Gerechtigkeit im Rentenrecht – der Wandel der Erwerbsverläufe und seine Auswirkungen auf die Rentenanwartschaften
Eine sozialethisch-lebenslauforientierte Perspektive
Inhalt
- 1 Hinführung
- 2 Eine sozialwissenschaftlich-empirisch informierte Skizze des Wandels der Erwerbs- und Lebensverläufe in Deutschland
- 3 Lebenslauforientierte Sozialethik und das Leitbild der Guten Erwerbsbiografie
- 4 Lebenslauforientierung – Guten Erwerbsbiografie – Rentenrecht: abschließende normative Reflexionen
- 5 Literatur
Zusammenfassung
Der Aufsatz geht der Frage nach (Lebenslauf-)Gerechtigkeit im Rentenrecht nach. Dabei werden zunächst die rechtlichen Grundkoordinaten der Deutschen Rentenversicherung, ihrer Prinzipien sowie der Art der Rentenberechnung skizziert. Kontrastierend wird in einem zweiten Schritt der Wandel der Erwerbs- und Lebensverläufe in Deutschland gründend auf einschlägigen sozialwissenschaftlichen Analysen, insbesondere der Studie „Das Recht auf eine selbstbestimmte Erwerbsbiografie“ und des Studienprojekts „Gute Erwerbsbiographien“ nachgezeichnet. Ausgehend von dem Ansatz einer lebens-lauforientierten Sozialethik und dem Konzept der Guten Erwerbsbiografie mitsamt dem postulierten Recht auf eine „selbstbestimmte Erwerbsbiografie“ wird eine kritische normative Analyse der dargelegten Koordinaten des Rentenrechts vor dem Hintergrund besagter Wandlungsprozesse vorgenommen, um das Prinzip der Lebenslauforientierung als sozialethisch gehaltvolles Orientierungsangebot für notwendige Reformen des Rentenrechts unter Berücksichtigung des Wandels der Gesellschaft und der Geschlechterrollen, der Individualisierung von Arbeitsbiografien und der Gefahr einer wachsenden Altersarmut zu profilieren. Normative Anschlussstellen für die Frage nach der Lebenslaufgerechtigkeit der Rentenversicherung sind bei dieser Analyse insbesondere die Begriffe Befähigung und Beteiligung.
1 Hinführung
Das Recht der deutschen Gesetzlichen Rentenversicherung beruht bis heute auf der Normalitätsfigur der von Ausbildungsende bis Renteneintritt kontinuierlichen, unbefristeten, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung mit existenzsichernden (Tarif-)Entgelten. Diese Normalitätsannahme wurde jedoch durch den sozialen Wandel in der pluralisierten und individualisierten Gesellschaft und durch die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in Frage gestellt.
Dieser Wandel der Erwerbsbiografien führt als ein Bündel externer Faktoren zu sinkenden Zahlbeträgen der gesetzlichen Rente, einer zunehmenden Ungleichheit der Rentenanwartschaften und der ansteigenden Gefahr gruppenspezifischer Altersarmut. Verstärkt wird diese Entwicklung zudem durch Rentensystem-interne Faktoren wie die Rentenniveauabsenkung, die Einführung von Rentenabschlägen und weitere leistungsmindernde rentenrechtliche Reformen der letzten zwanzig Jahre. Da für einen Großteil der Bevölkerung die Gesetzliche Rentenversicherung (im Folgenden „GRV“ abgekürzt) die wichtigste oder gar die einzige Form der Alterssicherung ist, rückte besonders das Thema einer gegenwärtig und vor allem zukünftig zunehmenden Altersarmut in Wissenschaft und Gesellschaft wieder stärker in den Fokus der Debatten, wie es auch bei den Diskussionen um die inzwischen beschlossene Grundrente der Fall war. Dabei steht auch die Legitimität und Akzeptanz der GRV auf dem Spiel. Die Gefahr einer zunehmend brüchigeren Alterssicherung für viele Menschen in Deutschland sehe ich daher als ein „Zeichen der Zeit“, das lösungsorientiertes sozialethisches Urteilen und sozialpolitisches Handeln verlangt.
