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Soziologie und Lehrerschaft

Relevanz und Anwendbarkeit von Émile Durkheims Perspektive in der Lehrer:innenbildung und im Schulalltag

PD Dr. Anne-Laure Garcia, Dr. phil. Romy Simon

veröffentlicht am 10.11.2023


https://doi.org/10.60049/85x102ltq

Dieser Beitrag diskutiert, inwieweit Émile Durkheims Analysen von Sozialisations- und Bildungsprozessen heutzutage in Deutschland anwendbar sind, um die Zusammenhänge zwischen Schule und Gesellschaft zu reflektieren.

Inhalt

  1. 1 Einleitung
  2. 2 Die ‚Éducation‘ als Gegenstand soziologischer Analyse
    1. 2.1 Die enge Verknüpfung zwischen Soziologie und Pädagogik
    2. 2.2 Die Sozialisation als Schlüssel zum gesellschaftlichen Fortbestand
  3. 3 Die moralische Homogenisierung von Schüler:innen
    1. 3.1 Das Pflichtbewusstsein wecken
    2. 3.2 Das ‚Wir‘ erlernen
    3. 3.3 Eine aufgeklärte Zustimmung fördern
  4. 4 Ausblick – Durkheim, ein ‚Mann unserer Zeit‘?
  5. 5 Literaturverzeichnis

Zusammenfassung

Obwohl der Klassiker der Soziologie Émile Durkheim nie eine Studie über die ‚Éducation‘ publizierte, haben Sozialisations- und Bildungsprozesse einen zentralen Stellenwert in seinen Analysen. Basierend auf posthum veröffentlichten Transkripten von Vorlesungen und Diskussionsbeiträgen erläutert dieser Beitrag, weswegen der französische Soziologe sich langjährig und intensiv mit den in der Schule stattfindenden Sozialisationsprozessen beschäftigte. Er beleuchtet darüber hinaus, inwiefern diese Perspektive mehr als 100 Jahre nach Durkheims Tod einen Platz in der Ausbildung angehender Lehrkräfte verdient. Denn in seinen Diagnosen einer Desorientiertheit der Gesellschaftsmitglieder sowie eines Wankens der sozialen Kohäsion lassen sich Anknüpfungspunkte an aktuelle Diskurse erkennen. Es stellt sich daher die Frage, ob ein Bewusstsein von Pädagog:innen für die von Durkheim herausgestellte Schlüsselrolle von Lehrer:innen ihnen heutzutage ermöglichen kann, zur Stabilisierung der sozialen Ordnung beizutragen.[1]

1 Einleitung

Wenig bekannt ist, dass der Begründer der akademischen Soziologie in Frankreich Émile Durkheim ausgebildeter Lehrer für Philosophie war und viel in erziehungswissenschaftlichen Gebieten gelehrt hat. Denn er arbeitete einige Jahre als Gymnasiallehrer, bevor er als Dozent an Universitäten tätig wurde. Ab 1897 war er mit einem Schwerpunkt in Sozialwissenschaften und Pädagogik in Bordeaux tätig, bevor er anschließend ab 1902 an der Pariser Universität La Sorbonne den Lehrstuhl für „Erziehungswissenschaften und Soziologie“ erhielt. Dieser war der Erste in Frankreich, der in der Benennung den Begriff „Soziologie“ enthielt. An den Universitäten bestand seine Zuhörerschaft vor allem aus künftigen Gymnasiallehrern. Das heißt, die enge Verknüpfung zwischen Soziologie und Pädagogik prägte Durkheims beruflichen Alltag sein ganzes Leben lang. Kein anderer Klassiker wird in der Sozialisationsforschung sowie in der erziehungswissenschaftlichen Literatur so häufig wie Durkheim erwähnt (u.a. Cardi und Plantier 1993; Kupfer 2011; Koller 2014). Dies liegt daran, dass er sich im Rahmen seiner soziologischen Theorie umfangreich mit dem Thema ‚Éducation‘ auseinandergesetzt hat. Unter diesem französischen Begriff wird die Aneignung und Verinnerlichung von gesellschaftlichen Normen und Werten während der Lebensphasen Kindheit und Jugend verstanden. Dies entspricht dem Prozess der primären Sozialisation. In Durkheims Schriften kommt der Begriff der socialisation selten vor, da er zu seiner Lebenszeit noch unüblich war. Jedoch kann er mit zu den ersten Autor:innen gezählt werden, die sich aus soziologischer Perspektive mit den Schwerpunkten Bildung und Erziehung auseinandergesetzt haben.

Innerhalb dieses Beitrages wird der Herangehensweise dieses französischen Soziologen sowie der Relevanz von Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen für seine Analyse der modernen Gesellschaft nachgegangen. Drei posthum veröffentlichte Publikationen stehen im Mittelpunkt der Betrachtung: 1) Das Buch Erziehung und Soziologie (1972), das ursprünglich unter dem Titel Éducation et Sociologie 1922 erschien und eine Sammlung von vier Beiträgen ist, in denen Durkheim Begriffsdefinitionen vornimmt und seine Grundthesen erläutert; 2) die Transkripte der 1902 und 1903 an der Sorbonne gehaltenen Vorlesungen, in welchen er sich mit der Frage der Ausbildung von Moralität bei Schüler:innen beschäftigt und die erstmals 1934 mit dem Namen L’éducation morale publiziert worden sind und in deutscher Sprache als Erziehung, Moral und Gesellschaft (1984) erhältlich sind sowie 3) die Transkriptionen seiner sozio-historisch angelegten Vorlesung aus den Jahren 1905 und 1906, die in Frankreich 1938 unter dem Titel L’évolution pédagogique en France und in Deutschland 1977 unter Die Entwicklung der Pädagogik: Zur Geschichte und Soziologie des gelehrten Unterrichts in Frankreich veröffentlicht wurden. In diesem Artikel setzen wir uns als Soziologinnen mit zahlreichen Lehrerfahrungen in den Studiengängen für Lehramt, Erziehungswissenschaften sowie Sozialpädagogik mit folgenden vier Fragen auseinander: Welche (Hinter-)Gründe führten zu Durkheims intensiven und langjährigen Beschäftigung mit dem Thema ‚Éducation‘? Wie groß ist die Tragweite von Erziehungs- und Bildungsprozessen für seine Theorie der modernen Gesellschaften? Inwiefern schreibt er der soziologischen Betrachtung von Erziehungs- und Bildungsfragen einen besonderen Stellenwert für Lehrer:innen zu? Inwieweit kann Durkheims Theorie für den heutigen deutschen Schulalltag eine Relevanz einnehmen?

