), resultiert aus der Mitgliedschaft dieser Gruppe Soziale Arbeit. Somit ist diese Gruppenzugehörigkeit identitätsstiftend und auch der soziale Status, der hiermit einhergeht. Das macht die soziale Umwelt einerseits berechenbarer („Ich weiß, wo ich in meiner Gesellschaft stehe“) und andererseits schafft es ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit der eigenen Gruppe, aber auch ein Unterschiedserleben von anderen, fremden Gruppen („Hier sind wir und dort sind die anderen“). Die Gruppe der Sozialarbeitenden wünscht sich ein positives Selbstbild, wie andere Gruppen auch. Dementsprechend wird nach fachlichem Wissen, Status und Reputation gestrebt, um sich selbst und die eigene Berufsgruppe in der Arbeitspraxis gegenüber Adressierten und dem Kollegium sowie gegenüber Leistungsträgern aber auch in der Wissenschaft und Forschung professionell aufzustellen. Beispielsweise wird in Lehrbüchern, Fachartikeln, in Verbänden und in der Öffentlichkeit immer wieder darüber gesprochen, dass Soziale Arbeit stärker wahrgenommen, ernstgenommen und mehr gewürdigt werden soll. Diese Anstrengungen dienen der Aufwertung der Fachkräftegruppe Sozialer Arbeit. Angehörige der eigenen Gruppe sollen auf verschiedene Weisen positiv hervorgehoben werden, damit sie sich von Angehörigen anderer Gruppen (positiv) unterscheiden. Problematisch wird es, wenn andere Gruppen im gleichen Zuge abgewertet werden, was durchaus vorkommt. Solche Effekte lassen sich im größeren Stil bei Leistungssportarten mit großer Fangemeinde unter den Fans beobachten, zum Beispiel beim Fußball oder Baseball (Effekt nach Tajfel und Turner 1986).
Dieser Theorie entsprechend könnten sich Sozialarbeitende deshalb positiv verzerrt wahrnehmen, weil aus der Zugehörigkeit ihrer Gruppe der Sozialarbeitenden, zudem verstärkt durch ihre Machtposition gegenüber Adressierten, positive Gefühle resultieren (siehe Abschnitt 2.4, Tabellenteil Emotionen).
4.5.2 Stereotype Vorstellungen
Stereotype sind generalisierte, oft negative Vorstellungen über eine Gruppe (Jonas, Stroebe und Hewstone 2014, S. 111). Häufig zu finden sind Stereotype gegenüber:
- Frauen
- ethnischen und religiösen Gruppen
- Nicht-Heterosexuellen
- Personen eines niedrigeren sozioökonomischen Status
Hier gilt es für Sozialarbeitende, besonders achtsam bei Personen und Gruppen von Adressierten zu sein, die häufig Stereotypisierungen ausgesetzt sind. Und es gilt Verantwortung zu zeigen, wenn Personen diskriminiert werden (Misamer 2023, S. 106).
4.5.3 Der Halo-Effekt und Vorurteile
Beim Halo-Effekt wird von bekannten Eigenschaften einer Person auf weitere positive oder negative Eigenschaften dieser Person geschlossen. So entstehen Vorurteile über Personen(-gruppen, Jonas, Stroebe und Hewstone 2014, S. 67 f.). Beispielsweise können Namen Vorurteile hervorrufen. Wenn Personen Namen haben, die eher als modern wahrgenommen werden, werden sie gleichzeitig eher als attraktiver und jünger eingeschätzt. Personen mit zeitlosen Namen wie Hannah oder Maria werden als intelligenter eingeschätzt. Sozialarbeitende könnten in der Konsequenz womöglich (unbewusst) Unterschiede im Umgang mit Adressierten machen, wenn etwa jemand Hannah heißt im Vergleich dazu, wenn jemand den Namen Kevin trägt (Misamer 2023, S. 107).
4.5.4 Der Pygmalioneffekt
Erwartungen können durch das eigene Verhalten bestätigt werden. In einer Untersuchung zeigte sich dieser Effekt im schulischen Bereich. Hier war es so, dass gute oder schlechte Leistungen von Schülerinnen und Schülern durch die Erwartungen ihrer Lehrkräfte (ob die Schülerinnen und Schüler gute oder schlechte Leistungen zeigen würden) beeinflusst wurden. Die Erwartungen der Lehrkräfte hatte also überraschenderweise einen Einfluss auf die Leistungsergebnisse der Schüler und Schülerinnen (Rosenthal und Jacobson 1968). Wird dieser Effekt auf den Sozialarbeitskontext übertragen, könnte genau das eintreten, was vorher von Sozialarbeitenden erwartet wurde. Was Sozialarbeitende über Adressierte denken, könnte sich durch positive oder negative Urteile oder andere Einstellungen, konkret auf die Adressierten auswirken. Wird etwa negatives Verhalten erwartet und sich abwartend kritisch verhalten, könnte das Gegenüber genau diese Erwartung bestätigen, weil der Boden hierfür bereits durch die Erwartung Sozialarbeitender bereitet wurde. Umgekehrt könnten sich positive Erwartungen jedoch auch positiv auswirken. Wenn beispielsweise Vertrauen entgegengebracht wird und positive Angebote gemacht werden. Das überrascht und räumt den Spielraum ein, zu zeigen, dass zu Recht positive Erwartungen unterstellt wurden. Die Macht, die Einschätzungen von Sozialarbeitenden auf Adressierte haben, sollte nicht unterschätzt werden (Misamer 2023, S. 108).