Die von mir in diesem Aufsatz zu entfaltende und zu begründende sozialethische Leitthese lautet:
Eine arbeitsmarktpolitisch flankierte Reform der rechtlichen Ausgestaltung der Altersrente in der GRV, die dem Wandel der Lebensverläufe sowie dem damit einhergehenden Wunsch nach erwerbsbiografischer Selbstbestimmung Rechnung trägt und dabei zugleich ein hinreichendes Sicherungsniveau garantiert, ist ein drängendes aktuelles Gerechtigkeitsproblem – ein sozialethisch gehaltvolles Verständnis des Prinzips der Lebenslauforientierung basierend auf dem Leitbild der Guten Erwerbsbiographie vermag zur politischen Lösung dieses Problems als ein normativer Kompass zu dienen.
Dabei gehe ich wie folgt vor:
Als Erstes werde ich die rechtlichen Grundkoordinaten der Deutschen Rentenversicherung in Bezug auf die Altersrenten sowie die Art der Berechnung der Rentenhöhe skizzieren, wie sie im Sechsten Sozialgesetzbuch (SGB VI) kodifiziert sind.
Kontrastierend dazu wird in einem zweiten Schritt der Wandel der Erwerbs- und Lebensverläufe in Deutschland gründend auf einschlägigen sozialwissenschaftlichen Analysen, insbesondere des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studienprojekts „Gute Erwerbsbiographien“, in groben Linien nachgezeichnet.
Drittens: Ausgehend von dem methodischen Ansatz einer lebenslauforientierten Sozialethik werde ich das normative Leitbild der „Guten Erwerbsbiografie“ als jenes einer „verantwortet selbstbestimmten Erwerbsbiografie“ ausdeuten, das der armutsvermeidenden Absicherung im Sinne eines lebenslaufgerechten Rentenrechts bedarf.
Ziel dieser Abhandlung ist es demnach, auf Basis der vorgestellten Leitthese das Prinzip der Lebenslauforientierung als sozialethisch gehaltvolles Orientierungsangebot, ausgerichtet an einem pluralitätskompatibel interpretierten Leitbild der „Guten Erwerbsbiografie“, für die aus Gerechtigkeitssicht notwendige Reform des Rentenrechts unter Berücksichtigung des sozialen Wandels, der Individualisierung von Arbeitsbiografien und der Gefahr einer dadurch mitverursachten wachsenden Altersarmut zu profilieren. Normative Anschlussstellen für die Frage nach der Lebenslaufgerechtigkeit der Rentenversicherung sind bei dieser Analyse insbesondere die Begriffe Befähigung und Verantwortung sowie der Ausgang von einer „Option für die Altersarmutsgefährdeten“.
1.1 Rechtliche Grundkoordinaten der Altersrente und ihrer Berechnung nach SGB VI
Zunächst gilt: Rente ist nicht gleich Rente. Die Behörden der Deutschen Rentenversicherung als diejenigen Körperschaften des Öffentlichen Rechts, denen seit dem 1. Oktober 2005 die Aufgaben der umlagefinanzierten GRV als einem der fünf Zweige der deutschen Sozialversicherung zugeteilt sind, kennt grundlegend drei Rentenarten: Renten wegen Alters, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Renten wegen Todes (vgl. SGB VI § 33). Diese unterliegen allerdings nochmals einer Untergliederung; so gibt es etwa die Altersrente für langjährig Versicherte, die Altersrente für besonders langjährig Versicherte, die Rente wegen teilweiser oder aber wegen voller Erwerbsminderung, Waisenrente, Witwenrente und so fort. In Politik und Medien kursierende Rentennamen wie „Mütterrente“ oder „Grundrente“ bezeichnen dagegen bestimmte, in politische Schlagworte gefasste Reformansätze an den einschlägigen gesetzlichen Rentenarten. Hier interessiert uns jetzt nur die Rente wegen Alters (vgl. Abs. 2) und dabei wiederum schwerpunktmäßig die Regelaltersrente.
