Ökonomisierung Sozialer Arbeit im Spannungsfeld von Wirtschaftlichkeit und Fachlichkeit
Analyse des Ambulant Betreuten Wohnens in der Eingliederungshilfe in NRW
Prof. Dr. Jan Tietmeyer
veröffentlicht am 04.04.2023
Inhalt
- 1 Zur Ökonomisierung Sozialer Arbeit
- 2 Darstellung der vertraglichen Konstellation zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern
- 3 Implikationsermittlung aus Sicht einer wirtschaftlichen Steuerung
- 4 Zusammenfassende Betrachtung
- 5 Einschätzungen des Autors
Zusammenfassung
Die Ökonomisierung Sozialer Arbeit – resultierend aus dem Neuen Steuerungsmodell, dem deutschen Resultat des New Public Management – ist seit den 1990er-Jahren Stück für Stück präsenter für die Handlungspraxis der Sozialen Arbeit geworden. Hier zeigt sie sich vor allem durch eine Verpreislichung der Sozialen Arbeit in Stunden- und Tagessätzen. Regelungen zu den erbrachten Leistungen werden in Verträgen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern geschlossen. In diesem Text wird konkret ein Vertrag untersucht, nämlich der des Ambulant Betreuten Wohnens der Eingliederungshilfe in NRW. Er eignet sich besonders für eine Analyse, da zum einen NRW das bevölkerungsstärkste Land in der Bundesrepublik Deutschland ist und zum anderen die beiden zuständigen Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe identische Verträge nutzen. Die Untersuchung richtet sich dabei inhaltlich auf wirtschaftliche Anreize, die (vermutlich ungewollt) durch die Ökonomisierung entstehen und mit denen sozialarbeiterische Fach- und Führungskräfte in ihrem Alltag konfrontiert sind.
Nach einer einleitenden Darstellung der Rahmenbedingungen und Zielstellungen, mit denen die Ökonomisierung Sozialer Arbeit in ihrer historischen Entwicklung einhergegangen ist, wird der Fokus auf eine Analyse der vertraglichen Konstellation der ambulanten Eingliederungshilfe in NRW gelegt. Die darauffolgende Untersuchung der wirtschaftlichen Anreize bildet den Kern der vorliegenden Analyse, die mit einer zusammenfassenden Ergebnisdarstellung beendet wird.
1 Zur Ökonomisierung Sozialer Arbeit
Unter dem Einfluss des New Public Management ist in Deutschland seit den 1990er-Jahren eine große Reformdebatte bzgl. der Umsetzung der Aufgaben der öffentlichen Verwaltung entstanden. Vor allem vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokratischen Republik im Jahr 1990 entstand ein großer Reformdruck, da die öffentliche Hand unter zunehmenden Engpässen in den öffentlichen Kassen litt (Barkowsky, K. 2014, S. 181 ff.). Im Zusammenhang der deutschen Einheit entsprach es dem Zeitgeist, dass das Neue Steuerungsmodell – so werden die Ausprägungen des New Public Management in Deutschland zumeist genannt – sich mit der Einführung von marktwirtschaftlichen Prozessen in die damals vollständig vom Bürokratieprinzip von Max Weber(Weber, M. 1922) geprägte öffentliche Verwaltung beschäftigte. Der Ansatz von Weber enthält unter anderem Merkmale wie die Regelgebundenheit, die Personenunabhängigkeit des Handelns, die Professionalität und das Hierarchieprinzip. Innerhalb dieses weberianischen Systems herrscht vornehmlich der sogenannte Legalismus, der als Hauptansatzpunkt für die Kritiker:innen dieses Systems dient. Es ist demnach für das Verwaltungshandeln vielfach wichtiger rechtmäßig zu handeln, als dass dieses Handeln effizient oder pragmatisch im Sinne einer Lösungsorientierung ist.
Begründet wurde die Neue Steuerung in Deutschland von Gerhard Banner als Mitglied der KGSt (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement). Das Ziel des Neuen Steuerungsmodells wird von ihm wie folgt beschrieben: „Die Kommunalverwaltung muss sich von der Behörde zum politisch gesteuerten Dienstleistungsunternehmen entwickeln“ (KGSt (1993), S. 7). Dabei werden vier Handlungsfelder benannt, nämlich Kundenorientierung, Leistungsanpassung an Nachfrage und vorhandene Mittel, Wettbewerbsfähigkeit und Personalentwicklung (Banner, G. (2008), S. 448). In der Neuen Steuerung sollen sich die Verwaltungseinheiten zu Dienstleistungsunternehmen entwickeln. Damit wurden sowohl Steigerungen in der Effizienz als auch in der Effektivität der Verwaltungen verbunden. Zusätzlich soll so des Weiteren die Wirkung der Arbeit verbessert werden (Barkowsky, K. 2014, S. 11).