4.5.5 Der Perseveranzeffekt
Der Perseveranzeffekt zeigt, dass Informationen weiterwirken können, selbst wenn sie als falsch entlarvt wurden (Ross, Lepper und Hubbard 1975). So kann eine Falschinformation das Urteil z.B. über eine Person weiterhin beeinflussen, sodass später dazukommende Informationen die bereits entwickelte Meinung über diese Person kaum noch ändern können. So könnte im Raum stehen, dass ein Jugendlicher oder eine Jugendliche etwas geklaut hat. Später erweist sich, er bzw. sie hat es nicht getan. Dennoch taucht ab jetzt das Thema Klauen im Kopf auf, wenn man an den/die Jugendliche(n) denkt. Das könnte für diese Person in späteren Situationen zum Nachteil werden, weil in der Zukunft schneller ähnliche Vermutungen angenommen werden könnten. Der Perseveranzeffekt kann durch die asymmetrische Beziehungsstruktur zwischen Sozialarbeitenden und Adressierten noch verstärkt werden. Denn häufig besteht eine einseitige Abhängigkeit Adressierter von Sozialarbeitenden, wodurch ein solches falsches Urteil möglicherweise noch mehr Gewicht bekommt und sich noch nachteiliger auf Adressierte auswirkt. Diese Verzerrung kann eine Erklärung dafür liefern, warum sich Personen ihrer eigenen Vorurteile durchaus (kritisch) bewusst sein können, sie aber dennoch danach handeln. Als Konsequenz sollte bei der Beurteilung von Adressierten besonders achtsam vorgegangen werden. Insbesondere, wenn einmal eine Vermutung im Raum stand, die sich schlussendlich nicht bewahrheitet hat. Dann ist darauf zu achten, dass diese falsche Information nicht weiter in die Beurteilung einfließt (Misamer 2023, S. 108 f.).
4.5.6 Der fundamentale Attributionsfehler
Eine Verzerrung, die im Zusammenhang mit Machtanwendung problematisch werden kann, ist der fundamentale Attributionsfehler. Hier geht es um die Tendenz, unerwünschtes Verhalten anderer Personen auf deren Persönlichkeit zurückzuführen und nicht auf die jeweiligen Umstände, in der sich die Person aktuell befindet. Dieser Fallstrick unserer Wahrnehmung kommt zustande, weil Menschen überdauernde Ursachen (wie die Persönlichkeit) als Erklärung bevorzugen. Zudem sind Umstände der Situation schwerer zu überblicken. In der Regel wird nach möglichst einfachen Erklärungen für ein Verhalten gesucht. Damit werden jedoch Umstände der Situation als Einflussfaktoren für ein Verhalten unterschätzt. Gerade extreme Verhaltensweisen, wie Gewalt oder Drogenkonsum, werden häufig auf die Persönlichkeit zurückgeführt (Jonas, Stroebe und Hewstone 2014, S. 92). So kommt beispielsweise der/die Jugendliche zu spät zu einem Termin und man vermutet gemäß dem fundamentalen Attributionsfehler eher, dass er/sie eine unpünktliche Person ist, statt anzunehmen, dass die Busanbindung problematisch gewesen sein könnte. Dasselbe gilt, wenn sich vor der Einrichtung geprügelt wird oder Absprachen nicht eingehalten werden. Es gäbe noch viele weitere Beispiele. So werden Adressierte schneller negativ gelabelt. Wenn aber zunächst situationsbezogene und soziale Umstände unterstellt werden würden, hätten Adressierte die Möglichkeit zu zeigen, dass sie unter anderen Umständen anders handeln. Und selbst wenn Adressierte die positive Unterstellung zunächst selbst nicht so sehen, haben sie dennoch jetzt die Möglichkeit, diese Deutung für sich anzunehmen mit der zukünftigen Chance, danach zu handeln. Es wird also eine Türe geöffnet, die für beide Seiten Sozialarbeitende wie auch Adressierte konstruktivere Handlungsspielräume eröffnet. Eine Ursachenzuschreibung auf die Umstände und nicht auf die Person ermöglicht eher eine Verhaltensänderung (Misamer 2023, S. 109 f.).
Diese Effekte in der Arbeitspraxis reduzieren
Fallstricke der eigenen Wahrnehmung haben alle Menschen mehr oder weniger. Wichtig ist hier, sich eigener Wahrnehmungsverzerrungen bewusst zu sein und sie nicht in die Handlungen mit Adressierten einfließen zu lassen.
