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Pädagogische Professionalität und subjektive Theorien: Lernen und pädagogisches Handeln im Kindergarten

Prof. Dr. Tanja Brandl-Götz

veröffentlicht am 06.03.2023

Pädagogische Professionalität entwickelt sich nicht wie überwiegend angenommen aus der Reflexion wissenschaftlicher Theorien. Entscheidend rückt darum das subjektiv-biografische Verständnis von Lernen und pädagogischem Handeln pädagogischer Fachkräfte als Grundlage für die pädagogische Qualität in Kindertageseinrichtungen sowie die Professionalisierungsdebatte in der Frühpädagogik in den Mittelpunkt.

Inhalt

  1. 1 Theoretische und empirische Grundlage: das Forschungsprojekt „Kindliches Lernen und pädagogisches Handeln – Subjektive Theorien angehender KindheitspädagogInnen“
  2. 2 Pädagogische Professionalität in kindheitspädagogischen Studiengängen
  3. 3 Mit angehenden KindheitspädagogInnen im Gespräch: subjektive Theorien zur pädagogischen Professionalität
  4. 4 Schlussfolgerungen für Ausbildung und Studium: Im beruflichen Alltag ist implizites Wissen handlungsleitend
  5. 5 Literatur

Zusammenfassung

Die Weiterentwicklung des Kindergartens von der Betreuungseinrichtung zur Bildungsinstitution und das gleichzeitige Entdecken des Kindes als handlungsfähiges Subjekt (Honig 2013) werfen die Frage nach einer erweiterten Professionalität frühpädagogischer Fachkräfte auf. Die verstärkte Lern- und Bildungsorientierung im elementarpädagogischen Diskurs stellt die Qualität pädagogischer Handlungsweisen frühpädagogischer Fachkräfte ebenfalls infrage.

In den Mittelpunkt rückt die Interaktion zwischen Fachkraft und Kind (Alemzadeh 2014) und im Speziellen die Elementardidaktik auf dem Weg vom Instruieren des Erwachsenen hin zum Konstruieren des Kindes. Die Qualität pädagogischer Prozesse entwickelt sich genauso zum Forschungsgegenstand wie die Betrachtung verschiedener Bildungsbereiche im Zusammenhang mit den Bildungsplänen der Länder (Benz/Peter-Kopp/Grüßing 2015).

Schlussfolgernd ist es nicht verwunderlich, dass eine mit diesem Prozess einhergehende vermutete Abnahme der Qualität pädagogischen Handelns frühpädagogischer Fachkräfte zu einem wichtigen Blickwinkel in den aktuellen Forschungsvorhaben geworden ist. Die wenigsten Forschungsvorhaben beschäftigten sich mit den subjektiven Sichtweisen und inneren Begründungen pädagogischer Fachkräfte (Bischoff 2018). Allerdings kann eine Weiterentwicklung des Kindergartens zu einem Bildungsort nicht ohne die pädagogischen Fachkräfte geschehen, die in ihren subjektiven Theorien die Neuorientierung kindlichen Lernens und pädagogischen Handelns repräsentieren. Studien zur Professionalität (Hodapp 2020) zeigen, dass pädagogische Fachkräfte häufig nicht auf wissenschaftsbasiertes Wissen zurückgreifen, sondern subjektiv-biografische Wissensbestände nutzen, um den Anforderungen im pädagogischen Alltag zu begegnen.

Im Rückgriff auf das Forschungsprojekt „Kindliches Lernen und pädagogisches Handeln – Subjektive Theorien angehender KindheitspädagogInnen“ (Brandl 2016), innerhalb dessen StudentInnen des Studiengangs Pädagogik der Kindheit in Leitfadeninterviews zu ihren Sichtweisen auf die beiden Phänomene befragt wurden, wird in diesem Beitrag subjektorientierten Ansätzen zum Lernen und pädagogischen Handeln im Kindergarten nachgegangen.

Es sollen Intentionen und Ziele für das pädagogische Handeln in Institutionen der frühen Bildung aus den Aussagen der befragten angehenden KindheitspädagogInnen aufgespürt und theoretisch anhand von handlungsleitenden Theorien aus der Praxis für Unterricht und Lehre reflektiert werden. Dazu wird zunächst auf das Forschungsprojekt „Kindliches Lernen und pädagogisches Handeln“ als theoretische und empirische Grundlage des Artikels eingegangen (1). Anschließend wird der Begriff ‚Pädagogische Professionalität‘ als Konstrukt im kindheitspädagogischen Studium entwickelt (2) und aus der Sicht der befragten StudentInnen, die anhand von Leitfadeninterviews und vertiefender Struktur-Lege-Bilder (Brandl 2016, S. 102 ff) nachvollzogen wird, formuliert (3). In einen letzten Schritt stehen Schlussfolgerungen für Ausbildung und Studium, die sich mit dem frühpädagogischen Kontext beschäftigen, im Mittelpunkt (4).

