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Auf den Hund gekommen? Zur Frage der Einordnung von Tierhaltungskosten als Mehrbedarf i.S. des SGB II

Urteilsbesprechung LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.06.2023 – L 9 AS 2274/22

Sebastian Lehr

veröffentlicht am 26.09.2023

Inhalt

  1. 1 Ausgangslage
  2. 2 Rechtliche Würdigung der Gerichte
  3. 3 Exkurs zur Frage des Mehrbedarfs i.S.d. § 21 Abs. 6 SGB II
  4. 4 Auf den Hund gekommen?
  5. 5 Literaturverzeichnis

Der Aufsatz beleuchtet ein Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20.06.2023, das sich mit der Frage hinsichtlich eines Antrages betreffend der Einordnung von Anschaffungs- und Unterhaltskosten für einen Hund als Mehrbedarf i.S.d. § 21 Abs. 6 SGB II zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auseinander zu setzen hatte.

Zusammenfassung

Der Aufsatz beschäftigt sich mit einem Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20.06.2023. Der dortige Kläger begehrte mit seiner Klage finanzielle Leistungen in Form von Anschaffungs- und monatlichen Unterhaltskosten für einen Hund, den er seiner Ansicht nach infolge einer sozialen Vereinsamung als Resultat des Lockdowns während der Covid-19-Pandemie dringend benötige. Nach der Rechtsansicht des Klägers stünden ihm die dafür anfallenden Kosten jedenfalls als Mehrbedarf i.S.d. § 21 Abs. 6 SGB II zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums zu.

Dabei werden zunächst der dem Instanzenzug zugrunde liegende Sachverhalt, die ausgetauschten rechtlichen wie tatsächlichen Argumente des Klägers sowie der Beklagten und der Verfahrensgang dargestellt, jeweils reduziert auf die wesentlichen Punkte. Sodann erfolgt eine Übersicht über die wesentlichen Urteilsgründe, mit denen das Landessozialgericht die Klage letztlich abgewiesen hat. Im Anschluss daran erfolgt ein kurzer Exkurs zu der Frage, wann ein Mehrbedarf i.S.d. § 21 Abs. 6 SGB II vorliegt. In diesem Zuge wird auch ausgewählte Rechtsprechung aufgezeigt, die sich mit Einzelfragen einer rechtlichen Einordnung als Mehrbedarf zu beschäftigen hatte.

Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse sowie eine eigene Bewertung der Entscheidung des Landessozialgerichts.

1 Ausgangslage

Mit der eingangs aufgeworfenen Rechtsfrage, nämlich der Einordnung von Tierhaltungskosten als Mehrbedarf i.S. des SGB II, hatte sich jüngst das Landessozialgericht Baden-Württemberg (Urteil vom 20.06.2023 – L 9 AS 2274/22) zu beschäftigen.

Der stark vereinfachte Sachverhalt bestand im Fall des Landessozialgerichtes, an das sich der dortige Kläger gegen eine Ablehnung seines Antrages vom 21.03.2022 auf Übernahme von Anschaffungskosten i.H.v. einmalig 2.000 € sowie weitere Übernahme laufender Kosten i.H.v. 200 € pro Monat für die Beschaffung eines Hundes gewandt hat. Der Kläger bezog dabei seit dem Jahr 2005 Arbeitslosengeld II als laufende Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (einschließlich Kosten für Unterkunft und Heizung).

Als Begründung für die Notwendigkeit der Anschaffung eines Hundes wurde durch den Kläger dabei u.a. angeführt, dass er während des Lockdowns im Rahmen der Covid-19-Pandemie sowie der daraus resultierenden soziokulturellen Entfremdung ein seelisches Leiden davongetragen habe, welches er mittels der Anschaffung eines Therapiehundes selbst heilen wollte. Er selbst gehe dabei von einer Therapiedauer auf Lebenszeit aus, sodass sein Antrag zu bewilligen sei. Nach weiterer im Verfahren vorgetragener Ansicht des Klägers sei es u.a. wissenschaftlich belegt, dass Hunde vielfältige Heilwirkungen zur Überwindung soziokultureller Barrieren hätten.

Die beklagte Behörde lehnte den Antrag des Klägers umfassend ab und verwies zur Begründung maßgeblich auf die gesetzlichen Regelungen des SGB II. Nach Ansicht der beklagten Behörde entstehe ein Leistungsanspruch weder aus § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II noch aus § 21 Abs. 6 SGB II. Begründet wurde dies letztlich damit, dass stets vorrangig die Krankenkassen für die Leistung zuständig wären, sodass der Kläger den Antrag dort hätte stellen müssen.

Hiergegen wurde durch den Kläger im gerichtlichen Verfahren noch ergänzend vorgetragen, er habe keineswegs eine ‚medizinische‘ Leistung in Form ‚Psychotherapie-Assistenzhundes‘ beantragt, sondern vielmehr einen Begleithund als Sozialhilfe-Kontakt, sodass sein Antrag gerade nicht an die Krankenkasse zu richten gewesen wäre.