5 Machtsensibilität
Die ersten Schritte hin zur Entwicklung einer Machtsensibilität sind (1) Macht als zunächst neutrales Potenzial zu begreifen (Argyle 1990), das auf die eine oder andere Weise angewendet werden kann und das Eingeständnis, dass der Wille zur Macht, wie Bertrand Russell (1947) bereits sagte, ein (2) menschlicher Wesenszug ist. Jeder Mensch strebt mehr oder weniger nach Macht und das ist ein Tabuthema. Dieses Tabu muss gebrochen werden, um eine Basis für eine Sensibilisierung für die eigene Machtnutzung zu schaffen. Als Nächstes geht es darum, (3) ein Wissen um machtspezifische und sozialpsychologische Wahrnehmungsverzerrungen zu entwickeln, die mit einer Machtposition einhergehen können wie …
- eine verzerrte (eher zu positive) Einschätzung der eigenen Machtnutzung, die mit dem eigenen Status verbunden ist
- mögliche Korrumpierungsmechanismen, die mit Macht einhergehen können
- das Eigenwirkpotenzial von Macht, denn Macht wirkt bereits vor ihrer Nutzung
- divergierende Wahrnehmungen der Machtanwendung je nach Standpunkt
- eine Vielzahl von sozialpsychologischen Fallstricken der eigenen Wahrnehmung
Als Nächstes wird ein Anker benötigt, an dem die eigene professionelle Machtnutzung ausgerichtet und an der sich in Zweifelsfragen orientiert werden kann. Das sind empirisch nachgewiesene, (Misamer, Hackbart und Thies 2017, S. 453 f.; Misamer und Hennecken 2022, S. 198) sinnvollerweise (4) (berufs-)ethische Prinzipien und hier insbesondere solche, die man selbst als besonders wichtig erachtet (denn dann ist die persönliche Identifikation mit diesen Prinzipien im Berufsalltag potenziell am höchsten, vgl. Omer und von Schlippe 2016). Die Kombination aus dem Wissen über Macht und ihre Dynamiken, der Bewusstwerdung eigener machtspezifischer und sozialpsychologischer Wahrnehmungsverzerrungen und einem Klarwerden darüber, welche (berufs-)ethischen Prinzipien persönlich als besonders wichtig erachtet werden, erlaubt eine prinzipienbasierte Reflexion der eigenen Machtnutzung – es entwickelt sich eine Machtsensibilität (Misamer 2023, S. 99).
Stetiger Reflexionsprozess
Dieser Prozess ist nicht irgendwann abgeschlossen, wenn genug über Macht und ihre Dynamiken gelernt wurde. Vielmehr muss immer wieder aufs Neue geprüft und abgesichert werden, dass die Machtnutzung konstruktiv ist und bleibt. Die eigene Machtnutzung wird also einem stetigen Reflexionsprozess unterzogen, damit professionell im Sinne der (berufs-)ethischen Prinzipien und zum Nutzen von Adressierten agiert wird. Konsequente konstruktive Machtnutzung hat diverse positive Auswirkungen auf Adressierte aber auch auf die Professionellen selbst, sodass die konsequente Selbstreflexion und Ausrichtung auf konstruktive Machtnutzung nicht nur ideeller Natur und damit ein ‚Nice-to-Have‘ ist, sondern sich konkret und auf verschiedenen Ebenen lohnt (Misamer 2023, S. 99 f.).
5.1 Warum ist das Bewusstsein um das eigene Machthandeln wichtig?
Es gibt vielfältige Argumente, die für die Entwicklung einer Machtsensibilität im Arbeitsalltag von Sozialarbeitenden – besser aber noch von Beginn des Studiums an – sprechen. Im Folgenden sollen einige davon aufgeführt werden (Misamer 2023, S. 199).
5.1.1 Der Verantwortung gegenüber Adressierten gerecht werden
Sozialarbeitende sind durch ihr Studium legitimiert, Adressierte „zu unterstützen, sie zu leiten und zum Teil schwerwiegende Entscheidungen für sie zu treffen“ (Misamer 2020, S. 4). Mit dieser Macht gegenüber oft besonders vulnerablen Personen(-gruppen) geht eine hohe Verantwortung einher, mit der bewusst umgegangen werden muss. Eben weil diese Entscheidungen prägend für das weitere Leben Adressierter sein können. Die Begründung und Grenzen der eigenen Machtanwendung sind damit von großer Bedeutung. Beispielsweise dort, wo der Wille Adressierter, obwohl Berücksichtigung möglich wäre, übergangen oder nicht berücksichtigt wird. Oder dort, wo eigene Präferenzen (z.B. Prozesse zu vereinfachen, abzukürzen oder bündig abzuschließen) zum Nachteil Adressierter in den Vordergrund gestellt werden. Aber auch dort, wo nicht gehandelt wird, obwohl Handeln angezeigt wäre, z.B. aus Gründen der Zivilcourage (ebd.).