1 Theoretische und empirische Grundlage: das Forschungsprojekt „Kindliches Lernen und pädagogisches Handeln – Subjektive Theorien angehender KindheitspädagogInnen“

Ausgangspunkt des Forschungsprojekts (Brandl 2016) war es, einen Kontrapunkt zu bisherigen Erhebungen und Veränderungsdiskursen über die Pädagogik des Kindergartens zu bilden und die subjektiven Aspekte und Meinungen zu den Konstrukten ‚kindliches Lernen‘ und ‚pädagogisches Handeln‘ herauszuarbeiten. Sie bilden die Basis der Handlungen pädagogischer Fachkräfte und sind folglich auch grundlegend für die Arbeit mit wissenschaftlichen Theorien im Rahmen der Professionalisierung.

Dazu wurde dem ‚impliziten Wissen‘ von angehenden KindheitspädagogInnen [1] nachgegangen und die individuellen Verständnisse der Fachkräfte zum kindlichen Lernen und pädagogischen Handeln im Kindergarten wurden auf der Basis des methodologischen Konzepts der subjektiven Theorien untersucht (Groeben und Scheele 2013).

Die theoretischen Grundlagen bildeten zentrale wissenschaftliche Zugänge zum Lernen im Kindergarten sowie ausgewählte Theorien zur Entwicklung pädagogischen Handelns im Kindergarten. Veränderte Sichtweisen auf das Bild vom lernenden Kind führten in den letzten Jahren zu einem sich weiterentwickelnden frühpädagogischen Lernbegriff, der das besondere Lernpotenzial des Kindes in den ersten Lebensjahren in den Blick nimmt und das Kind als handelndes Subjekt in den Mittelpunkt seines Lernens stellt (Brandl 2016, S. 6). Diese Neuorientierung nimmt vor allem Einfluss auf die Gestaltung kindlicher Lernprozesse und damit die Gestaltung der Interaktion zwischen Kind und pädagogischer Fachkraft (König 2009). Es ist aber davon auszugehen, dass pädagogische Interaktion in hohem Maße von subjektiven Lernbegriffen geprägt ist. Für die pädagogische Fachkraft bringt ein sich wandelnder Lernbegriff schlussfolgernd einen Paradigmenwechsel in der pädagogisch-professionellen Rolle mit sich. Lernen mit dem Kind als reflexivem Subjekt im Zentrum lässt die pädagogische Fachkraft zum Begleiter des Lerngeschehens werden.

Das ‚Forschungsprogramm Subjektive Theorien‘ (Groeben und Scheele 2013) basiert auf den Kernannahmen eines reflexiven Subjekts und einer kognitiven Konstruktivität. Sie implizieren, dass das Individuum in der Lage ist, den Fokus auf sich selbst zu richten und innere Prozesse, Ziele, Intentionen, Gründe seines Handelns selbst zu interpretieren. Dies wiederum prägt die Außensicht des Individuums, d.h. die Wahrnehmung der Umwelt und sein Agieren in ihr.

Weiter ist das Handeln des Menschen mit seinen definierenden Aspekten wie Sinnhaftigkeit, Willkürlichkeit, Intentionalität, Zielorientiertheit zentral für das Forschungsprogramm und wird mit dem Begriff epistemologisches Subjektmodell bezeichnet. Der im Forschungsprogramm bedeutenden Aktualisierung und Rekonstruktion der Kognitionen der Selbst- und Weltsicht in einem Dialog-Konsens-Prozess sowie der Gültigerklärung der Forschungsergebnisse durch ProbandInnen wird mit einem weitgehend offen-reflexiv gestalteten Leitfaden-Interview und mit einer kommunikativen Validierung durch das Heidelberger Struktur-Lege-Verfahren (Scheele und Groeben 2013) Rechnung getragen. Das ermöglicht, die Struktur sowie die Inhalte der subjektiven Begriffe zu visualisieren und latente Sinnaspekte zu rekonstruieren.