Auch die Einführung von Märkten innerhalb des staatlichen Subsidiaritätsprinzips zog Einhalt in die Reformen. Gab es zuvor pauschalfinanzierte einzelne Organisationen, so wurden nun Märkte für die Leistungen dieser Organisationen geschaffen. Auch hier lag die Zielstellung in einer Erhöhung der Effizienz, der Effektivität und der Wirkung der Leistungen. Während die Organisation der Verwaltungen als solche im Rahmen des Neuen Steuerungsmodells bereits mehrfach untersucht worden ist, sind die entstandenen Märkte beim Einkauf von Leistungen durch die öffentliche Verwaltung noch nicht ausreichend untersucht. Dies soll in diesem Aufsatz explorativ nachgeholt werden, stellvertretend am System der ambulanten Eingliederungshilfe in NRW und fokussiert auf Fremdanreize für die Soziale Arbeit. Die ambulante Eingliederungshilfe in NRW bildet eine angemessene Stichprobe, da sie mit einem einheitlichen Vertrag im gesamten Bundesland – dem Bevölkerungsstärksten in der BRD – umgesetzt wird.
2 Darstellung der vertraglichen Konstellation zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern
In Nordrhein-Westfalen sind seit dem 01.07.2003 der Landschaftsverband Westfalen-Lippe und der Landschaftsverband Rheinland die sachlich zuständigen Träger der Sozialhilfe, also die Leistungsträger (Gesetz- und Verordnungsblatt NRW 2003). Sie sind somit für die vertragliche Gestaltung der Durchführung des Ambulant Betreuten Wohnens im Rahmen der Eingliederungshilfe verantwortlich. Nach einer Übergangsphase wurden die vertraglichen Vereinbarungen mit den durchführenden Leistungserbringern zum 01.01.2005 vereinheitlicht. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es pauschalfinanzierte Angebote mit zuvor geplanten Kapazitäten (Hier und im Folgenden LWL 2014). Seitdem haben alle durchführenden Leistungserbringer Vereinbarungen im selben Wortlaut, konkret handelt es sich dabei jeweils um
- eine Leistungsvereinbarung,
- eine Prüfungsvereinbarung und
- eine Vergütungsvereinbarung.
Die Leistungs- und Prüfungsvereinbarung (Die Leistungs- und die Prüfungsvereinbarung werden in der Ausführungspraxis zu einer Vereinbarung zusammengeführt. Bei allen weiteren Anmerkungen zu den Vertragstexten ist die Mustervereinbarung des LWLs verwendet worden) regelt neben einigen formaljuristischen Punkten bspw. zur Rechtswirksamkeit die folgenden für die Fragestellungen dieser Untersuchung relevanten Punkte.
- Die Leistungen der durchführenden Leistungserbringer werden in direkte, mittelbare und indirekte Leistungen unterteilt.
- Direkte Betreuungsleistungen werden dabei definiert als Kontakt zwischen Klient:in und Betreuungsperson „von Angesicht zu Angesicht“ oder „von Ohr zu Ohr“.
- Mittelbare Leistungen finden ohne Anwesenheit der Klient:in statt und werden durch klientenbezogene Leistungen, klientenübergreifende Tätigkeiten und Fahr- und Wegezeiten näher spezifiziert.
- Indirekte Leistungen sind als „alle zur Organisation des Dienstes und des Arbeitsablaufes sowie zur Qualitätssicherung notwendigen Tätigkeiten und Maßnahmen“ definiert.
- Der Umfang der Leistungen wird je Einzelfall in der Teilhabeplanung (früher: Hilfeplanverfahren) der Landschaftsverbände festgelegt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die festgelegte Fachleistungsstundenzahl eine Höchstgrenze darstellt. Bei einem Überschreiten dieser Höchstgrenze werden die mehr geleisteten Stunden nicht vergütet.