5.1.2 Sich selbst vor Machtmissbrauch schützen
Eine selbstkritische und ehrliche persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Macht ist wichtig, um herauszufinden, welche Positionen für Sozialarbeitende legitimierbar sind und wo die persönlichen Grenzen für Machtanwendung gegenüber Adressierten liegen. Hier geht es um die fundamentalen Fragen, wo eigene ethische Grenzen liegen und mit welchen Argumenten diese vor sich selbst begründet werden. Und auch, wo man sich im Gefüge der Machtspektren zwischen konstruktiv und destruktiv verortet und aus welchen Gründen man sich dort verortet. Diese Fragen beantworten zu können, heißt, die eigene Arbeit und das eigene Machthandeln klar begründet vor sich selbst und (wenn gefragt wird, auch vor anderen) legitimieren zu können. Eine solche Klarheit gegenüber der eigenen Position und dem eigenen Machthandeln kann vor einer Überreaktion schützen. Diese kann insbesondere zu Beginn der Tätigkeit als Sozialarbeiterin bzw. Sozialarbeiter durch den neu hinzugekommenen Status auftreten und damit die Wahrscheinlichkeit von Machtmissbrauch steigern. Denn Macht kann, nach Kipnis (1972), das Selbstwertgefühl steigern, bis hin zur Übersteigerung. Das Setzen von Grenzen, aber auch das bewusste konstruktive Anwenden von Macht kann also – vor allem zu Beginn der beruflichen Laufbahn – vor Machtmissbrauch schützen. Dementsprechend ist es wichtig, den eigenen Standpunkt zur Macht und auch die Wahl der angewendeten Handlungsweisen zu begründen (Misamer 2020, S. 6). Ein Wegweiser und ein Anker in Zweifelsfragen können die berufsethischen Prinzipien der DBSH (2014, S. 34), eigene als sehr wichtig erachtete Prinzipien (wie z.B. den kategorischen Imperativ) und auch die Leitlinien der Einrichtung, in der Sozialarbeitende beschäftigt sind, sein.
5.1.3 Das Vorbildverhalten für Adressierte
Ein gutes Beispiel sein
Das gute Beispiel ist nicht nur eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen. Es ist die Einzige (Albert Schweitzer).
Ist eine stabile Haltung zur konstruktiven Machtanwendung ausgebildet und wird diese in der Interaktion mit Adressierten konsequent an den Tag gelegt, bietet sich für Adressierte die Chance, am positiven Modell des Sozialarbeiters bzw. der Sozialarbeiterin zu lernen. Und ebenfalls beispielsweise besonders gerecht, transparent oder anderes zu sich, den eigenen Kindern oder dem Umfeld zu sein, weil dies am Sozialarbeiter bzw. an der Sozialarbeiterin wahrgenommen und als besonders positiv bewertet wurde. Dabei ist es nicht relevant, dass die Prinzipien, für die man steht, aktiv kommuniziert werden. Man fand heraus, dass Personen sich stärker am Verhalten als an mündlich ausgesprochenen Verhaltensregeln orientieren (Bleakley, Jordan und Hennessy 2013). Gemäß Bandura (1971) kann an einem Rollenvorbild konstruktives Verhalten erlernt werden. So können Sozialarbeitende aktiv als Rollenvorbild fungieren, das Adressierten helfen kann, am positiven Beispiel zu lernen. Sozialarbeitende haben in ihrer Funktion als Rollenvorbild eine verantwortungsvolle Aufgabe: Ihr eigenes beispielsweise konstruktives Verhalten wird nach einer gewissen Zeit bewusst oder unbewusst nachgeahmt. Ein Verhalten wird eher nachgeahmt, wenn dieses auf positive Rückmeldungen durch andere oder auf Erfolg stößt. Hiervon kann bei konstruktivem Verhalten ausgegangen werden. So gesehen ist Konstruktivität wie geschaffen für Verstärkungseffekte aufseiten Adressierter. Denn das beobachtete Verhalten Sozialarbeitender wird zunächst einmal imitiert, bis die Verhaltensweise erlernt wurde und sich irgendwann verfestigt. Zudem führen nach Hoffmann (1979) vorgelebte positive Verhaltensweisen dazu, dass auch damit einhergehende Werte und Normen eher verinnerlicht werden.
5.1.4 Die Multiplikatorfunktion für (neue) Kollegen und Kolleginnen
Durch den Effekt des Lernens am Modell in Kombination mit der höheren Wahrscheinlichkeit einer Verinnerlichung von Werten und Normen, kann konstruktives Vorbildverhalten nicht nur auf Adressierte in positiver Weise wirken, sondern auch auf das Kollegium. Insbesondere, wenn sie gerade neu in die Arbeitswelt einsteigen und Orientierung suchen, um ihre eigene professionelle Haltung auszubilden und zu erproben. Hier können erfahrene Sozialarbeitende mit einer Haltung, die eine reflektierte und konstruktive Machtanwendung vorlebt, als Multiplikatoren und Multiplikatorinnen in positiver Weise fungieren.