Innerhalb subjektiver Theorien mittlerer Reichweite (Scheele und Groeben 2013, S. 3), zu denen auch subjektive Theorien über Lernen und pädagogisches Handeln im Kindergarten gehören (Brandl 2016, S. 87), stehen das Erfahrungswissen und damit verbundene Erklärungskonzept im Mittelpunkt. Sie sind unmittelbar handlungsleitend. Beobachtbar ist jedoch nur, der sich im Verhalten zeigende Handlungsvollzug.

Auf den in die Studie einführenden Kurzfragebogen folgt die Entwicklung des Leitfadeninterviews mit der Begründung des Interviewleitfadens. Das Heidelberger Struktur-Lege-Verfahren (Scheele und Groeben 2013) bildet gleichzeitig ein Erhebungs- und Auswertungsverfahren, das einerseits die Struktur subjektiver Theorien rekonstruiert, aber gleichzeitig eine kommunikative Validierung [2] ermöglicht. Abschließend folgt der Member-Check (Cantela 2019) als zweite Form des Dialog-Konsens.

Die subjektiven Theorien zum kindlichen Lernen und pädagogischen Handeln im Kindergarten werden dazu in verschiedenen Auswertungsschritten rekonstruiert: Zunächst erfolgt eine zusammenfassende Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring (2022), der eine induktive Kategorienbildung und fallbezogene wie fallübergreifende Kodierung folgt. Als Vorbereitung einer kategorienbasierten und fallbezogenen wie fallübergreifenden Analyse wird einerseits das Kategoriensystem zu einer tabellarischen Fallübersicht weiterentwickelt, gleichzeitig erfolgt eine Strukturbildanalyse der Struktur-Lege-Bilder zur Explikation der Theoriestruktur sowie eine Typenbildung zur Rolle der pädagogischen Fachkraft beim kindlichen Lernen (Brandl 2016, S. 119).

Zum Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens wird damit der subjektive Sinn, den die Befragten ihren Handlungen beimessen. Einerseits sollte dieser nachvollzogen und andererseits sollten die subjektiven Äußerungen in Bezug zu den beforschten Konstrukten aufgeklärt werden. Aufgrund des geringen Forschungsstandes im Bereich subjektiver Theorien zu Lernen und pädagogischem Handeln im Kindergarten wurde ein breit angelegter deskriptiver Teil entwickelt.

Die Rekonstruktion der subjektiven Theorien fand auf vier Analyseebenen statt und mündete in die Entwicklung intersubjektiver Begriffe. Auf den Rekonstruktionsebenen drei und vier wird beispielhaft die Bewertung des Zusammenhangs von kindlichem Lernen und pädagogischem Handeln abgebildet (Brandl 2016, S. 149). Insgesamt kann bilanziert werden, dass die KindheitspädagogInnen über eigenständige Vorstellungen verfügen, die sich inhaltlich zwischen den Polen Eigenständigkeit des Kindes und Unterstützung durch die pädagogische Fachkraft bewegen. Die subjektiven Theorien fokussieren eher die Eigenständigkeit des Kindes und bewegen sich zwischen Ermöglichung und Diskussion.

In allen Beiträgen kann ebenfalls ein direkter Zusammenhang zwischen biografischen Erfahrungen und der Gestaltung des pädagogischen Handelns erkannt werden. Weiterhin kristallisiert sich ein Zusammenhang zwischen der eigenen Praxiserfahrung und der Beurteilung der Einflussmöglichkeit von PädagogInnen auf das kindliche Lernen heraus. Je höher die Praxiserfahrung, desto geringer wird der Einfluss der pädagogischen Fachkraft auf das kindliche Lernen durch die Fachkraft selbst eingeschätzt. Der vorliegende Beitrag nimmt die Ergebnisse der Studie unter dem Blickwinkel ihrer Bedeutung für Ausbildung und Studium in den Blick.