- Die Klient:in besitzt das Wunsch- und Wahlrecht und entscheidet somit, welcher durchführende Leistungserbringer in ihrem Fall tätig wird. Mit diesem Leistungserbringer führt sie die Datenerhebungen im Hilfeplanverfahren durch.
- Die Regelungen zur Qualität der Leistung sind unterteilt in Strukturqualität, Prozessqualität und Ergebnisqualität. Sie enthalten jedoch zumeist keine bindenden Formulierungen und können daher hier vernachlässigt werden.
- Hinsichtlich der personellen Ausstattung wird eine Unterteilung in Fachkräfte und in sonstige Kräfte unternommen. Dabei werden Fachkräfte mit Berufsbeispielen näher erläutert. Insgesamt lässt sich dabei eine Spanne von der Diplom-Pädagog:in bis hin zur Pflegefachkraft feststellen. Fachkräfte müssen außerdem eine mindestens einjährige Berufserfahrung mit dem Personenkreis im Ambulant Betreuten Wohnen besitzen. Sonstige Kräfte werden über eine Negativabgrenzung zu den Fachkräften ausreichend beschrieben. Insgesamt dürfen sie eine Quote von 30 % des eingesetzten Betreuungspersonals nicht übersteigen.
- Der Regelungsbereich hinsichtlich der Prüfungen ist recht kurz gehalten. Es wird lediglich geregelt, dass in Bezug auf eine Qualitätsprüfung jährliche Berichte durch die durchführenden Träger eingereicht werden müssen und dass bei einem Verdachtsmoment eine nicht näher beschriebene Qualitätsprüfung vorgenommen werden kann. Des Weiteren kann eine Prüfung der Wirtschaftlichkeit vorgenommen werden. Abgeschlossen wird dieser Bereich durch die Festlegung eines Prüfungsablaufs.
Die Vergütungsvereinbarung ist vergleichsweise kurz und regelt die genauen Abrechnungsmodalitäten, wie bspw. die Zahlweise und den Zahlungszeitpunkt. Vor dem Hintergrund dieser Untersuchung sind dabei vor allem die folgenden Punkte zu berücksichtigen:
- Es existiert ein landesweit einheitlicher Preis.
- Dieser wird je Fachleistungsstunde bezahlt, die aus 50 Minuten direkter Betreuungsleistung besteht.
- Für die Abrechnung ist es – analog zu klassischen Lieferscheinsystemen – notwendig, dass die Klient:in die geleisteten direkten Betreuungszeiten quittiert.
3 Implikationsermittlung aus Sicht einer wirtschaftlichen Steuerung
Wirtschaft ist definiert als Zusammenschluss aller planvollen menschlichen Aktivitäten, die dem Zweck folgen, bestehende Knappheit an Gütern oder Dienstleistungen zu verringern. Dies geschieht dabei unter Einhaltung des ökonomischen Prinzips, das auch als Rationalprinzip bezeichnet wird. Dieses Prinzip existiert grundsätzlich in zwei Ausprägungen. Beim Maximalprinzip soll der größtmögliche Ertrag mit einem gegebenen Aufwand erreicht werden. Das Minimalprinzip wiederum erzeugt einen gegebenen Ertrag mit möglichst geringem Aufwand (Wöhe, G./Döring, U./Brösel, G. 2020, S. 1 f.).
Da der Gewinn definiert ist durch die Differenz aus Ertrag und Aufwand, kann dieser als Bezugsgröße gewählt werden. Die im Rationalprinzip verwendeten Begriffe finden sich grundsätzlich im Bereich der Buchhaltung und der Bilanzierung innerhalb des betriebswirtschaftlichen Rechnungswesens wieder (Coenenberg, A./Fischer, T./Günther, T. 2016, S. 29), genauer gesagt in der Gewinn- und Verlustrechnung, die Bestandteil des Jahresabschlusses ist. Da in diesem Rahmen die kaufmännischen Implikationen für den Betrieb des Ambulant Betreuten Wohnens in NRW betrachtet werden, muss der Betriebserfolg genauer betrachtet werden, der nur diejenigen Bestandteile erfasst, die aus der eigentlichen Geschäftstätigkeit entstanden sind (Baetge, J./Kirsch, H.-J./Thiele, S. 2004, S. 361 ff.). Somit sind weitere finanzwirtschaftliche Analysen ausgeschlossen. Für eine konkretere Betrachtung wird jedoch auf das System der Kostenrechnung eingegangen, da nur hier indirekte Kosten für bspw. Verwaltung und Leitung abgebildet werden können (Wöhe, G./Döring, U./Brösel, G. 2020, S. 823 ff.).