5.1.5 Den unterschiedlichen Anforderungen besser gerecht werden
Um dem Spannungsbogen zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und den individuellen Bedürfnissen Adressierter – obwohl nicht immer optimal miteinander vereinbar – in möglichst hohem Maße gerecht zu werden, sollten Sozialarbeitende im Zweifel nicht aktuelle persönliche Präferenzen, sondern ihre professionelle Haltung (mit ihrem menschenrechtsorientierten Fundament) und ihre begründete Position zur konstruktiven Machtanwendung als Grundlage heranziehen, um die bestmögliche Lösung im Sinne aller Seiten zu finden. Denn im Gegensatz zu persönlichen Präferenzen (die jede Person hat), ist der eben beschriebene Fokus abstrakter und berücksichtigt mehr Aspekte und Blickwinkel. Zu den gesellschaftlichen Anforderungen gehört es beispielsweise, eine Integration Adressierter in die Gesellschaft zu erreichen, etwa eine Anpassung an den Arbeitsmarkt, was zuweilen den Bedürfnissen oder Wünschen Adressierter widersprechen kann (Misamer 2020, S. 6). Hier gilt es, nach Win-Win-Optionen Ausschau zu halten. Wenn das nicht möglich ist, sollte nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht werden, um hier eine Brücke zu schlagen (Misamer 2023, S. 122).
5.2 Machtsensibilität als Korrektiv für das Machthandeln
Machtsensibilität als konstitutive Empfindsamkeit gegenüber der Machtanwendung hilft dabei, restriktive Strukturen und Muster frühzeitig wahrzunehmen und mit konstruktiven Strategien entgegenzuwirken. Hierdurch wird eine höhere Handlungssicherheit in der Arbeitspraxis entwickelt. Indem Sozialarbeitende sich ein Bewusstsein für das Machtthema und die damit verbundenen Dynamiken und Auswirkungen erarbeiten, können sie ihre eigenen Machthandlungen besser in die gewünschte Richtung kanalisieren. Das wiederum stärkt ihre Handlungssicherheit, weil Klarheit darüber besteht, welcher Status, welche Handlungsoptionen und Konsequenzen mit der eigenen Position verbunden sind. So können mit der Zeit das eigene Handeln, aber auch die Reaktion des Gegenübers besser eingeschätzt und vorhergesehen werden (Misamer 2020, S. 6). Um sich effektiv für Adressierte positionieren zu können, müssen Sozialarbeitende in erster Linie vor sich selbst rechtfertigen, aus welchem Grund sie eine Funktion für Adressierte übernehmen wollen. Für eine Begründung können sich Sozialarbeitende beispielsweise Vorteile konstruktiver Handlungen (einerseits für die eigene Person und auch für Adressierte) klarmachen, z.B. höhere Partizipation, Motivation, Selbstwirksamkeit oder geringere soziale Abweichung, wie es sich bei Misamer (2019a, S. 163) bereits für den Schulkontext gezeigt hat.
Wie geht es weiter?
Wenn der eigene Standpunkt einmal begründet ist – gemäß den berufsethischen Prinzipien Sozialer Arbeit und in seiner positiven Intention für die konstruktive Machtanwendung – stellt sich die Frage: Was ist nötig, um konstruktiv zu sein und stabil konstruktiv zu bleiben?
Das ist nach Sartre und Kant der Inbegriff des erklärt freien Willens. In diesem Fall für die konstruktive Machtanwendung mit Verzicht auf restriktive Machtanwendung (Misamer 2020, S. 6 f.).
5.3 Konstruktivität als Korrektiv für das Machthandeln
Es gibt konkrete Verhaltensweisen gegenüber Adressierten, die aus Sicht von Sozialarbeitenden als konstruktive Machtanwendung in der Arbeitspraxis gelten, die also im Sinne der berufsethischen Prinzipien zum Nutzen und mit einem Gewinn für Adressierte verbunden sind. Gleichzeitig gibt es konkrete Verhaltensweisen, die als destruktive Machtanwendung gelten, die also explizit nicht zum Nutzen oder sogar zum Schaden Adressierter sind:
Konstruktive Machtanwendung steht unter anderem mit diesen positiven Aspekten in Zusammenhang:
- Zufriedenheit
- Vergrößertes Potenzial, Probleme (gemeinsam) zu lösen
- Motivation (Scholl 2007b, S. 19)
Ohne diese Aspekte wäre eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Adressierten deutlich schwieriger. In Zusammenhang mit destruktiver Machtanwendung stehen diese negativen Aspekte:
- Weniger Partizipation
- Weniger Effektivität
- Es wird weniger Neues gelernt (Scholl 2007b, S. 17)
Wolfgang Scholl aus der Führungsforschung zusammenfassend zur destruktiven Machtanwendung:
Sie „schädigt zunächst einmal die Betroffenen, erzeugt bei ihnen Frustration, gefolgt von Widerstand oder – wenn sie keine Chance zur Gegenwehr mehr sehen – Hilflosigkeit und Apathie (…). Die Machtausübenden verlieren nicht nur mögliche Kooperationspartner, sie werten sie zur Rechtfertigung auch noch ab (und sich auf) und lernen wenig, weil sie Ihnen nicht mehr zuhören. Machtausübung behindert so die Wissensproduktion und senkt die Effektivität des sozialen Systems, in dem beide leben“ (Scholl 2013, o. S.).
Daher sind ergänzende objektivierte Einflüsse und Regularien (z.B. die berufsethischen Richtlinien der DBSH) sinnvoll und können die Machtanwendung in Richtung partizipativer Handlungsoptionen beeinflussen und präventiv gegen Machtmissbrauch wirken (Misamer und Scholl 2021, S. 181 f.)