2 Die ‚Éducation‘ als Gegenstand soziologischer Analyse

Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse waren zentrale Gegenstände der soziologischen Analyse Durkheims. Dies ist mit seinem beruflichen Werdegang, seinen Bemühungen um die Akademisierung der Soziologie sowie seiner Sorge um den Erhalt der sozialen Ordnung in modernen Gesellschaften verbunden.

2.1 Die enge Verknüpfung zwischen Soziologie und Pädagogik

Der Einbezug der Soziologie in die Lehrer:innenausbildung war für Durkheim keineswegs nur ‚Mittel zum Zweck‘. Vor dem Hintergrund seines Engagements zugunsten der Institutionalisierung der ‚sozialen Physik‘ stand es zwar in seinem Interesse, dass die Lehre der Soziologie fester Bestandteil der Pädagog:innenausbildung wurde, damit dieser Fachbereich an Hochschulen verankert wird. Dass künftige Lehrer:innen in das soziologische Wissen eingeführt werden, war aber für ihn darüber hinaus aus inhaltlichen Gründen von hoher Relevanz. In seiner Perspektive war es essentiell, dass Lehrende die gesellschaftliche Funktion der ‚Éducation‘ verstehen und einen Einblick in die soziale Funktion der Institution ‚Schule‘ erhalten. Um folgende Ziele zu erreichen, benötigen sie seiner Ansicht nach eine soziologische Ausbildung:

„An einem bestimmten Punkt ihrer Ausbildung müssen sie in die Lage versetzt werden, das Schulsystem in seiner ganzen Reichweite zu erfassen, an dessen Leben teilzunehmen sie aufgerufen sind; sie müssen erkennen, was seine Einheit ausmacht, das heißt, welches Ideal es realisieren soll und wie alle Teile, die dazu gehören, diesem letzten Ziel gemeinsam zustreben sollen“ (Durkheim 1922, S. 99).

Anhand des Begriffes ‚soziale Tatsache‘ definiert Durkheim den Gegenstand der Soziologie. Im Gegenteil zu natürlich-biologischen und zu psychisch-geistigen Tatbeständen sind diese durch ihren Ding- und ihren Zwangscharakter gekennzeichnet (Garcia 2022, S. 27). Ersterer bedeutet eine Unabhängigkeit von individuellen Willensbekundungen. Der Zwangscharakter wird von den Individuen beim Denken, Fühlen, Sprechen und Handeln erfahren. Durkheims Auffassung ist, dass Soziales durch Soziales erklärt werden soll. Beispielsweise hat er den Selbstmord, d.h. eine Handlung mit klaren körperlichen und psychischen Zusammenhängen, als soziale Tatsache untersucht (Durkheim 1897). In seiner Studie fokussiert er sich nicht darauf zu verstehen, warum, wann oder wo eine Person sich das Leben nimmt, sondern wie in einer Gesellschaft Selbsttötung begangen wird. Die Anwendung dieser Perspektive auf Sozialisations- und Bildungsprozesse erklärt, weswegen laut Durkheim Soziolog:innen nicht danach streben sollten, neue Erziehungsideale zu entwerfen. Ihre Aufgabe ist es auch nicht, über die Altersgerechtigkeit von Lerninhalten und -mitteln im Hinblick auf die durchschnittliche kognitive Entwicklung oder die emotionale Reife von Schüler:innen zu urteilen. Kurz gesagt: Von Soziolog:innen kann ‚nur‘ erwartet werden, dass sie herausarbeiten, wie die ‚Éducation‘ als ‚Ding‘ tatsächlich verläuft und nicht, wie sie sein sollte.

Um die sozialen Tatsachen wie Dinge analysieren zu können, sollte der erste Schritt sein, sich von allen vorgefassten Vorstellungen zum untersuchten Gegenstand zu distanzieren (Durkheim 1895, S. 117 ff.). Hierbei kann ein vergleichender Blickwinkel hilfreich sein. Denn durch diesen fällt es leichter, sich von den kulturell selbstverständlichen Kategorien zu lösen und die Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsmuster, die im Rahmen der eigenen Sozialisationsprozesse verinnerlicht wurden, eben als solche wahrzunehmen. Den vergleichenden Blickwinkel hält Durkheim auch für besonders wichtig, denn im Gegensatz zu Naturwissenschaftler:innen haben Soziolog:innen nicht die Möglichkeit, Methoden des Experiments im Labor einzusetzen. Ihre Analyse sollte sich daher auf vergleichsbasierte Denkexperimente stützen. Durkheim nach können hierbei drei Strategien verfolgt werden: die Suche nach kausalen Zusammenhängen anhand systematischer Beobachtungen von parallelen Variationen; die Gegenüberstellung unterschiedlicher Formen eines Phänomens in verschiedenen Gesellschaften im synchronen Vergleich sowie das Nachzeichnen langfristiger Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft im diachronen Vergleich (a.a.O., S. 104 ff.).