2 Pädagogische Professionalität in kindheitspädagogischen Studiengängen

In dem Gutachten „Professionalisierung in der Frühpädagogik“ (vbw 2012) des Aktionsrats Bildung, der bildungspolitische Einzelthemen aufgreift, um Problemen in der Praxis mit konkreten Lösungsansätzen zu begegnen, wird der Erwerb professionellen Handelns in kindheitspädagogischen Studiengängen mit dem Erwerb von Professionswissen verbunden. Dazu zählt Fachwissen als Wissen im Hintergrund von Bildungsbereichen, fachdidaktisches Wissen über Vorstellungen von Kindern, das Arrangement von Lernsituationen oder das Förderpotenzial von Alltagssituationen und das allgemeinpädagogische Wissen zur Gestaltung von Lernsituationen und der pädagogischen Interaktion. Des Weiteren macht professionelles Handeln die Entwicklung pädagogischer Orientierungen und Einstellungen, die sich aus Vorstellungen, Überzeugungen und Werten zusammensetzen, aus (Fröhlich-Gildhoff et al. 2014a). Diese Orientierungen und Einstellungen bilden eine wichtige Entscheidungsgrundlage pädagogischen Handelns. Tietze (1998) fasst darunter das Setzen pädagogischer Ziele und Normen, Rollenvorstellungen gegenüber Kindern, Vorstellungen der kindlichen Entwicklung und des kindlichen Lernens zusammen (S. 78). Damit einhergehend werden emotionale und motivationale Aspekte als grundlegend für professionelles Handeln erachtet. Für die Begleitung von Lernprozessen scheint zudem die emotionale Haltung bedeutend, sowie der Enthusiasmus bei der Gestaltung von Lerngelegenheiten und die Selbstwirksamkeitserwartung bei der Gestaltung von Bildungsprozessen.

Professionalisierung bedeutet nicht den kontinuierlichen Erwerb von Wissen, sondern kann als lebenslanger, zirkulärer und reflexiver Prozess verstanden werden. Diesen Prozess der Handlungskompetenz bilden Fröhlich-Gildhoff, Nentwig-Gesemann und Pietsch (2014) in einem Kompetenzmodell ab, das differenziert zwischen dispositionellen Grundhaltungen (fachtheoretisches Wissen, reflektiertes Erfahrungswissen, Motivation, Situationswahrnehmung, methodische und soziale Fähigkeiten) und dem performativen Handlungsvollzug in der konkreten pädagogischen Situation. Pädagogisches Handeln wird von situativ strukturellen Rahmenbedingungen, situativen Kontextfaktoren sowie Motivation und Situationswahrnehmung der pädagogischen Fachkraft beeinflusst (Fröhlich-Gildhoff/​Nentwig-Gesemann/​Pietsch 2014, S. 10 f).

3 Mit angehenden KindheitspädagogInnen im Gespräch: subjektive Theorien zur pädagogischen Professionalität

In den Leitfadeninterviews mit den angehenden KindheitspädagogInnen wird deutlich, dass pädagogische Professionalität für sie überwiegend Weiterentwicklung der pädagogischen Handlungskompetenz (Cloos/Jung 2021) bedeutet – sei es über das Besuchen von Seminaren oder das Weiterqualifizieren z.B. durch die Aufnahme eines Studiums. Sie legen sehr viel Wert auf eine professionell-empathische Haltung und Identität als Basis pädagogischen Handelns und streben nach Akzeptanz der kindlichen Individualität, sind sich aber auch ihrer berufsethischen Verantwortung bewusst.

Auch Nentwig-Gesemann und Neuß (2014) beschreiben eine pädagogische Haltung als zentrales Moment pädagogischer Professionalität. Die Relevanz dieser Komponente innerhalb des impliziten Wissens lässt annehmen, dass die KindheitspädagogInnen pädagogische Professionalität als notwendig für gelungenes pädagogisches Handeln ansehen. Wege zur Entwicklung pädagogischer Professionalität werden von den KindheitspädagogInnen nicht dezidiert beschrieben (Thole 2010). Die subjektiven Theorien weisen Diskrepanzen auf, da Reflexion oder auch Wahrnehmung und Beobachtung als mögliche Instrumente der Entwicklung eines professionellen Habitus (Ruppin 2015) nicht diskutiert werden und ihnen wenig Beachtung beigemessen wird. Die Beschreibung pädagogischer Handlungsvollzüge innerhalb der subjektiven Theorien findet vorwiegend intentional statt, ohne dass im überwiegenden Maße ein willenskontrolliertes, selbstbestimmtes Tätigsein bzw. begründetes Gestalten zu erkennen ist.

Im Zusammenhang mit Studien zur Professionsforschung (Kaiser-Kratzmann et al. 2020) zeigen die subjektiven Theorien der angehenden KindheitspädagogInnen, dass weniger auf wissenschaftliches Wissen zurückgegriffen wird. Es wird vorwiegend biografisches Wissen oder Handlungswissen herangezogen, um den Anforderungen des Praxisfelds Kindergarten zu begegnen. Der Bereich des Wissens wird kaum thematisiert. Dies bestätigt die Ergebnisse von Thole (2010), die zeigen, dass der pädagogische Alltag nicht durchgängig mit einem Rückgriff auf wissenschaftlich oder methodisch-didaktisch im Rahmen der Qualifizierung erworbenes Wissen realisiert wird und professionelle Identität nicht automatisch durch wissenschaftlich fundierte Fachkompetenz entwickelt werden kann.