5.4 Prinzipien als Korrektiv für das Machthandeln
Die aktive Entscheidung für Prinzipien, an der die eigene Machtnutzung ausgerichtet wird, ist ein logischer Schluss zum Selbst- und Fremdschutz hinsichtlich der Machtanwendung. Er resultiert aus dem Wissens-, Bewusstwerdungs- und Reflexionsprozess der Machtsensibilisierung, in dem abgewogen wird, welchen Mechanismen eine Machtanwendung folgt, welche Prozesse mit ihr einhergehen und welche Effekte durch sie losgetreten werden können. Und welche Wirkungen und Konsequenzen sie für die eigene Person, aber auch für andere haben können. Die Wirkung von konstruktiver Machtanwendung ist in der Regel positiv und die Konsequenzen von destruktiver Machtanwendung negativ (auf lange Sicht gesehen) für alle Seiten. Die Prinzipien dienen hier als Anker, um das eigene Machthandeln im Zweifel daran ausrichten zu können.
Verantwortungsvolles Handeln durch advokatorische Ethik
„Das Missbrauchsrisiko kann nur reflektiert, überwacht und kontrolliert werden. Dafür ist eine Selbstbeschränkung […] in der Wahl ihrer Methoden und Ziele erforderlich. Diese findet sich in der advokatorischen Ethik“ (Plaßmann 2003, S. 300).
Es braucht eine kritische und transparente Auseinandersetzung mit den eigenen Positionen innerhalb des Machtspektrums. Damit einher geht die Frage danach, wo man sih im Gefüge der Machtspektren von konstruktiv bis destruktiv selbst verortet und warum. Eine Anschlussfrage ist, welche Machtpositionierung und daraus resultierende Handlungen für die eigene Person legitimierbar sind und wo die persönlichen Grenzen liegen, die man nicht überschreiten will. Bereits das verringert die Wahrscheinlichkeit von Machtmissbrauch (Misamer 2023, S. 145).
6 Forschung zur Machtsensibilität
Die Forschung rund um das Thema Machtsensibiliät hat:
- Machtsensibilität bei Sozialarbeitenden erfasst (Misamer und Hennecken 2022)
- Zusammenhänge zwischen Machtsensibilität und der Machtanwendung in der Arbeitspraxis erfasst (ebd.)
- Zusammenhänge zwischen Machtsensibilität und (berufsethischen) Prinzipien erfasst (ebd.)
- Ein machtsensibles Fachgespräch mit einer langjährigen Führungskraft aus der Sozialen Arbeit zum Umgang mit Macht in der Arbeitspraxis befragt und Praxisimplikationen abgeleitet (Misamer und Albrecht 2023)
- Ein Screening entwickelt, mit dem Sozialarbeitende und Studierende Sozialer Arbeit ihre Machtsensibilität messen (und auf Wunsch auch eine Entwicklung derselben bestimmen) können (Misamer 2024, Eintrag zu Machtsensibilität im socialnet Lexikon )
- Best-Practice-Beispiele zum machtsensiblen Umgang mit Adressierten in der Praxis erfasst, sowie deren Auswirkung auf Adressierte und die Sozialarbeitenden selbst (Misamer 2025 i.V.)
Erste Messung von Machtsensibilität, Zusammenhänge mit Machtanwendung und Prinzipien sowie Prüfung eines machtspezifischen Verzerrungseffekts
In einer explorativen Mixed-Methods-Studie zur Machtsensibilität mit 85 Sozialarbeitenden wurde untersucht:
- Ob sich Machtsensibilität bei Sozialarbeitenden empirisch messen lässt (also, ob bei Sozialarbeiten eine Sensibilität für die eigene Machtanwendung vorhanden ist) und ob diese erste Skala zur Messung der Machtsensibilität, die hierfür genutzt wurde und die die Aspekte Status, Korrumpierung, Eigenwirkpotenzial, unterschiedliche Wahrnehmungen und Wahrnehmungsverzerrungen beinhaltet, reliabel ist.
- Ob Machtsensibilität mit der eingeschätzten Wichtigkeit berufsethischer Prinzipien in Zusammenhang steht.
- Ob Sozialarbeitende ihre eigene Machtsensibilität höher einschätzen als die ihrer Berufsgruppe (wegen der an anderer Stelle gefundenen Verzerrungseffekte bei der Einschätzung der eigenen Macht).
- Welche konstruktiven und destruktiven Machthandlungen von Sozialarbeitenden identifiziert werden.
Im Ergebnis zeigte sich (1), dass Machtsensibilität bei Sozialarbeitenden messbar ist: Die Befragten schätzten ihre eigene Machtsensibilität mit 7.90 von möglichen 10 im oberen Drittel ein. Die hierfür genutzte Skala wies eine akzeptable Reliabilität auf (α=.79). Die (2) Wichtigkeit der Einhaltung berufsethischer Prinzipien wurde hoch eingeschätzt (9.4 von möglichen 10) und stand mit der Machtsensibilität in signifikant positivem Zusammenhang (r=.229*). Die Sozialarbeitenden schätzten (3) die Machtsensibilität ihrer Berufsgruppe mit 6.69 signifikant geringer ein als ihre eigene (7.9, p<.000). Zudem zeigten sich (4) 5 Kategorien konstruktiver (wie das Nutzen der professionellen Beziehung im Sinne der Adressierten) und 7 Kategorien destruktiver Machtanwendung (wie mutwilliges Verschweigen von Informationen, Misamer und Hennecken 2022).