Einen Anspruch auf Regelaltersgrenze erlangen laut § 50 Abs. 1 SGB VI „nach dem 31.12.1963 geborene Versicherte, die das 67. Lebensjahr (Regelaltersgrenze) vollendet [persönliche Bedingung; L.S.] und die ,allgemeine Wartezeit‘ [die Mindestversicherungszeit als versicherungsrechtliche Bedingung; L.S.] von fünf Jahren erfüllt haben.“ Sind diese Voraussetzungen gegeben, kann die Regelaltersrente beantragt werden.
1.2 Die Rentenformel: Ermittlung der Rentenhöhe in der GRV
Die Deutsche Rentenversicherung ermittelt die Höhe der monatlichen Rente sodann auf Grundlage folgender, im § 63 SGB VI festgehaltener Grundsätze der Berechnungsformel:
„(1) Die Höhe einer Rente richtet sich vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen.“ Man spricht hierbei vom an der Idee der Leistungsgerechtigkeit orientierten Äquivalenzprinzip im Sinne einer relativen Teilhabe-Äquivalenz in der Rentenversicherung. Teilhabeäquivalenz bedeutet, dass die angesammelten Entgeltpunkte „die individuelle Höhe des verbeitragten Einkommens im Verhältnis zum jeweiligen Durchschnittseinkommen“ (Bäcker 2020, 27 f.) widerspiegeln. Ergänzt wird das Äquivalenzprinzip durch jenes des solidarischen Ausgleichs, etwa durch die Berücksichtigung von Erziehungs- und Pflegezeiten bei der Berechnung der Rentenhöhe, wodurch von der GRV auch soziale Umverteilungswirkungen ausgehen.
„(2) Das in den einzelnen Kalenderjahren durch Beiträge versicherte Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen wird in Entgeltpunkte umgerechnet. Die Versicherung eines Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens in Höhe des Durchschnittsentgelts eines Kalenderjahres (Anlage 1) ergibt einen vollen Entgeltpunkt.“ Zur Orientierung: Das statistische Durchschnittsentgelt gemäß Sozialversicherungs-Rechengrößenverordnung 2020 liegt für dieses Jahr vorläufig bei 40.551 Euro Jahreseinkommen; das sind knapp 3.400 Euro Monatsbruttoeinkommen. Wer weniger verdient, erhält keinen vollen, sondern nur einen anteiligen Entgeltpunkt für dieses Jahr.
„(4) Das Sicherungsziel der jeweiligen Rentenart im Verhältnis zu einer Altersrente wird durch den Rentenartfaktor bestimmt.“ &ndash. Das heißt, Altersrenten haben den Faktor 1,0, Teilerwerbsminderungsrenten hingegen 0,5 und so fort.
„(5) Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer werden durch einen Zugangsfaktor vermieden.“ Das heißt: Wer früher in Rente geht, als es die Regel ist, muss Rentenabschläge in Kauf nehmen, wer über die Regelaltersgrenze hinaus länger arbeitet erhält hingegen Zuschläge auf seine spätere Rente.
„(6) Der Monatsbetrag einer Rente ergibt sich, indem die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte mit dem Rentenartfaktor und dem aktuellen Rentenwert vervielfältigt werden.“ – Grundsatz sechs enthält also die konkrete Berechnungsformel der Rentenhöhe, auch „Rentenformel“ benannt: Höhe der Monatsrente = Summe der Entgeltpunkte x Aktueller Rentenwert x Rentenartfaktor x Zugangsfaktor (vgl. dazu Ebert 2018, 50 f.)