Solch ein vergleichender Denkweg ist ebenso für die ‚Éducation‘ möglich. Ihre Ziele und Methoden unterscheiden sich sowohl von Gesellschaft zu Gesellschaft als auch innerhalb ein und derselben Gesellschaft. Die tatsächliche soziale Praxis der Erziehung und der Bildung variiert je nach Epoche, Ort oder Schicht. In seinen Vorlesungen für das Fach Pädagogik stützt sich Durkheim besonders häufig auf den damaligen Kenntnisstand über die Antike, das Mittelalter oder die Renaissance, um bei seinen Ausführungen einen Bruch mit dem Vorwissen seiner Zuhörer zu erreichen. Indem er historisch-empirisch vorgeht, zeigt er, inwiefern die ‚Éducation‘ abhängig von historischen und gesellschaftlichen Bedingungen ist und deswegen als eine soziale Tatsache kategorisiert werden muss.

Vor diesem Hintergrund unterscheidet Durkheim zwischen zwei Wesen, die in jeder sozialisierten Person koexistieren würden, nämlich das individuelle und das soziale Wesen. Die Erziehung versteht er als den Prozess, der die Entstehung der zweiten Seinsweise in jungen Menschen ermöglicht:

„In jedem von uns […] bestehen zwei Seinsweisen, die, obwohl sie auf dem Wege der Abstraktion unterscheidbar sind, sich doch nicht trennen lassen. Die eine setzt sich aus all den geistigen Zuständen zusammen, die sich nur auf uns selbst und die Ereignisse unseres persönlichen Lebens beziehen. Sie könnte man als das individuelle Sein bezeichnen. Die andere ist ein System von Ideen, Gefühlen und Praktiken, die in uns nicht unsere Persönlichkeit, sondern die Gruppe oder verschiedene Gruppen, denen wir angehören, ausdrücken […]. Ihre Gesamtheit bildet das soziale Sein“ (Durkheim 1922, S. 83).

Die auf das Kollektive bezogenen erlernten Geisteszustände entsprechen Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsmustern. Durkheim nach werden sie von den Älteren vermittelt und von den Heranwachsenden angeeignet. Er definiert daher die Erziehung als eine „planmäßige Sozialisation der jungen Generation“ (a.a.O., S. 30). Diese Prozesse finden sowohl bewusst als auch unbewusst statt und sind durch den Anschluss der Kinder und Jugendlichen an verschiedene soziale Gruppen bedingt – wie z.B. die Familie, die Schulklasse oder die Kirchengemeinschaft.

2.2 Die Sozialisation als Schlüssel zum gesellschaftlichen Fortbestand

Ein weiterer Grund, weswegen Durkheim sich mit Sozialisationsprozessen auseinandersetzt, steht am Schnittpunkt zwischen biografischen Elementen und wissenschaftlichen Interessen. Es handelt sich um die Befürchtung vor einem Zerfall der modernen Gesellschaft. Als Einwohner Lothringens erlebte er als 12-Jähriger die Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg, die Grenzverschiebung nach Westen, den Fall des Zweiten französischen Kaiserreiches sowie die Pariser Kommune. Aus dieser Zeit behielt er eine tief liegende Angst vor dem Auseinanderbrechen der französischen Nation.

Als überzeugter Republikaner war Durkheim der Meinung, dass ihm die Aufgabe oblag, seinen Mitbürger:innen dabei zu verhelfen, einen Weg in eine vereinte und solidarische Gesellschaft zu finden (Sintomer 2009). Trotz der politischen Stabilität während der Dritten Republik beobachtete er mit großer Besorgnis eine zunehmende Desorientiertheit der Einzelnen (Filloux 1994, S. 8). Er diagnostizierte eine sich ausweitende moralische Krise im Zusammenhang mit dem raschen sozialen Wandel u.a. infolge von politischen, industriellen und ethischen Revolutionen (Müller 2019, S. 128). Seiner Ansicht nach könnte diese nur über die Vermittlung und Aneignung von gemeinsamen Normen und Werten sowie durch eine Steigerung der Solidarität zwischen den Gesellschaftsmitgliedern überwunden werden. Durkheims Bestreben eine Krisenanalyse der französischen Gesellschaft vorzulegen und zu deren Lösung beizutragen, zieht sich durch seine Publikationen. Im Buch Der Selbstmord (1897) analysiert er besonders vertieft einen Selbsttötungstyp, dessen schnelle Verbreitung er in den westlichen Gesellschaften aufzeigt: Der anomische Selbstmord. Dieser wird als die Folge eines Zustandes mangelnder sozialer Ordnung – d.h. einer Situation der Normlosigkeit – definiert. Die Verbreitung dieses Selbstmordtyps erklärt er als eine sozial-pathologische Auswirkung der zu zügig beschleunigten Arbeitsteilung während der Industrialisierung. Durch zunehmende Arbeitsteilung stehen die Individuen in ungenügend intimen und dauerhaften Beziehungen, was eine Schwächung des Kollektivbewusstseins mit sich bringt. Dies erschwere das Entstehen und Fortbestehen eines Systems gemeinsamer Regeln.

In Berufs- und Fachverbänden sieht er die einzigen sozialen Milieus, in welchen die Bildung kollektiver Vorstellungen sowie die Entwicklung eines tiefen Zusammengehörigkeitsgefühls erfolgen können (a.a.O., S. 450). Im Schlussteil dieses Buches diskutiert Durkheim aber auch die heilende Wirkung anderer Institutionen – z.B. der Familie, der religiösen Gemeinschaften oder der Schule. An der Effizienz einer Bekämpfung der moralischen Krise durch die Erziehung zweifelt er in dieser Veröffentlichung, denn sie sei „nur Abbild und Widerschein der Gesellschaft, die sie nachahmt und zusammengedrängt wiedergibt, aber nicht neu schafft“ (Durkheim 1897, S. 450). Seine Ansicht zum Wirkungspotenzial von Bildungseinrichtungen änderte sich jedoch später grundlegend. Nämlich als er erkannte, dass ein Verständnis für die Relevanz ihrer sozialen Funktion durch die Pädagog:innen für das Weiterbestehen der modernen Gesellschaft bzw. zur Aufhebung des Zerfallsrisikos von großer Tragweite sein könnte. Dieses Bewusstwerden seitens der Lehrkräfte könne dank einer Einführung in das soziologische Denken erreicht werden.