Differenzierung der entwickelten Machtsensibilitätsskala, Erfassung von Gründen für Machtanwendung und erneute Überprüfung der Zusammenhänge mit Machtanwendung und Prinzipien an einer größeren Stichprobe
In einer weiteren Studie mit 224 Sozialarbeitenden und 103 Studierenden Sozialer Arbeit wurde die in der o.g. Studie genutzte Skala zur Messung der Machtsensibilität differenziert. Auch hier wurden die eigene und die eingeschätzte Machtsensibilität der Berufsgruppe abgefragt, die Wichtigkeit von Prinzipien. Diese Ergebnisse werden mit den Ergebnissen der Untersuchung 1 verglichen, damit ausgeschlossen werden kann, dass punktuelle Befragungen verzerrte Ergebnisse liefern. Es zeigen sich ähnliche Trends. Zudem wurde in dieser Studie noch nach Gründen für Machtanwendung gefragt. Hier zeigte sich, dass 21,4 % der Befragten einschätzten, dass sie zu wenig Macht besitzen. Offene Antworten zu dieser Frage deuteten darauf hin, dass diese Fachkräfte vor allem das Gefühl haben, gegenüber dem System nicht genug Macht zu haben, um positive Veränderungen für die Adressierten zu bewirken. 59,7 % gaben an, sie hätten genug Macht, und 12,3 % meinten, eher zu viel Macht zu besitzen (1,1 % machten keine Angaben). Als Gründe für ihre Machtanwendung wählte ca. ein Drittel die Antwort, „weil Machtanwendung möglich ist“ und zwei Drittel, „um anderen zu nutzen“. Insofern sind sich die meisten Fachkräfte bewusst, dass ihre Macht primär zum Nutzen der Adressierten eingesetzt werden sollte und nicht, weil deren Gebrauch möglich ist. Dieses Bewusstsein schützt sie davor, von ihrer eigenen Macht korrumpiert zu werden. Studien zeigen, dass die Anwendung von Macht um ihrer selbst willen darauf hinweisen kann, dass die Gefahr besteht, die Macht letztendlich nicht mehr zugunsten anderer, sondern zum eigenen Vorteil und potenziell gegen andere einzusetzen. In solchen Fällen greifen die spezifischen, sozialpsychologischen Fallstricke der Macht und verändern den Umgang mit ihr.
Die differenzierte Skala zur Messung von Machtsensibilität liefert gute bis zufriedenstellende Reliabilitäten für Sozialarbeitende und Studierende Sozialer Arbeit, weshalb hieraus ein Screening zur Messung der eigenen Machtsensibilität jeweils für Sozialarbeitende und Studierende entwickelt wurde mit einer einfachen Anleitung und Auswertungshinweisen zur unkomplizierten Anwendbarkeit in Hochschule und Arbeitspraxis (Misamer 2024).
Machtsensibles Fachgespräch mit einer langjährigen Führungskraft aus der Sozialen Arbeit
Intervention bei Machtmissbrauchsfällen In einem Interview berichtete eine Führungskraft in ihrer Funktion als Jugendamtsleiterin von beobachteten Missständen im Umgang mit Macht, die zu disziplinarischen Maßnahmen führten. Insbesondere erfahrene Mitarbeitende zeigten aus ihrer Sicht eine Tendenz, ihre Entscheidungsbefugnisse hervorzuheben und Macht über die Lebensumstände der Adressierten auszuüben. Dies äußerte sich beispielsweise in problematischen und übergriffigen Entscheidungen wie Restriktionen bezüglich Essen oder Schlafen von Kindern in Kitas, um die Gruppen leichter handhabbar zu machen. Diese Fachkräfte, so die Interviewte, rechtfertigten ihr Handeln häufig mit Stress und pauschalen Aussagen. Eltern wurden teilweise Informationen oder Beratungen vorenthalten, wenn sie zuvor als nicht kooperativ eingestuft worden waren. Dies verstieß gegen die Beratungspflicht und wurde von der Leitung als Machtmissbrauch eingestuft und entsprechend nicht toleriert. Die Führungskraft verfolgte einen strukturierten und persönlichen Ansatz zur Bewältigung von Machtmissbrauchsfällen. Dazu gehörte die direkte Übergabe von Abmahnungen und das anschließende persönliche Gespräch mit den betroffenen Sozialarbeitenden. Standards für zukünftiges Verhalten wurden besprochen und schriftlich festgehalten. Reflexionsbögen wurden entwickelt, um in zukünftigen machtkritischen Situationen genutzt zu werden, wobei den Sozialarbeitenden die Möglichkeit gegeben wurde, sich aus der Situation zurückzuziehen. Diese Maßnahmen wurden gut angenommen und führten zu einer veränderten Fehlerkultur. Die erarbeiteten Standards wurden kontinuierlich weiterentwickelt und regelmäßig in Audits kommuniziert, auch gegenüber neuen Mitarbeitenden. Dies half, eine Kultur zu etablieren, in der niemand etwas verheimlichen musste oder sich überfordert fühlte. Zusätzlich wurde eine Stelle für Qualitätsmanagement geschaffen, um diesen Prozess zu unterstützen (Misamer & Albrecht, 2023).