Der Gewinn ergibt sich somit wie folgt:
Gewinn = (Preis * Menge) – (Kostengröße 1 + Kostengröße 2 + Kostengröße n)
Damit existieren grundsätzlich drei Stellgrößen, mit denen der Gewinn gesteuert werden kann, nämlich der Preis, die Menge und die Kosten. Da in den Verträgen zum Ambulant Betreuten Wohnen der Eingliederungshilfe der Preis landesweit einheitlich festgelegt ist, entfällt jedoch dieser Punkt. Somit bleibt auf der Umsatzseite lediglich der Ansatzpunkt der Mengensteuerung, also der Steuerung der Fachleistungsstundenanzahl. Dies ist demzufolge die Steuerungsgröße für die Anwendung des Maximalprinzips.
Auf der Aufwandsseite ergeben sich für eine Steuerung im Sinne des Minimalprinzips aus einer Analyse des Leistungsangebots in der Hauptsache die folgenden Aufwandsfaktoren (Die Analyse erfolgt in Anlehnung an das Gesamtkostenverfahren. Vgl. hierzu Baetge, J./Kirsch, H.-J./Thiele, S. 2004, S. 363):
- Personalkosten
- Sachkosten
- Fahraufwand
- Mieten
- Technische Ausstattung
- Leitungs- und Verwaltungskosten
In der Folge werden diese Erkenntnisse kombiniert mit den dargestellten vertraglichen Vereinbarungen in Bezug auf das Ambulant Betreute Wohnen zwischen den Landschaftsverbänden und den durchführenden Leistungserbringern in NRW untersucht. Dabei wird eine Unterteilung nach Personalstruktur, Umsatzsteuerung und Personaleinsatz und -steuerung vorgenommen, wodurch alle Ansatzpunkte verarbeitet werden.
3.1 Personalstruktur
Bei einer Dienstleistung, insbesondere im Bereich Sozialer Arbeit, nehmen für gewöhnlich die Personalkosten den höchsten Anteil an der gesamten Kostenstruktur ein. Dies ist auch im Bereich des Ambulant Betreuten Wohnens in der Eingliederungshilfe der Fall (Straten, R. 2013). Daraus ergibt sich, dass eine Senkung dieser Kostenposition große Wirkungen erzeugen kann. Eine Analyse der vertraglichen Regelungen führt zu insgesamt vier Ansatzpunkten für die Senkung der Personalkosten.
Als Erstes ist hier die Qualifikation der Fachkräfte zu nennen. Sie wird im Vertrag recht offen geregelt. Es werden verschiedene Berufsgruppen aufgezählt, die – unter der Annahme, dass einer der Tarifverträge des Öffentlichen Dienstes angewendet wird – in der Höhe unterschiedlich vergütet werden. In einer pauschalisierten Rechnung lassen sich durch die Beschäftigung von Erzieher:innen anstelle von Sozialarbeiter:innenn bspw. im Mittel 12,4 % der jährlichen Personalkosten (absoluter Betrag: € 6.253,93 pro Jahr) je Fachkraft einsparen. Diese Differenzen können grundsätzlich noch deutlich größer ausfallen, wenn bspw. Pflegekräfte als Fachkräfte eingesetzt werden, die eine geringere Vergütung als Erzieher:innen bekämen.
Es besteht in diesem Kontext demzufolge eindeutig der Anreiz, möglichst gering zu vergütende sowie möglichst wenige Fachkräfte einzusetzen. Zusammenfassend könnte bei einer Beschäftigung von zehn Vollzeitmitarbeiter:innen insgesamt ein Betrag in Höhe von jährlich nahezu € 100.000,00 eingespart werden, wenn als Referenzpunkt die alleinige Beschäftigung von Sozialarbeiter:innen gesetzt wird. Alternativ zur Betrachtung der Gehaltsstruktur innerhalb der Tarifverträge des Öffentlichen Diensts kann auch auf den Einsatz dessen verzichtet werden. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, einen eigenen Haustarif zu entwickeln. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die dargestellten Sachverhalte aufgrund der vorhandenen Konkurrenzsituation auch in einem solchen System grundsätzlich anzutreffen wären.