Während den Befragten die pädagogische Professionalität als Zielsetzung klar ist, bleiben die Aussagen zu einem notwendigen objektiv-reflexiven Entwicklungsprozess vage. Dies bestätigen auch die subjektiven Merkmale pädagogischen Handelns: Hier wird Wertschätzung als wichtiger Prädikator genannt, Aspekte wie Professionalität und Reflexion werden in der Rangreihe zuletzt beschrieben. Nach Schrittesser und Hofer (2012) ist es notwendig, dass PädagogInnen einen ‚doppelten Habitus‘ entwickeln oder auch eine ‚doppelte Professionalisierung‘ herausbilden. Dies geschieht, indem einerseits durch wachsende berufliche Erfahrung ein ‚praktisch-pädagogischer Habitus‘ entwickelt wird. Andererseits ist zur Reflexion des beruflichen Alltags ein ‚wissenschaftlich-reflexiver‘ Habitus notwendig, der routiniertes, praktisches Können relativiert und begrenzen kann (Schrittesser/​Hofer 2012). Für die angehenden KindheitspädagogInnen scheint ein ‚praktisch-pädagogischer Habitus‘ von vorrangiger Bedeutung für die Entwicklung pädagogischer Professionalität zu sein. Man könnte auch von einer Dominanz der Praxis sprechen, während theoretische Perspektiven in den subjektiven berufsbezogenen Überzeugungen weniger Einflusspotenzial zu entwickeln scheinen. Bestätigung findet die Argumentation in sehr persönlichkeitsbezogenen, tätigkeitsorientierten Beschreibungen pädagogischer Professionalität innerhalb der Befunde. Sie werden vorwiegend mit Vorbildverhalten umschrieben, das mit dem Eröffnen von Lernmöglichkeiten und integrem pädagogischen Verhalten einerseits, aber auch mit einem instruierenden Bild von pädagogischem Handeln andererseits verbunden wird. König (2009) bestätigt diese Ambivalenz zwischen routinierten, reaktiven und handlungsanweisenden Interaktionsprozessen und dialogisch-strukturierten, motivierten Fachkraft-Kind-Interaktionen und schreibt sie der Konzentration auf die Alltäglichkeit zu, die nicht die Individualität der Situation betrachtet (S. 222). Gilessen, Pasternack und Keil (2013) ermitteln, dass „Professionsmerkmale der Wissenschaftsbasierung“ (Gilessen/Keil/Pasternack 2013) bereits in frühpädagogischer Ausbildung und Studium von geringerer Relevanz sind und der beruflichen Praxis ein höherer Wert als den Theorieanteilen beigemessen wird.

Der Begriff der pädagogischen Professionalität wird von den befragten KindheitspädagogInnen vor allem mit personalen Kompetenzen wie ‚Wertschätzung‘ oder ‚Einfühlungsvermögen‘ gefüllt. Fachlichen Kompetenzen werden in den Begriffsbeschreibungen wenig Bedeutung beigemessen. Die theoretischen und die handlungspraktischen Wissensstrukturen stehen in den Beschreibungen der Befragten nicht in einem ‚wechselseitigen Bereicherungsprozess‘. Dewe (2002) spricht eher von einem ‚unkritischen Alltagsbewusstsein‘ (S. 71) durch die subjektive Überrepräsentanz des Handlungswissens. Theoretisch-wissenschaftlichen Elementen gepaart mit Reflexionswissen kommt bei der Entwicklung pädagogischer Professionalität keine entscheidende Bedeutung zu. Basiert die innere Voraussetzung für die Inszenierung pädagogischen Alltags im Kindergarten schlussfolgernd in erster Linie auf Handlungswissen und einzelnen Aspekten personaler Kompetenzen, muss die Qualität pädagogischen Handelns infrage gestellt werden, da die Entwicklung eines professionellen Selbstverständnisses zusätzlich die reflektierte Auseinandersetzung auf der Grundlage wissenschaftlich generierten Wissens notwendig macht.