Somit wurde die ‚Éducation‘ zu einer Art ‚Wundermittel‘ in Durkheims Theorie des Sozialen. Sie sei in der Lage, das Übel, an dem die arbeitsteilige Gesellschaft kränke, schon an der Wurzel zu treffen. Sie charakterisieren nämlich zwei Aspekte, die für den Erhalt von modernen Gesellschaften prägend sind: das ‚Einzige‘ und das ‚Mannigfaltige‘. Das Einzige besteht in einer gemeinsamen Grundlage an „Ideen, Gefühlen und Praktiken“ (Durkheim 1922, S. 28), die in der Schule an alle Heranwachsenden heranangetragen wird. Unter diesem Aspekt gilt die ‚Éducation‘ als ein Homogenisierungsprozess. Das Mannigfaltige besteht im Gegensatz dazu in spezialisierten Wissen und spezifischen Eignungen je nach Milieu – z.B. nach sozialer Klasse, Religion oder Beruf. Unter diesem Aspekt wirkt die Erziehung als ein Differenzierungsprozess. Sowohl das Einzige als auch das Mannigfaltige hält Durkheim für den Fortbestand einer modernen Gesellschaft für unerlässlich, da sie für die Entfaltung eines Kollektivbewusstseins sowie die Entwicklung einer Kohäsion zwischen Menschen sorgen, die gegenseitig aufeinander angewiesen sind:

„Erziehung […] ist vor allem das Mittel, mit dem die Gesellschaft ständig neu die Bedingungen ihrer Existenz schafft. Die Gesellschaft kann nur überleben, wenn unter ihren Mitgliedern eine ausreichende Homogenität existiert. Die Erziehung pflanzt diese Homogenität fort […]. Aber auf der anderen Seite ist ohne eine gewisse Verschiedenheit jegliche Kooperation unmöglich. Die Erziehung sichert den Bestand dieser notwendigen Verschiedenheit, indem sie sich selbst differenziert und spezialisiert“ (a.a.O., S. 83).

Auch wenn dem französischen Soziologen bewusst ist, dass die ‚Éducation‘ innerhalb der Familie beginnt, fokussiert er seine Analysen auf Bildungseinrichtungen und hier insbesondere auf Grundschulen. Die Sozialisationsprozesse, die im Alter von sechs bis zehn Jahren unter der Obhut von Lehrkräften stattfinden, bewertet er als ausschlaggebend für die Aneignung von gemeinsamen Normen und Werten sowie die Vermittlung von spezialisiertem Wissen und Können. Auch wenn die Bildungsphase, die er als die Grundsäule für die moralische Erziehung definiert, zum großen Teil unter der Obhut von Lehrerinnen stattfand, nimmt er an keiner Stelle seiner Beiträge und Vorlesungen über die ‚Éducation‘ Bezug auf vergeschlechtlichte Elemente.

3 Die moralische Homogenisierung von Schüler:innen

Damit der soziale Zusammenhalt langfristig garantiert werden kann, sollten laut Durkheim die Individuen einen komplexen moralischen Kodex teilen, der sie trotz ihrer Heterogenität solidarisch handeln lässt. Er spricht hier von Moral, worunter er ein „System von Verhaltensregeln, das Achtung gebietet und zugleich anziehend und erstrebenswert ist“, versteht (Müller 2019, S. 136). Als französischer Republikaner strebt Durkheim nach einem Ideal, in welchem die geteilte Moral nicht gottorientiert, sondern menschenorientiert ist. Das bedeutet, dass die herrschenden Werte, Normen und Regeln weder auf sakralen Texten noch auf deren kirchlichen Deutungen beruhen sollten, sondern auf der menschlichen Vernunft. Dies wird als ‚laizistische Moral‘ bezeichnet. Eine derartige Säkularisierung der Moral meint jedoch keine Herabsetzung von religiösen Überzeugungen in Schulen. Der Glaube an übermenschliche Mächte wird aber als zweitrangig eingeordnet, d.h. als eine private Angelegenheit, die mit dem moralischen Kollektivbewusstsein nicht kollidieren dürfte. Durkheim nach bedarf die Verwirklichung dieses Ideals einen langjährigen Sozialisations- und Bildungsprozess unter der Obhut von aufgeklärten Lehrkräften.

Durkheim konzipierte seine Theorie in Bezug auf Erziehung und Bildung vor über einem Jahrhundert im Nachbarland Frankreich. Seine Analysen mögen daher zum Teil fremd erscheinen. Jedoch lassen sich in seinen Ausführungen Elemente finden, die heutzutage sowohl Soziolog:innen als auch Pädagog:innen zum Reflektieren anregen können. Daher soll im Anschluss an die Erläuterung seiner einzelnen Thesen skizzenhaft der Frage nachgegangen werden, welche Elemente aus seiner Sozialisationstheorie weiterhin im pädagogischen Alltag anwendbar sind.