Zweitens dürfen sonstige Fachkräfte laut der vertraglichen Konstellation mit einem Anteil von bis zu 30 % eingesetzt werden. Erneut unter der Annahme der Verwendung des Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes wären somit gemittelt über ein Jahr je Stelle 28,9 % der jährlichen Personalkosten im Vergleich zur Beschäftigung einer Sozialarbeiter:in (absoluter Betrag: € 14.231,60) einzusparen. Diese Berechnung wird unter der Annahme durchgeführt, dass der TVÖD SuE angewendet wird und dass Sozialarbeiter:innen in Gruppe 11 und sonstige Kräfte in Gruppe 3 eingestuft werden. Des Weiteren wurden Arbeitgeber-Beiträge zur Sozialversicherung sowie jährliche Sonderzahlungen berücksichtigt.
Drittens ist aufgrund der grundsätzlichen Anwendung des Tarifvertrags des Öffentlichen Dienstes eine lange Betriebszugehörigkeit, bzw. bei Interpretation des Tarifvertrags einschlägige Berufserfahrung, immer mit erhöhten Personalkosten verbunden, da das eingesetzte Stufenmodell so automatisch steigende Personalkosten erzeugt. Es besteht deshalb der Anreiz, Betreuungspersonal mit möglichst wenig Betriebszugehörigkeit und/oder einschlägiger Berufserfahrung zu beschäftigen.
Als vierter Punkt ist ein weiterer Bestandteil der Personalkosten zu betrachten: Fortbildungen und Supervision. Da die Leistungsvereinbarung hier nur beschreibt, dass diese durchgeführt werden sollen, besteht die grundsätzliche Möglichkeit, darauf zu verzichten. Es besteht also der Anreiz, auf Fortbildung und Supervision zu verzichten, bzw. diese so wenig wie möglich durchzuführen.
3.2 Umsatzsteuerung
Wie dargestellt kann eine Steigerung des Umsatzes im Bereich des Ambulant Betreuten Wohnens der Eingliederungshilfe in NRW lediglich über eine Steigerung der Menge – also der Fachleistungsstundenanzahl – erreicht werden, da der Faktor Preis vertraglich landesweit gleichgesetzt worden ist. Die Einflussfaktoren auf den Bestand an Fachleistungsstunden eines durchführenden Leistungserbringers werden in der folgenden Abbildung dargestellt.

Die Zuführung zum Bestand an Betreuungen läuft über das Teilhabeplanverfahren der Landschaftsverbände ab. Es ist jedoch so, dass die Datenerhebung und Erstellung der Unterlagen gemeinsam von hilfesuchender Person und Leistungserbringer durchgeführt werden kann. Demzufolge ist es für die Leistungserbringer von Bedeutung, sich an den entsprechenden Stellen zu vernetzen und in den Kreisen der Hilfesuchenden bekannt zu sein. So ist es möglich, die Anzahl an Fachleistungsstunden durch Zuführungen positiv zu beeinflussen. Für die Teilnahme am Teilhabeplanverfahren durch die Klient:in scheinen Möglichkeiten zur Einflussnahme durch die Leistungserbringer vorhanden zu sein.
Auch die Intensität der Betreuungen wird zunächst im Teilhabeplanverfahren festgelegt. In der Folge werden gegenwärtig sämtliche Entscheidungen auf der Grundlage von Dokumenten getroffen, die die durchführenden Leistungserbringer den Landschaftsverbänden zuführen. Dies meint sowohl intensitätsmäßige Anpassungen als auch Verlängerungsanträge. Vor dem Hintergrund des Ziels einer möglichst hohen Fachleistungsstundenzahl für den durchführenden Leistungserbringer hat dieser hier aus kaufmännischer Sicht das Interesse, die Hilfen möglichst intensiv zu gestalten, also mit einer möglichst hohen Anzahl an Fachleistungsstunden je Klient:in.
Das Betreuungsende führt dazu, dass die Gesamtzahl der Fachleistungsstunden sinkt. Will ein Leistungserbringer also seinen Umsatz erhöhen, führt die Beendigung einer Betreuung zum Gegenteil. Demzufolge liegt es aus kaufmännischer Sicht nicht im Interesse der durchführenden Leistungserbringer, Hilfen zu beenden. Somit fällt eine von drei Rollen im sozialhilferechtlichen Leistungsdreieck bei der Initiierung von Hilfebeendigungen aus. Des Weiteren besitzen die Leistungserbringer Beeinflussungsmöglichkeiten auf die Klient:innen. Dies kann auf der einen Seite darin bestehen, dass die Leistungserbringer nicht die Loslösung vom Hilfesystem anstreben und somit ihre Hilfen nicht danach ausrichten. Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit, die Klient:innen mit sehr vielen verschiedenen Hilfen zu versorgen und so für eine – zumindest teilweise – Abhängigkeit vom Hilfesystem zu sorgen.