4 Schlussfolgerungen für Ausbildung und Studium: Im beruflichen Alltag ist implizites Wissen handlungsleitend

Die Gespräche zeigen, dass weniger objektiv-wissenschaftlich erworbenes Wissen beruflich-professionelles Handeln prägt, sondern vielmehr subjektiv-implizite Annahmen dafür ausschlaggebend sind, die sich aus Biografie und den aktuellen pädagogischen Alltagserfahrungen ergeben. Zwar machen die Interviews deutlich, dass StudentInnen aktuelle wissenschaftliche Theorien repräsentieren – sie überführen diese aber scheinbar nicht in den beruflichen Alltag, sondern kehren dort zu bisherigen Einstellungen zurück. Es wird sichtbar, dass die subjektiven Theorien über den Erwerb objektiven Wissens hinaus handlungsleitenden Charakter behalten. Das bedeutet wiederum, dass die Entwicklung eines objektiv-professionellen Begriffs von kindlichem Lernen und pädagogischem Handeln nur über die Reflexion der subjektiv-biografischen Annahmen und Hypothesen passieren kann, aber gleichzeitig offenbleibt, in welcher Form diese sich als handlungsleitend erweisen.

Für die hochschulische Ausbildung, aber auch für die Ausbildung an Fachschulen und Fachakademien bedeutet das: Es müssen Wege gefunden werden, die es ermöglichen, eigene subjektive Theorien aufzudecken und sich reflektierend mit objektiven Theorien zu beschäftigen, sodass Wissen neu konstruiert und handlungsleitend werden kann. Ansatzmöglichkeiten ergeben sich in bestehenden Curricula z.B. aus dem Theorie-Praxis-Lernen im Rahmen des Berufspraktikums, des Praxissemesters oder in begleiteten Wochenpraktika. Notwendig werden Lehr-Lernformen, die ein aktives De-, Um- oder Neukonstruieren, basierend auf mitgebrachten eigenen Werten, Vorerfahrungen und Mustern, ermöglichen.

Die besondere Herausforderung besteht in der Ermöglichung einer Dekonstruktion von familiär-biografisch bedingten Wissensinhalten oder auch von ‚privatem Wissen‘ und der Konstruktion pädagogisch-beruflicher Wissensinhalte oder auch ‚professionellen Wissens‘, um einen pädagogisch-professionellen Habitus entwickeln zu können. Die Didaktik braucht Methoden, die Alltagstheorien reflexiv bewusst machen und mit wissenschaftlichen Theorien zu konfrontieren. Geeignet dazu sind didaktisch-reflexive Formate, die an die subjektiven Erfahrungen der Lernenden anknüpfen, diesen wissenschaftlichen Theorien entgegensetzen und zu einem aktiv-konstruktivistischen, entwickelnden Lernen anregen, um die Weiterentwicklung der Reflexivität, Autonomiefähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Handlungsfähigkeit zu ermöglichen.

5 Literatur

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Benz, C., Peter-Koop, A. & Grüßing, M. (2015). Frühe mathematische Bildung. Berlin, Heidelberg: Springer.

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[1] Der Beitrag beschäftigt sich bewusst mit der im Feld der frühen Kindheit relativ neuen Profession der KindheitspädagogInnen. Die Diskussion um eine frühe Förderung hat nicht nur Auswirkungen auf Kindertagesstätten. Der Wandel zur Wissensgesellschaft zeigt sich auch im Rahmen der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte. Die Erweiterung des Aufgabenspektrums führt zum Ausbau der Qualifizierung der frühen Bildung und der Etablierung frühpädagogischer Studiengänge. KindheitspädagogInnen spielen im Rahmen der Akademisierung der Elementarpädagogik eine wichtige Rolle in multiprofessionellen Teams im Kindergarten. (KMK/JMK 2010)

[2] Die kommunikative Validierung stellt eine Form dar, die Gültigkeit der Ergebnisse zu prüfen. Sie wird an die Untersuchungsteilnehmer zurückgespiegelt und in einer gemeinsamen Überprüfung von Forschenden und ProbandInnen diskutiert.

Verfasst von
Prof. Dr. Tanja Brandl-Götz
Studiengangsleitung des Studiengangs Pädagogik der Kindheit (B.A.) an der Evangelischen Hochschule Nürnberg
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Zitiervorschlag
Brandl-Götz, Tanja, 2023. Pädagogische Professionalität und subjektive Theorien: Lernen und pädagogisches Handeln im Kindergarten [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 06.03.2023 [Zugriff am: 19.02.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/29733.php

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