3.1 Das Pflichtbewusstsein wecken

Der erste Prozess der Moralerziehung, der von Durkheim herausgearbeitet wird, ist das Erlangen einer Denkhaltung, die auf freiwillig angenommenen Kollektivgewohnheiten beruht. Er nennt sie den Geist der Disziplin. Damit das Kind ein Gefallen bzw. ein Bedürfnis nach Regelmäßigkeit entwickelt, muss es seiner Vorstellung nach einen Respekt vor Autorität empfinden. Das eine sei vom anderen nicht zu trennen:

„Der Sinn der Regelmäßigkeit und der Sinn der Autorität sind nur zwei Ansichten eines und desselben komplizierten Geisteszustandes, den man den Geist der Disziplin nennen kann. Der Geist der Disziplin, das ist die erste Grundeigenschaft eines jeden moralischen Verhaltens“ (Durkheim 1934, S. 88).

Der Geist der Disziplin bringt eine Regulierung der Wünsche und Verhaltensweisen mit sich, die in Durkheims Auffassung nicht auf einem erzwungenen Disziplinierungsprozess, sondern auf einer aufgeklärten Zustimmung beruht. Beispielweise sind in Frankreich – d.h. im Lande Louis Pasteurs – Impfungen gegen elf Krankheiten Pflicht für alle dort wohnenden Babys unter einem Jahr (Diphtérie, Tetanos, Poliomelitis, Keuchhusten, Hepatitis B, Masern, Mumps, Röteln, Haemophilus influenzae Typ b, Pneumokokken und Meningokokken C). Diese werden aus moralischen Gründen von den Ärzt:innen im Einverständnis der Erziehungsberechtigten durchgeführt, insofern sie die Autorität der wissenschaftlichen und staatlichen Instanzen anerkennen, die diese Praktiken vorgeben. Sie erfolgen daher infolge eines Pflichtbewusstseins, was dem Schutz der Gesundheit aller Kinder und die Vorbeugung von Epidemien betrifft.

Dem Geist der Disziplin schreibt Durkheim schließlich eine große Auswirkung bezüglich des Kampfes gegen die Anomie zu. Die Normen und Regeln, die der moralisch erzogene Mensch alltäglich beachtet, bilden nämlich um ihn herum einen „Schutzwall“ (a.a.O., S. 95). Indem die Willkürlichkeit der individuellen Leidenschaften und Träume gezügelt wird, werden Wünsche und Hoffnungen erfüllbar. Der Frust und die Unausgeglichenheit minimieren sich. Kurz gesagt: Sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft führt die Verinnerlichung des Geistes der Disziplin zu einer heilsamen Selbstbeherrschung:

„Die Disziplin ist also nicht nur im Interesse der Gesellschaft nützlich und das unentbehrliche Mittel, ohne das keine geregelte Zusammenarbeit möglich ist, sondern auch im Interesse des Individuums selbst. Denn durch sie lernen wir jene Zurückhaltung der Wünsche, ohne die der Mensch nicht glücklich sein könnte. […] Ich füge hinzu, daß es vor allem in demokratischen Gesellschaften wie der unsrigen unentbehrlich ist, dem Kind diese heilsame Mäßigung zu lehren“ (a.a.O., S. 101).

Die Vorliebe für die Begrenzung der Wünsche und Hoffnungen sowie dem Vorhandensein von geregelten Handlungsabläufen macht es laut Durkheim möglich, dass die Kinder nicht „sehr schnell der Sklave [ihrer] tyrannischen Leidenschaften“ werden (Müller 2019, S. 141). Insofern sie in der Schule soziale Normen, Regeln und Ordnung vermittelt bekommen, minimiert sich die Gefahr einer Anomie. Zu den damaligen Zeiten litten die Gesellschaftsmitglieder an Desorientierung und Frustration u.a., wenn sich Berufswünsche als unerreichbar darstellten. Für Durkheim ist zentral, dass während der ablaufenden Orientierungsprozesse nur Talente und Kompetenzen der einzelnen Schüler:innen berücksichtigt werden sollten. Nach diesem meritokratischen Ideal haben bloß die individuellen Leistungen die Chancen auf Zugang zu gewissen schulischen und beruflichen Positionen zu bestimmen. Die Wünsche der Heranwachsenden und ihrer Eltern sollten zweitrangig sein, wenn Pädagog:innen Hinweise zum Ausbildungspotenzial oder zur Berufsorientierung geben. Heutzutage hat sich jedoch der Zugang zu den meisten Berufsgruppen demokratisiert. In nur sehr wenigen Arbeitsbereichen besteht ein Zutrittsverbot aufgrund einer kategorialen Zugehörigkeit, wie es beispielsweise die Mindestgröße bei Flugbegleiter:innen oder die Staatsbürgerschaft bei Richter:innen darstellt.

In der mediatisierten Gesellschaft sind jedoch occupations entstanden, die den Heranwachsenden versprechen, mit wenig Mühe viel Geld und Berühmtheit zu erlangen – wie Influencer:innen oder Realitystars. Tagtäglich werden Jugendliche mit Personen konfrontiert, welche die Ausübung ihres Berufes als Lebensfreude bringende Selbstverwirklichung darstellen, diese mit einer hohen Anerkennung in der digitalen Welt verbinden sowie mit einem monetären Vorteil einhergehenden Erfolg prahlen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2021; 2022). Weder Disziplin noch Mühe scheinen auf den ersten Blick Vorbedingungen für die Erfüllung von Wünschen zu sein, wie hochwertige Kosmetikprodukte, aktuelle Gamingausstattungen oder luxuriöse Auslandsreisen. Die besprochenen Themen beziehen sich auf Alltagsbereiche, wie Computerspiele und Beauty, d.h. Bereiche, die die Lebenswelt vieler Heranwachsenden prägen. Vor diesem Hintergrund wirft sich die Frage auf, inwiefern die Moralerziehung innerhalb der Schule dazu dienen kann, die Jugendlichen vor Angst und Unzufriedenheit zu schützen, indem ihre Wünsche in der sozialen Realität verankert und daher erfüllbar bleiben. Für die Vermittlung von Medienkompetenz können sich Pädagog:innen aktuell auf Ressourcen von öffentlichen Instanzen stützen, denn diese gilt als „vierte Schlüsselqualifikation für ein selbstbestimmtes Leben“ (Die Bundesregierung, 2023). Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat einige Ratgeber veröffentlicht, welche sich an pädagogische Fachkräfte richten, um diesen Schwerpunkt mit den Heranwachsenden umfänglich zu bearbeiten. Hinzukommt u.a. die gemeinsam von der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur sowie dem BMFSFJ durchgeführte Verleihung des Dieter Baacke Preises, um bundesweit Projekte zu ehren, die Kindern, Jugendlichen und Familien einen kritischen Umgang mit Medien vermitteln. Zur Vertiefung ihrer Kenntnisse haben Lehrkräfte darüber hinaus Zugang zu Ergebnissen aus Forschungsprojekten, die sich mit den Medienkompetenzen von Schüler:innen beschäftigen (u.a. Eickelmann et al. 2019; Learnattack Duden 2019).