3.3 Personaleinsatz und -steuerung
Wie bereits beschrieben, unterteilen die Leistungsträger die Einsatzzeiten des Betreuungspersonals in direkte, mittelbare und indirekte Leistungen. Da ausschließlich die direkten Leistungen mit den Klient:innen als Fachleistungsstunden vergütet werden und die anderen Leistungen mit einem Pauschalbestandteil von 10 Minuten je Stunde berücksichtigt werden, besteht der Anreiz für die durchführenden Leistungserbringer, diese Zeiten zu maximieren. Dies kann nur durch eine Verringerung der mittelbaren und indirekten Leistungen erfolgen.
Die Verringerung der mittelbaren Zeiten führt dabei zu vielschichtigen Anreizen bei den durchführenden Leistungserbringern. Eine hohe Bedeutung nehmen hier vor allem die Fahrzeiten ein, die das Betreuungspersonal benötigt, um von einem Betreuungskontakt zum nächsten zu reisen.
Es ist für die Leistungserbringer vor diesem Hintergrund vorteilhaft, Dichtevorteile zu erzielen – in der mikroökonomischen Theorie der Unternehmung als Economies of Density bezeichnet (Holmes, T. J. 2011, S. 253 ff.). Diese Dichtevorteile beziehen sich darauf, in einer möglichst kleinen Region möglichst viele Klient:innen betreuen zu können. Dieser Anreiz scheint eine Spezialisierung auf eine bestimmte Zielgruppe überkompensieren zu können. Dies kann so weit gehen, dass wohnungslosen oder wohnungssuchenden Klient:innen Wohnungen durch die Leistungserbringer vermittelt oder untervermietet werden, die sich regional stark zentrieren. In diese Richtung geht auch das gegenwärtig zunehmend eingesetzte Konzept der Hausgemeinschaft. Insgesamt besteht hier die Gefahr einer Zentrierung von Klient:innen der Eingliederungshilfe auf bestimmte Viertel und/oder Häuserblöcke. Dies beinhaltet grundsätzlich die Gefahr einer Ghettoisierung (Best, U./Gebhardt, D. 2001). Deshalb haben die Leistungsträger in die Leistungsvereinbarung die Regelung aufgenommen, dass bei durch den Leistungserbringer vermietetem Wohnraum an Klient:innen in Hausgemeinschaften eine Genehmigungspflicht besteht, wenn in dieser Hausgemeinschaft kein ausgewogenes Verhältnis zwischen Hilfeempfänger:innen und Nicht-Hilfeempfänger:innen besteht. Allerdings sind hiervon nur Hausgemeinschaften betroffen und nur direkte privatrechtliche Vertragsbeziehungen zwischen Leistungserbringer und Klient:in.
In der Leistungsvereinbarung wird ein konstantes Bezugsbetreuungssystem verlangt. Dies kann ein durchführender Leistungserbringer bei Umzügen der Klient:innen nicht aufrechterhalten, weil sich ansonsten die Fahrzeiten zu sehr erhöhen können. Je nach tatsächlicher Zielgruppe eines Angebots kann dies bei den Klient:innen recht häufig stattfinden. Somit gibt es hier einen Zielkonflikt zwischen Leistungsvereinbarung und Vergütungsvereinbarung.
Da in der Vergütung der Leistungen die mittelbaren Zeiten pauschal in Relation zur direkten Betreuungszeit angesetzt werden, ist es für die durchführenden Leistungserbringer aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll, dass möglichst wenige, dafür aber lange Betreuungskontakte stattfinden. Demzufolge lässt sich direkt der Anreiz ableiten, dass entsprechend auf die Planung der Betreuungskontakte des Personals eingewirkt wird. Hier besteht die Möglichkeit, dass dies nicht den individuellen Bedürfnissen der Klient:innen entspricht.