„(7) Der aktuelle Rentenwert [d.h. der Wert eines Entgeltpunktes; L.S.] wird entsprechend der Entwicklung des Durchschnittsentgelts unter Berücksichtigung der Veränderung des Beitragssatzes zur allgemeinen Rentenversicherung jährlich angepasst.“ (SGB VI § 63). Aus dem Aktuellen Rentenwert wird auch der in den medialen Debatten vielfach zitierte Vergleichsmaßstab der sogenannten „Standardrente“ abgeleitet (§ 154 Abs. 3a SGB VI). Das „ist die fiktive Rente, die ein das ganze Erwerbsleben über konstant durchschnittlich Verdienender mit 45 Beitragsjahren erreicht; man kann auch sagen, dass die Standardrente die Rente aus 45 Entgeltpunkten ist.“ (Ebert 2018, 54). Zur Veranschaulichung: 2016/2017 ergab diese Punktezahl in Westdeutschland eine Rente in Höhe von 1.370,25 Euro brutto, also vor Steuern (gesetzliche Renten werden Jahr für Jahr zunehmend besteuert) und Krankenkassenbeiträge.
Verdienen Arbeitnehmer/​innen jahrelang unterdurchschnittlich und haben sie noch dazu Lücken in der Erwerbsbiografie, ist die genannte „Normal- oder Standardrente“ der besagten knapp 1.400 Euro in der GRV für sie nicht erreichbar. Diese heutige Form der Rentenberechnung ist allerdings nicht die ursprüngliche; seit Bestehen der dynamischen Rente wurde die Rentenanpassungsformel mehrfach geändert und immer standen dahinter auch jeweils bestimmte bewusste oder unbewusste Gerechtigkeitsauffassungen des Gesetzgebers (vgl. Ebert 2018, 54).
Seit Einführung der dynamischen Rente im Jahr 1957 sind ihre konstant gebliebenen Wesensmerkmale die Arbeitslohn- und Beitragsbezogenheit sowie das Ziel, nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben die individuelle Lebensarbeitsleistung widerzuspiegeln. Die GRV erzeugt somit einen „leistungsbezogenen Individualismus“ (Blank/​Schulze/​Buschoff 2013, 314). Bis zum 01.01.2002 galt dabei dezidiert das Ziel der leistungsbezogenen Lebensstandard- und Statussicherung allein mittels der GRV. Dann kam es zu einem rentenpolitischen Paradigmenwechsel: Nach vorangegangenen kleineren Reformen kam es im Zuge der damaligen Riesterreform sowie weiterer Reformen allerdings zur kontinuierlichen Absenkung des Rentenniveaus in der GRV. Dieses Vorhaben wurde kombiniert mit der Einführung der sogenannten Riester-Rente als Förderung privater, kapitalgedeckter Vorsorge sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als einer steuerfinanzierten, bedürftigkeitsgeprüften Rente auf dem Niveau des ALG-II-Satzes zur Sicherung des Existenzminimums.
Das System der Alterssicherung ist in Deutschland seit diesen Reformen teilprivatisiert. Kernziel dieser Reform war es, dass fortan aus Gründen der Beitragssatzstabilität nicht mehr die gesetzliche Rente allein, sondern nun im Idealfall ein „heterogenes System“ aus umlage- und kapitaldeckungsfinanzierten Renten das finanzielle Gesamtversorgungsniveau von Personen sichert, die altersbedingt ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben haben (Vgl. Fachinger, Die Altersvorsorge in Deutschland, 930). Das hatte zur Folge, dass die Einkommensersatzfunktion der GRV geschwächt und die Verantwortung für die Altersvorsorge in ganz neuem Maß individualisiert wurde (vgl. Heimbach-Steins 2011, 173). Daraus folgen wiederum neue Bedingtheiten und Einschränkungen durch die Verschärfung rentenrechtlich-normativer Vorgaben für die persönlich-individuelle Planung der eigenen Erwerbsbiographie und der Lebensgestaltung, sofern man eine auskömmliche gesetzliche Rente im Alter erreichen möchte. Damit wirkt das aktuelle Rentenrecht dem Trend einer stärkeren Pluralisierung und Individualisierung der Erwerbs- und Lebensverläufe theoretisch entgegen, um die es nun gehen soll.