Zusammenführend bedeutet das: Der Geist der Disziplin als erster Prozess der Moralerziehung ist durch die Einbindung der Heranwachsenden in die Schule untrennbar mit dieser verwoben. Im Kampf gegen die Anomie ist es bedeutsam, zu einer Selbstbeherrschung zu gelangen, wofür innerhalb von Bildungsorganisationen soziale Normen und Regeln vermittelt werden. Die in den letzten beiden Jahrzehnten zu beobachtende starke Mediatisierung unserer Gesellschaft betrifft Schüler:innen besonders stark, wonach es unumgänglich wird, diesbezüglich im schulischen Kontext die Entwicklung einer kritischen, eigenen Haltung bei Heranwachsenden zu fördern.

3.2 Das ‚Wir‘ erlernen

Das zweite Element der Moralität, die laut Durkheim Kinder insbesondere in der Schule erlangen können, ist der Anschluss an die sozialen Gruppen. Die Zentralität dieses Elements beruht darauf, dass in seiner Auffassung eine moralische Handlung durch unpersönliche Ziele begründet wird. Demnach sind Moralhandlungen überindividuell, während die aus persönlichem Interesse motivierten Handlungen amoralisch sind. Mit anderen Worten: Nicht die Handlung an sich ist moralisch oder amoralisch, sondern die eine und selbe Handlung kann moralisch oder amoralisch sein, je nachdem, ob durch ihre Durchführung individuelle oder überindividuelle Ziele verfolgt werden. Diese Idee kann an den hygienischen Handlungen während der Corona-Pandemie zwischen 2020 und 2022 illustriert werden. Wenn Durkheims Definition angewendet wird, heißt es, dass falls ein Individuum seine Hände sehr regelmäßig und sorgfältig wäscht, weil es das Risiko minimieren will, sich mit dem Virus zu infizieren oder eine Maske aus Furcht vor der Zahlung eines Bußgeldes trägt, diese hygienischen Handlungen als amoralisch zu definieren sind. Dieselben Handlungen wären jedoch als moralisch einzuordnen, falls das Individuum damit die Ansteckungsketten unterbrechen oder der Überlastung von Krankenhäusern vorbeugen möchte. Kurz gefasst: „Moralisch handeln heißt, im Hinblick auf ein Kollektivinteresse [zu] handeln“ (Durkheim 1934, S. 111).

Das Erlernen des überindividuellen ‚Wir‘ beginnt sehr früh innerhalb der Familie, insofern dem Kind vorgelebt wird, dass die Mitglieder mit ihren Handlungen nicht das eigene Wohlbefinden, sondern den Zusammenhalt dieser kleinen sozialen Einheit verfolgen. Innerhalb der Schule wird das Kind nun mit der Pluralität und Abstraktheit von Gruppenzugehörigkeiten konfrontiert. In Durkheims Auffassung findet es dort den Anschluss an eine Klasse, an eine Schule, an ein Vaterland und schließlich an die Menschheit. Im Rahmen der Sozialisations- und Bildungsprozesse können die Lehrenden nämlich moralische Prinzipien und Regeln mit unterschiedlicher Reichweite und Allgemeinheit vermitteln. In der Klasse werden z.B. überindividuelle Ziele zur moralischen Gestaltung und Bestreitung des gemeinsamen Alltags verfolgt. Während der Wissensvermittlung können darüber hinaus abstraktere moralische Inhalte beigebracht werden. Dies geschieht u.a. im Geschichtsunterricht oder in Gemeinschaftskunde, wenn die demokratischen Ideale oder die Menschenrechte besprochen werden. Hierdurch integrieren sich die Kinder in die sozialen Gruppen ‚Staatsbürgertum‘ oder ‚Menschheit‘. Sie entwickeln eine moralisch begründete Solidarität mit Lebewesen, denen sie nie begegnen werden (a.a.O., S. 131).

Bei der Schilderung dieses zweiten Elements der Moralerziehung wird erläutert, weswegen Schüler:innen beigebracht werden sollte, dass ihre individuellen Interessen unter denjenigen der Gruppe zu stehen haben. Da sie als Nicht-Erwachsene noch nicht in der Lage seien, den Anschluss an die Gesamtgesellschaft zu erlangen, sollten zunächst Momente der Verbundenheit innerhalb der Klasse oder der Schule gefördert werden. Kaum vorstellbar ist es sich – wie zu Lebzeiten Durkheims – auf die Großartigkeit des Vaterlandes (patrie) im Vergleich mit anderen Staaten zu stützen. Ein wesentlicher Bestandteil sind die in den Schulen fest verankerten Klassensprecher:innen, die in den anderen schulischen Gremien als Vertreter:innen ihrer Klasse fungieren. Dabei steht nicht die Durchsetzung ihrer individuellen Interessen im Vordergrund, sondern die Orientierung am Gemeinschaftswohl.