2 Rechtliche Würdigung der Gerichte

Nachdem bereits das Sozialgericht Stuttgart als I. Instanz die Klage abgewiesen hatte, hatte sich das Landessozialgericht Baden-Württemberg als Berufungsinstanz mit der Angelegenheit zu befassen und die Berufung schlussendlich mit Entscheidung vom 20.06.2023 zurückgewiesen. Dabei wurden keine Gründe für eine Zulassung einer Revision angenommen.

Begründet wurde die Zurückweisung durch das Gericht maßgeblich damit, dass die Haltung eines Hundes nicht zum durch das SGB II zu gewährleistende Existenzminimum gehöre und das SGB II auch generell keinerlei Rechtsgrundlage für einen Mehrbedarf für Tierhaltung enthalte. Insbesondere bestehe unabweisbarer, besonderer Bedarf des Klägers i.S. des § 21 Abs. 6 SGB II. Eine Bezugnahme auf den singulären Umstand, dass die Haltung eines ‚Begleit-Hundes‘ eine Art sozialer Unterstützung hilfreich sein kann, begründe keinen unabweisbaren, besonderen Bedarf im Sinne des Gesetzes.

Dies bereits deshalb, weil ein besonderer Bedarf in atypischer Bedarfslage per se nur dann vorliegen könne, wenn keine diesbezügliche eigene Steuerungsfähigkeit des Klägers vorhanden wäre (so etwa bei chronischen Erkrankungen mit erhöhtem Hygienebedarf, die der Betroffene nicht eigenständig verhindern kann). Die Anschaffung eines Hundes sei dagegen durch die schlichte Nichtanschaffung eines Tiers steuerbar, sodass es an der atypischen Bedarfslage fehlt. Daneben fehle es auch – trotz Lockdowns und dadurch bedingter nicht zu verkennender sozialer Isolation – an einer außergewöhnlichen Lebenssituation des Klägers, in der grundrechtlich geschützte Güter des Klägers außerhalb des Existenzminimums gefährdet wären. Schlussendlich fehle es auch an einer konkreten gesundheitlichen Gefährdung des Klägers, was dieser bereits mittelbar selbst dadurch eingeräumt habe, dass er sich nach seinem eigenen Vortrag nicht an die Krankenkassen gewandt hatte, sondern das begehrte Tier als ‚Begleithund‘ für ‚Sozialhilfe-Kontakte‘ erhalten wollte.

In Ermangelung einer Rechtsgrundlage für die Anschaffung eines Hundes und auch ganz generell für Mehrbedarf für Tierhaltungskosten habe der Kläger die Kosten für Anschaffung und Unterhalt des Tieres daher aus seinem Regelbedarf zu tragen.

3 Exkurs zur Frage des Mehrbedarfs i.S. § 21 Abs. 6 SGB II

Aus Anlass des dargestellten Urteils bietet sich ein Kurzexkurs zur Frage des Mehrbedarfs i.S. § 21 Abs. 6 SGB II an.

Die Implementierung der gesetzlichen Regelung des § 21 Abs. 6 SGB II geht maßgeblich auf eine Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 125, 175 = NZS 2010, 270) aus dem Jahr 2010 zurück, mit welchem dieses urteilte, dass die Regelleistungen des SGB II nicht verfassungsgemäß seien.

In dem Urteil stellte das BVerfG u.a. fest, dass es mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar sei, dass im SGB II eine Regelung fehlt, die einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen und besonderen Bedarfs vorsieht, da die dem Regelbedarf zugrunde liegende Einkommens- und Verbrauchsstatistik lediglich einen Durchschnittsbedarf widerspiegele, ohne dass damit atypische besondere Bedarfslagen berücksichtigt werden könnten.

Ein Mehrbedarf i.S. der Vorschrift des § 21 Abs. 6 SGB II liegt vor, wenn im jeweiligen Einzelfall ein unabweisbarer atypischer besonderer Bedarf vorliegt, wobei bei einem einmaligen Bedarf als Korrektiv noch § 21 Abs. 6 Hs. 2 SGB II zu beachten ist, dass vor Inanspruchnahme eines einmaligen Mehrbedarfs stets die Zumutbarkeit einer Darlehensaufnahme gem. § 24 Abs. 1 SGB II durch den Antragsteller zu prüfen ist. Der Gesetzgeber setzt insoweit einen regelmäßig wiederkehrenden, dauerhaften, längerfristigen, unabweisbaren atypischen oder einen ausnahmsweise überdurchschnittlichen Bedarf voraus, wobei für die Beurteilung der Regelmäßigkeit auf den Bewilligungszeitraum abzustellen sei (BT-Drs. 17/1465, 9).