Ebenfalls eine große Bedeutung bei der Verringerung der mittelbaren Zeiten haben Ausfallzeiten, also diejenigen Betreuungstermine, die mit den Klient:innen bereits vereinbart worden sind, dann aber durch diese nicht wahrgenommen werden. Dies wird tendenziell vor allem bei denjenigen Klient:innen der Fall sein, die mit einer geringen Compliance zum Hilfesystem ausgestattet sind, bspw. bei Klient:innen mit fehlender oder wechselnder Krankheitseinsicht. Es könnte für die Leistungserbringer vorteilhaft sein, diese Klient:innen aus ihrem Hilfesystem auszuschließen. Denn durch dieses Vorgehen wird verhindert, dass zwar die vollständigen Kosten eines Betreuungskontaktes entstehen, im Gegenzug aber kein Umsatz über Fachleistungsstunden generiert werden kann. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass die Landschaftsverbände seit Beginn des Jahres 2023 zumindest geplante aber vom Klientel nicht eingehalten Termine als vergütungsfähig einstufen. Dies führt aber nicht zu einer Auflösung des Anreizes.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass es für die durchführenden Leistungserbringer wirtschaftlich vorteilhaft ist, wenn alle Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit einer Betreuung durchzuführen sind, mit der Klient:in gemeinsam erledigt werden. Somit entsteht eine Verdrängung mittelbarer Leistungen durch direkte Betreuungskontakte. Vor dem Hintergrund der geforderten Augenhöhe innerhalb von Betreuungen in der Eingliederungshilfe kann dies als positive Wirkung im Sinne der Klient:innen und der Leistungsträger festgehalten werden.
Der zeitliche Umfang der indirekten Leistungen muss aus Sicht der Leistungserbringer ebenfalls für jede einzelne Mitarbeiter:in im Betreuungsdienst minimiert werden. Diese Zeiten bestehen gemäß den Regelungen aus der Leistungsvereinbarung in der Hauptsache aus Team-, Reflexions- und Fortbildungszeiten. Dieser Bereich kann im Rahmen der Eingliederungshilfe als wichtig für die Qualität der Betreuungsleistung angesehen werden. Trotzdem besteht hier aus wirtschaftlicher Sicht der Zielkonflikt, dass diese Zeiten zu minimieren sind, wenn der Personaleinsatz möglichst effizient sein soll.
4 Zusammenfassende Betrachtung
Grundsätzlich kann somit festgehalten werden, dass es einen starken Konflikt zwischen wirtschaftlichen und fachlichen Zielen in der Vertragskonstellation der ambulanten Eingliederungshilfe in NRW gibt. Im Ergebnis lässt sich die Analyse gem. der folgenden Tabelle darstellen.
Anreize zur Personalstruktur | Anreize zur Umsatzsteuerung | Anreize zur Minimierung mittelbarer Zeiten |
---|---|---|
Möglichst geringqualifizierte Fachkräfte einsetzen So wenig Fachkräfte wie möglich einsetzen Möglichst wenig erfahrene Mitarbeiter:innen einsetzen Möglichst auf Personalentwicklung (Fortbildung und Supervision) verzichten |
Möglichst viele Betreuungsfälle dem eigenen System zuführen Bestehende Betreuungsfälle möglichst intensiv gestalten Bestehende Betreuungsfälle möglichst nicht beenden |
Economies of Density (Dichtevorteile) können durch Zentrierung erreicht werden (Leistungserbringer als Vermieter) Zielkonflikt zwischen Leistungsvereinbarung und Vergütungsvereinbarung Konzentration auf wenige, dafür aber lange Betreuungskontakte Nicht vergütete Ausfallzeiten führen zur Ausgrenzung von Klienten mit geringer Compliance Möglichst geringer Einsatz von Team-, Reflexions- und Fortbildungszeiten |
Tabelle 1 Zusammenfassende Darstellung der wirtschaftlichen Anreize
Für eine Weiterentwicklung der Analyse wären zunächst weitere Schritte zu gehen, nämlich bspw. eine (theoretische) Analyse zur grundsätzlichen Gefährdung, die durch diese Anreize für die ambulante Eingliederungshilfe bestehen. Konkret: Können die Leistungserbringer die Anreize überhaupt umsetzen, oder gibt es Regelungsmechanismen, die dies einschränken? Des Weiteren wäre es sicherlich interessant, eine juristische Perspektive einzunehmen, um auf die Vertragskonstellation zu blicken: Warum ist der Vertrag in dieser Form entstanden und welche juristischen Folgen bestehen? Ein weiterer interessanter Punkt im Sinne einer Explanation: Lassen sich Fehlwirkungen bei echten Fällen finden?