Darüber hinaus kann der Anschluss an das ‚Wir‘ generationell hergestellt werden, indem die Kinder bzw. Jugendlichen als Gemeinschaft das Wohlergehen anderer Heranwachsender in den Vordergrund ihrer Handlungen stellen. Dies kann beispielsweise durch einen mithilfe der Planungsmaterialien von der internationalen Organisation UNICEF ausgerichteten Spendenlaufmarathon „Wir laufen für UNICEF“ ermöglicht werden. Bei diesem Vorhaben sind die Schüler:innen im Vorfeld dazu aufgefordert, sich Sponsor:innen aus ihrem familiären, freundschaftlichen oder nachbarschaftlichen Netzwerk zu suchen, um während des Laufs pro Kilometer bzw. Runde im Anschluss einen gewissen Betrag zu erhalten. Die auf diese Art und Weise gesammelten Gelder werden zur Hälfte an UNICEF gespendet, während der restliche Betrag für die eigene Schule verwendet werden darf.

Es kann festgehalten werden, dass aus der Durkheimschen Perspektive der Klassenverband den Schüler:innen einen Raum bietet, um das ‚Wir‘ in unterschiedlichen Situationen zu erlernen. Die Klasse und später die Schule werden zu überindividuellen Gemeinschaften, die als Bindeglied zwischen dem eigenen Ich und der Gesellschaft bzw. der Menschheit fungieren.

3.3 Eine aufgeklärte Zustimmung fördern

Die Autonomie des Willens ist das dritte Element der Moralität, das in Durkheims Auffassung in der Schule erlangt wird. Damit ist gemeint, dass eine Handlung als moralisch eingeordnet werden kann, insofern sie die Folge einer bewussten und informierten Zustimmung ist. Anders gesagt: Die Begrenzung der Träume und Hoffnungen, die dank einer Selbstbeherrschung ermöglicht wird, sollte weder durch gezwungene Unterwerfung noch durch „passive[n] Gehorsam“ (a.a.O., S. 163) erreicht werden:

„Um moralisch zu handeln, genügt es nicht, […] die Disziplin zu respektieren und an eine Gruppe angeschlossen zu sein; wir müssen uns auch […] der Gründe unseres Handelns bewußt sein, und zwar so deutlich und so vollständig wie möglich. Dieses Bewußtsein vermittelt unserer Handlung jene Autonomie, die das öffentliche Bewußtsein von nun an von jedem wirklich und völlig moralischen Wesen verlangt“ (a.a.O., S. 164 f.).

Für Lehrende heißt es, dass sie moralische Prinzipien nicht nur ansprechen und vorleben sollen, sondern sie müssen diese den Schüler:innen erklären. Aus der Durkheimschen Perspektive sollte ‚Bestrafen‘ ganz klar nur ‚Tadeln‘ heißen, denn die moralische Autorität zu bewahren, ist für ihn die einzige legitime Funktion der Strafe. Der aktuelle Stand an natur-, geistes- und sozialwissenschaftlichen Kenntnissen ist den Schüler:innen auf eine Art und Weise zugängig gemacht zu werden, dass sie nachvollziehen, wie eine moralische Regel entstanden ist und inwiefern sie Veränderungen erfahren hat. Es können Beobachtungen und kleine Experimente durchgeführt werden, um sichtbar zu machen, was für Folgen das Nicht-Beachten von Regeln haben könnte.

Ein aktuelles Beispiel stellt der Umweltschutz dar. Heutzutage herrscht in westeuropäischen Gesellschaften die Vorstellung, dass das menschliche Handeln gegenüber der Natur sich an moralischen Werten orientieren sollte. Eine selbstbeherrschte Verwendung von Ressourcen der Erde und ein verantwortungsbewusster Umgang mit Tieren, Biotopen und Ökosystemen gilt als eine moralische Verpflichtung gegenüber anderen Lebewesen sowie zukünftigen Menschengenerationen. Moralische Naturschutzhandlungen erfolgen mit Blick auf den wissenschaftlichen Kenntnisstand und sind daher das Ergebnis einer aufgeklärten Zustimmung. Mit anderen Worten: Um ökologische Probleme vorzubeugen bzw. zu lösen, werden alle drei Elemente der Moralität benötigt, nämlich eine Selbstdisziplinierung, der Anschluss an soziale Gruppen und der autonome Einsatz des Willens. Vor diesem Hintergrund ist die Förderung der Einsichts- und Reflexionsfähigkeit von Schüler:innen über einen schonenden Umgang mit Natur und Umwelt eine der Aufgaben, die Lehrkräfte im Rahmen der Moralerziehung übernehmen können. Über die reine Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen hinaus sollten sie – in einer durkheimschen Perspektive – eine kritische Analyse des Kenntnisstandes und die Bildung einer aufgeklärten Haltung fördern.

Im dritten Element der Moralerziehung wird von den Schüler:innen erwartet, dass sie moralische Normen und Werte nicht aus blindem Gehorsam verfolgen, sondern aus dem moralischen Bewusstsein der eigenen Pflicht heraus. Eine derartige aufgeklärte Zustimmung ist das Produkt von komplexen Erziehungs- und Bildungsprozessen, welche aus den Heranwachsenden autonome Individuen werden lassen. Die Schüler:innen können zu ihren eigenen Erkenntnissen und Beurteilungen durch gemeinsame Erfahrungen im Rahmen von kleinen Experimenten im regulären Unterricht oder von größeren Vorhaben während einzelner Projekttage bzw. -wochen gelangen, beispielsweise durch das Anbieten von Projekten zu dem Thema Klimawandel sowohl in der Grundschule als auch in der Sekundarstufe. Die Heranwachsenden setzen sich in diesem Rahmen u.a. mit den Erderwärmungsprozessen und seinen Auswirkungen auf die Meere oder mit einer Steigerung der alltäglichen klimafreundlichen Verhaltensweisen auseinander. Es wird ihnen dadurch ermöglicht, Handlungserkenntnisse zu gewinnen, die anschließend im außerschulischen Bereich angewendet werden. Schulen haben die Möglichkeit, über die Homepage www.klimawandel-schule.de, welche u.a. von der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft unterstützt wird, einen sogenannten Klimakoffer zu erwerben, den Pädagog:innen einsetzen können, um Kindern und Jugendlichen anhand von Experimenten die wissenschaftlichen Hintergründe sowie Folgen des Klimawandels zu veranschaulichen.