2 Eine sozialwissenschaftlich-empirisch informierte Skizze des Wandels der Erwerbs- und Lebensverläufe in Deutschland
2.1 Wandel der Erwerbsverläufe
Erwerbsverläufe haben in den vergangenen Dekaden einen deutlichen Wandel durchgemacht. Die Veränderungen der Erwerbsbiografien und Arbeitsbedingungen und ihre Auswirkungen auf die Altersabsicherung in der GRV wurde von 2009 bis 2012 in dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt „Gute Erwerbsbiographien. Der Wandel der Arbeitswelt als gruppenspezifischer Risikofaktor für Arbeitsfähigkeit und Unterversorgung bei der gesetzlichen Rente“ eingehend sozialwissenschaftlich-empirisch untersucht. Der Forschungsertrag wurde unter anderem in einer Arbeitspapierreihe publiziert, auf die ich mich bei der folgenden Skizzierung dieser Entwicklungen schwerpunktmäßig beziehen werde.
Neben den weiterhin bestehenden und trotz gesellschaftlicher Wandlungsprozesse weiterhin mit einer normativ-idealisierenden Anziehungskraft ausgestatteten Normalerwerbsbiografien und Normalarbeitsverhältnissen einer kontinuierlichen, unbefristeten, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung mit existenzsichernden (Tarif-)Entgelten von der Ausbildungs- bis zur Rentenphase gibt es vermehrt Erwerbsverläufe, die zunehmend von Diskontinuität und Prekarität geprägt sind. (vgl. Trischler/​Kistler, Arbeitspapier 1, 1). Dieser Trend resultiert aus der seit Jahrzehnten erhöhten strukturellen Arbeitslosigkeit sowie der zunehmenden Differenzierung am Arbeitsmarkt aufgrund des in Deutschland relativ großen Niedriglohnsektors und einer immer niedrigeren Tarifbindung der Arbeitgeber.
Es können vier wesentliche Indikatoren des Wandels der Erwerbsbiographien unterschieden werden: Erstens die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen; zweitens häufigere Betroffenheit von Mehrfach- und Langzeitarbeitslosigkeit, die den Erwerbsverlauf perforieren (vgl. auch Schmitz 2012,98 ff.); drittens die Zunahme atypischer und prekärer Beschäftigungsformen sowie viertens eine Kompression der Erwerbsphase wegen längerer Ausbildungszeiten und frühzeitigeren Erwerbsaustritten.
Diese Entwicklungen haben nicht zuletzt negative Folgen für die Anwartschaften in der Rentenversicherung, denn, wie an den einschlägigen Rechtsnormen gezeigt, das derzeitige System ist stark auf langjährige, nahtlose Beitragszeiten (Zeitfaktor) (vgl. Trischler/​Kistler Arbeitspapier 4, 1) auf der Basis mindestens durchschnittlicher, aus vollzeitiger Arbeitnehmertätigkeit resultierende Einkommenshöhen (Einkommensfaktor) ausgelegt.