5 Einschätzungen des Autors
Die Verpreislichung und Ökonomisierung Sozialer Arbeit hat zu Leistungsverträgen geführt, die vor dem Hintergrund einer fachlichen Perspektive deutliche Fehlanreize für die Leistungserbringer in der ambulanten Eingliederungshilfe in NRW darstellen. Insbesondere und auch vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen zu Wirksamkeit und Wirkung der Eingliederungshilfe – bei aller noch vorhandener Unklarheit dieser im BTHG gesetzlich verankerten Begriffe – stellt sich die Frage, in wie weit Wirkungen bei der Gestaltung der Leistungsverträge bedacht worden sind.
Beispielsweise können die deutlichen Anreize, Klient:innen mit geringer Zuverlässigkeit aus dem Hilfesystem zu drängen, stark problematisiert werden. Denn fehlende Zuverlässigkeit deutet nicht immer auf fehlende Mitwirkungsbereitschaft hin. Häufig geht es hier eher um die Verdeutlichung von Hilfebedarf seitens der Klient:innen. Außerdem ist es sicherlich kein Ziel eines wirkenden Systems Eingliederungshilfe, wenn die Leistungserbringer Anreizen ausgesetzt sind, die Hilfen zu verlängern und zu intensivieren statt sie zu beenden und zu verringern.
Auf einer übergeordneten Betrachtungsebene entwickelt sich die Sorge, dass die Leistungsverträge insgesamt – also losgelöst vom konkreten Beispiel – einen starken Überarbeitungsbedarf aufweisen. Besonders problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass insbesondere bei kommunaler Zuständigkeit in der Leistungsträgerschaft eine extrem große Vielzahl an Leistungsverträgen besteht, die vermutlich jeweils stark unterschiedlich sind. Insbesondere für überregional agierende Leistungserbringer stellt dies eine stark komplexe Anforderung in der Steuerung dar.
Fortsetzung siehe zweiter Teil.
Literatur
Baetge, J./Kirsch, H.-J./Thiele, S. (2004), Bilanzanalyse, 2. Auflage, Düsseldorf.
Banner, G. (2008), Logik des Scheiterns oder Scheitern an der Logik, in: dms, Heft 2/2008, S. 447–445.
Barkowsky, K. (2014), Reform der Kommunalverwaltung in England und Deutschland, Wiesbaden.
Best, U./Gebhardt, D. (2001), Ghetto-Diskurse – Geographie der Stigmatisierung in Marseille und Berlin, Potsdam 2001.
Coenenberg, A./Fischer, T./Günther, T. (2016), Kostenrechnung und Kostenanalyse, 9. Auflage, Landsberg am Lech.
Gesetz- und Verordnungsblatt NRW (2003), Ausgabe 2003 Nr. 29 vom 30.6.2003 Seite 311 bis 322, https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_detail_text?anw_nr=6&vd_id=10237&ver=8&val=10237&menu=1&vd_back=N
Holmes, T. J. (2011), The Diffusion of Wal-Mart and Economies of Density, in: Econometrica, Jahrgang 79, Ausgabe 1, S. 253–302.
KGSt (1993), Das Neue Steuerungsmodell: Begründung, Konturen, Umsetzung, Köln.
LWL (2014), Ambulant Betreutes Wohnen – Leistungs-, Prüfungs- und Vergütungsvereinbarung nach § 75 SGB XII, http://www.lwl.org/LWL/Soziales/​Behindertenhilfe/​ambu_betreu_wohnen/​leistung_pruefung_vereinbarung
Straten, R. (2013), Fachleistungsstunden nach §§§ 53 ff. SGB XII, http://www.beb-ev.de/wp-content/​uploads/2013/09/AG_18.pdf
Weber, M. (1922), Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen.
Wöhe, G./Döring, U./Brösel, G. (2020), Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 27. Auflage, München.
Verfasst von
Prof. Dr. Jan Tietmeyer
FOM Hochschule
Professor für Soziale Arbeit
Diplom-Kaufmann und Master Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Tietmeyer, Jan, 2023.
Ökonomisierung Sozialer Arbeit im Spannungsfeld von Wirtschaftlichkeit und Fachlichkeit [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 04.04.2023 [Zugriff am: 23.03.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/29755.php
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