Es handelt sich um besondere Bedarfe i.S. der Vorschrift, wenn die Bedarfslagen über den Durchschnittsbedarf hinausgehen oder aufgrund ihrer Atypik vom Regelbedarf nicht bzw. zwar erfasst, aber strukturell nicht realitätsgerecht und der Höhe nach zu niedrig erfasst sind (Eicher/Luik/Harich/S. Knickrehm, 5. Aufl. 2021, SGB II § 21 Rn. 67).

Der Bedarf muss zudem auch unabweisbar und erheblich sein. Nach § 21 Abs. 6 S. 2 SGB II ist der Mehrbedarf unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Von einer Erheblichkeit bei einem atypischen Bedarf ist auszugehen, wenn er von einem durchschnittlichen Bedarf in nicht nur unbedeutendem wirtschaftlichen Umfang abweicht, was im jeweiligen Einzelfall zu der Frage führt, ob das menschenwürdige Existenzminimum durch die jeweiligen Mehraufwendungen nicht mehr gewährleistet ist (BSG, Urt.v. 04.06.2014, B 14 AS 30/13). Damit wird deutlich, dass eine schematische Beurteilung der Frage, wann ein atypischer Mehrbedarf im Sinne der Vorschrift vorliegt, ausscheidet, sodass es in jedem Fall auf die Umstände des Einzelfalles ankommt.

Beispielhaft hatte sich die Rechtsprechung in der Vergangenheit etwa mit folgenden Einzelfallfragen zur Einordnung als atypischer Mehrbedarf i.S. § 21 Abs. 6 SGB II zu beschäftigen:

  • Kosten für die Teilnahme an einem Schulabschlussball/​Abi-Feier (Hier verneint durch das LSG Nordrhein-Westfalen Beschl. v. 29.8.2019 – L 6 AS 1953/18 NZB),
  • Mehrkosten für Covid-19-Schutzmasken und Notvorräte (Hier verneint durch das LSG Nordrhein-Westfalen Beschl. v. 30.4.2020 – L 7 AS 625/20 BER),
  • Besuch des Ehegatten im nichteuropäischen Ausland (Hier ebenso vereint durch das BSG Urt.v. 28.11.2018 – B 14 AS 47/17 B),
  • Fahrtkosten für Ausübung des Umgangsrechts bei getrennt lebenden Eltern (Hier bejaht durch das BSG Urt.v. 4.6.2014 – B 14 AS 30/13 R),
  • Fahrtkosten zur täglichen Behandlung für Methadon-Substituierung (Hier bejaht durch das LSG Baden-Württemberg Urt.v. 18.3.2020 – L 3 AS 3212/18) sowie
  • Schuldgeld für den Besuch eines privaten Gymnasiums (Hier verneint durch das LSG Baden-Württemberg Urt.v. 21.6.2021 – L 12 AS 3784/20).

Aus den vorgenannten Entscheidungen wird der Charakter der Vorschrift des § 21 Abs. 6 SGB II als streng auszulegende Ausnahmeregel im Härtefall deutlich, die anhand jedes individuellen Einzelfalls zu prüfen ist.

Nicht jeder Mehrbedarf führt zu einem Anspruch, vielmehr müssen die obig dargestellten weiteren Anspruchsvoraussetzungen hinzukommen, um von einer atypischen und ausgleichsfähigen Bedarfssituation auszugehen.

4 Auf den Hund gekommen?

Zusammenfassend überzeugt die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg letztlich auf ganzer Linie. Der Kläger im dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt verkennt insoweit den Charakter der Vorschrift des § 21 Abs. 6 SGB II als Härtefall- und Ausnahmeregelung, die letztlich (nur) ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern soll.

Es soll dabei ausdrücklich nicht verkannt werden, dass gerade Hunde weit überwiegend einen persönlichen Mehrwert für die Lebensführung darstellen können. Scheidet allerdings die Anschaffung eines Tieres als medizinisch anerkanntes Hilfsmittels (wie etwa ein ‚Blindenhund‘ vgl. dazu LSG Hessen Beschl. v. 29.6.1998 – L 1 KR 1284/97) aus, obliegt es dem einzelnen Leistungsberechtigten, zu entscheiden, ob und welches Tier er sich im jeweiligen Einzelfall unter Einsatz des ihm zustehenden Regelbedarfs leisten kann, da dies seiner privaten Lebensführung zuzuordnen ist.

5 Literaturverzeichnis

EICHER, Wolfgang und LUIK, Steffen und HARICH, Björn, 2021, SGB II – Kommentar – Grundsicherung für Arbeitssuchende, 5. Auflage, München: C.H.Beck Verlag, ISBN 978-3-406-76984-9 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Sebastian Lehr
Rechtsanwalt
Lehrbeauftragter OTH Amberg- Weiden
Lehrbeauftragter OTH Regensburg

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Zitiervorschlag
Lehr, Sebastian, 2023. Auf den Hund gekommen? Zur Frage der Einordnung von Tierhaltungskosten als Mehrbedarf i.S. des SGB II [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 26.09.2023 [Zugriff am: 03.12.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/29956.php

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