Zusammenfassend bedeutet dies: Die Autonomie des Willens als das dritte Element der Moralität erlangen die Heranwachsenden durch das Bewusstsein und die Kenntnisse bezüglich der Hintergründe von moralischen Prinzipien. Das Reflektieren und Verstehen der herrschenden Normen und Werte ist also eine wichtige Säule der in der Schule vermittelten Bildung, um die Heranwachsenden zu autonomen Akteur:innen werden zu lassen.

In Durkheims Auffassung spielen die Lehrkräfte somit eine zentrale Rolle beim Erlangen der drei Elemente der weltlichen Moralität. Um ihren Beitrag zur moralischen Heilung der modernen Gesellschaft zu leisten, können sich die Pädagog:innen auf Veranlagungen stützen, die Durkheim nach im Kind schon vor seiner Einschulung vorhanden seien. Diese drei Eigenschaften sind die „Vorliebe für eine regelmäßige Existenz“ (a.a.O., S. 173), die „Fähigkeit des Kindes, sich mit anderen Dingen als mit sich selbst zu solidarisieren“ (a.a.O., S. 255) sowie die „unermüdliche […] Neugier, mit der das Kind Eltern und Lehrer verfolgt“ (a.a.O., S. 175).

4 Ausblick – Durkheim, ein ‚Mann unserer Zeit‘?

Über 100 Jahre nach Durkheims Tod stellt sich die Frage nach der Aktualität seiner Perspektive für unsere heutige Zeit. Einige seiner Aussagen mögen für zeitgenössische Leser:innen befremdlich erscheinen oder sie vielleicht sogar empören. Seine Analysen waren nämlich teilweise in den damals dominanten Sichtweisen im Wissenschaftsbereich gefangen, in welchem evolutionistische Annahmen und Geschlechterblindheit bzw. Androzentrismus die Norm waren. So orientierte er sich beim Konzipieren seiner epistemologischen Prinzipien an dem Vorbild von naturwissenschaftlichen Fachbereichen, deren Wissenschaftlichkeit damals hoch anerkannt war, und die als Legitimationsinstanzen für evolutionistisch begründete Hierarchien zwischen Menschen je nach Hautfarbe oder Geschlecht dienten, welche sich in Durkheims Schriften wiederfinden lassen (Garcia 2022, S. 26 ff.). In seinen Ausführungen über die ‚Éducation‘ – sogar der sexuellen Erziehung (Durkheim 2011) – erhielten Geschlechterkomponenten keine Aufmerksamkeit. Denn er setzt entweder das Männliche mit dem Allgemein-Menschlichen gleich oder er naturalisiert das Weibliche, sodass nur die Denk- und Handlungsweisen von männlichen Gesellschaftsmitgliedern als ‚soziale Tatsachen‘ Gegenstand der soziologischen Analyse sein dürfen.

Dies illustriert, wie beträchtlich und allgegenwärtig die Herausforderung ist, damit sich derzeit dominierende Wissenssysteme und breit geteilte Wertorientierungen nicht mit der Stille der Selbstverständlichkeit in die Analyse einschleichen. Nichtsdestotrotz bleiben sein begriffliches Instrumentarium und sein theoretisches Gerüst wertvolle Bereicherungen bei der Betrachtung von aktuellen Diskursen in Bezug auf die gegenwärtige Desorientiertheit von Individuen sowie auf die künftigen Entwicklungen von westlichen Gesellschaften.

Für in der Schule tätige Pädagog:innen kann der Durkheimsche Gedankenweg nach wie vor bereichernd sein, um sie für ihre Schlüsselfunktion in der modernen Gesellschaft zu sensibilisieren und ihnen ihren Beitrag zur Stabilisierung der sozialen Ordnung nachvollziehbar werden zu lassen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Aus- und Weiterbildung von (angehenden) Lehrkräften im soziologischen Denken besonders relevant. Denn in ihrem beruflichen Handeln wird von ihnen erwartet, dass sie während alltäglicher Interaktionen mit Schüler:innen eine reflektierte Haltung einnehmen und sich in Hinblick auf organisationale und gesellschaftliche Herausforderungen positionieren. Hierbei können sie sich selbstverständlich auch auf aktuellere und sich auf Deutschland fokussierende Studien weiterer Soziolog:innen stützen.

5 Literaturverzeichnis

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[1] Diesem Beitrag liegt die in 2021 an der Technischen Universität Dresden gehaltene Habilitationsvorlesung von PD Dr. Anne-Laure Garcia zugrunde.

Verfasst von
PD Dr. Anne-Laure Garcia
Vertretungsprofessorin Lehrstuhl für Mikrosoziologie (Interaktions- und Sozialisationsforschung)
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Dr. phil. Romy Simon
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
TU Dresden
Institut für Soziologie
Professur für Mikrosoziologie
(Interaktions- und Sozialisationsforschung)
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Es gibt 1 Materialie von Anne-Laure Garcia.
Es gibt 1 Materialie von Romy Simon.

Zitiervorschlag
Garcia, Anne-Laure und Romy Simon, 2023. Soziologie und Lehrerschaft [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 10.11.2023 [Zugriff am: 09.11.2024]. https://doi.org/10.60049/85x102ltq

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