Best-Practice-Beispiele zum machtsensiblen Umgang mit Adressierten in der Praxis
Aktuell befinden sich 20 leitfadengestützte Interviews in der Auswertung. 20 Sozialarbeitende, die mindestens 5 Jahre in der Arbeitspraxis beschäftigt sind wurden gebeten, Situationen zu schildern, in denen sie selbst machtsensibel mit Adressierten umgegangen sind oder dies bei anderen Sozialarbeitenden beobachtet haben. Eine weitere Frage war, welche Auswirkung dieser machtsensible Umgang auf die Adressierten und sie selbst hatte. Die Sammlung und Systematisierung von Best-Praxis-Beispielen sollen der Arbeitspraxis und der akademischen Ausbildung helfen, eine Brücke vom theoretischen Konstrukt der Machtsensibilität hin zu praktisch gelebten machtsensiblen Umgang in der Praxis Sozialer Arbeit zu schlagen.
7 Das Screening zur Erfassung von Machtsensibilität
Das Screening zur Erfassung von Machtsensibilität besteht aus 9 Fragen für Sozialarbeitende und 6 Fragen für Studierende Sozialer Arbeit. Es findet sich zum einen in der Ausgabe 1/2024 der Zeitschrift FORUM sozial und im Lexikonbeitrag zum Thema Machtsensibilität.
8 Fazit
Ohnmachtsgefühle gehen mit psychosozialen Belastungen einher, die veranschaulichen, dass Ohnmacht auch langfristig negative Folgen auf den Körper und die Psyche nach sich ziehen kann. Diese Folgen sind kaum zu unterschätzen und der Preis, der hierfür gezahlt wird, ist hoch. Ohnmacht resultiert nicht selten daraus, dass andere von ihrer Macht – durch die vielen Fallstricke, die potenziell von der Macht ausgehen – korrumpiert wurden und sie dann auf destruktive Weise eingesetzt haben (Keltner 2016). Deshalb ist eine Sensibilisierung für Macht und deren Auswirkungen notwendig, am besten bereits im Rahmen des Studiums Sozialer Arbeit, bevor der Status als Sozialarbeiterin bzw. Sozialarbeiter erworben wurde. Machtsensibilität ist ein (bisher in Teilen) evidenzbasiertes Handlungskonzept für pädagogische und sozialarbeiterische Interaktionen, das in machtasymmetrischen Situationen den ‚schwächeren Part‘ absichert und partizipativ stärkt. Die Basis hierfür ist eine neue und interdisziplinär orientierte Idee von Macht und ihren Dynamiken. Machtsensibilität beschreibt eine konstitutive (= grundlegende, fundamentale) Empfindsamkeit gegenüber der Machtanwendung. Machtsensibilität beinhaltet ein Wissen um:
- den eigenen Status
- mögliche Korrumpierungsmechanismen
- das Eigenwirkpotenzial von Macht
- unterschiedliche Wahrnehmungen der Machtanwendung je nach Standpunkt
- sozialpsychologische Fallstricke der eigenen Wahrnehmung (Misamer und Hennecken 2022, S. 197).
Die Sensibilisierung gegenüber der eigenen Macht(-anwendung) erfordert stetige (Selbst-)Reflexion. Dieser Reflexionsprozess ist nicht irgendwann abgeschlossen, beispielsweise, wenn genug über Macht und ihre Dynamiken gelernt wurde. Vielmehr müssen die eigenen Machthandlungen immer wieder geprüft werden, um abzusichern, dass die Machtnutzung konstruktiv (im Sinne der berufsethischen Prinzipien zum Nutzen und mit einem Gewinn für Adressierte) ist und bleibt.
9 Literaturverzeichnis
Acton, J. E. E. D., 1878. Acton-Creighton Correspondence. [Zugriff am: 22.02.2023]. Verfügbar unter: https://oll.libertyfund.org/title/​/acton-acton-creighton-correspondence
Argyle, Michael, 1990. Soziale Beziehungen. In Wolfgang Stroebe, Miles Hewstone, Jean-Paul Codol & Geofrey Stephenson Hrsg., Sozialpsychologie. Eine Einführung. Berlin: Springer, S. 232–257. ISBN: ISBN 978-3-662-09958-2
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Der Beitrag wurde am 05.06.2024 aktualisiert.
Verfasst von
Prof. Dr. Melanie Misamer
Professorin für Methoden und Konzepte Sozialer Arbeit in der Gesundheitsförderung
HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen
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https://orcid.org/0000-0002-8811-7451
Es gibt 2 Materialien von Melanie Misamer.
Zitiervorschlag
Misamer, Melanie, 2023.
Machtsensibilität [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 09.03.2023 [Zugriff am: 03.10.2024].
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