Im Projekt „Gute Erwerbsbiographien“ stellten Trischler und Kistler durch die Auswertung entsprechender Daten der Deutschen Rentenversicherung nun fest, „dass die Zahl der zum jeweiligen Lebensjahr erworbenen Entgeltpunkte […] bei jüngeren Kohorten jeweils niedriger ausfällt.“ (A4, 1). Insbesondere Jüngere sind es nämlich, die, Stichwort „Kompression der Lebenserwerbsphase“, wegen eines späten Erwerbseintritts nach einer Ausbildungs- oder auch nach einer langen Studienphase in jungen Jahren wesentlich weniger Rentenansprüche erwerben, die sie jedoch „in den mittleren Erwerbsjahren [oft; Anm. L.S.] nicht durch höhere Einkünfte aufholen können“ (A4, 2). Betroffen sind von sinkenden Rentenanwartschaften besonders ostdeutsche Versicherte und westdeutsche Männer. Nur westdeutsche Frauen erreichen wegen steigender Erwerbsbeteiligung inzwischen höhere Anwartschaften als in früheren Zeiten, jedoch starteten sie von einem niedrigen Niveau aus und können die Verluste der Männer daher meist nicht kompensieren, was insbesondere an fehlenden Versicherungszeiten sowie am Gender Pay Gap liegt (vgl. Klammer 2020, 55) (A4, 2). Individuell unzureichende gesetzliche Rentenhöhen sind zwar nicht zwingend mit Altersarmut gleichzusetzen, wenn dem höhere Einkünfte des Partners/der Partnerin gegenüberstehen. Doch auch im Paar- bzw. im Haushaltskontext lassen sich deutliche Veränderungen der Erwerbsverläufe mit negativen Folgen für die Alterssicherung ausmachen (vgl. Arbeitspapier 6, 5). Der Verweis auf die betriebliche und private Zusatzvorsorge greift zumeist ebenfalls nicht, da auch hinreichende Anwartschaften aus diesen beiden Säulen der Alterssicherung in hohem Maß an stabile Erwerbsbiographien und sparfähig machende Einkommenshöhen geknüpft sind (vgl. Arbeitspapier 6, 7).
Das Fazit der Studie „Gute Erwerbsbiographien“ lautet:
„Es zeichnet sich ab, dass zukünftige Renter/​-innen weniger Zeit in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung verbracht haben werden und ein erheblicher Teil auch von diskontinuierlichen Erwerbsbiographien betroffen ist. […] In der Rentenberechnung wird [allerdings] die komplette Erwerbsbiographie bewertet, wodurch sich jede Phase mit geringen Anwartschaften rentenmindernd auswirkt.“ (A4, 6)
Hinzukommen die eingangs genannten widrigen systeminternen Faktoren der allgemeinen Rentenniveauabsenkung, der eingeführten Abschläge bei vorzeitigem Rentenbeginn, die Reduzierung der Anwartschaften aus Zeiten ohne versicherte Beschäftigung, etwa die Einstellung der Renteneinzahlungen während des ALG-II-Bezugs, die nicht mehr als rentensteigernd anerkannten Ausbildungszeiten sowie weitere Reformen, die das Leistungsniveau der GRV abgesenkt haben.
Was folgt daraus? Die Logik der GRV korrespondiert mit dem generell hohen Grad der Kommodifizierung von Arbeit im deutschen Sozialsystem, in dem insgesamt Leistungsansprüche häufig nur über ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis erworben werden können (vgl. Althammer 2011, 5). Man kann daher mit Marianne Heimbach-Steins auch von einer „implizite[n] Pflicht zur Erwerbsarbeit“ sprechen (Heimbach-Steins 2011, 173), sofern jemand eine auskömmliche Rente im Rahmen des vollen Sozialversicherungsschutzes erreichen will und kaum oder keine alternativen Möglichkeiten des Aufbaus einer Alterssicherung nutzen kann.
Dieser Befund steht in gewisser Weise konträr zu dem Wandel der Lebensverläufe und deren relative Abkoppelung von tradierten, rentenrechtlich relevanten Normalitätsvorstellungen hinsichtlich Leben, Lieben und Arbeiten, die auch ethisch im Sinne der biografischen Autonomie der Einzelnen zu würdigen ist. Man kann auch sagen, dass Rentenpolitik und Rentenrecht in dieser Hinsicht strukturgebend auf Lebensverläufe einwirken (vgl. Heimbach-Steins 2012, 78). Der moderne Wandel der Lebensverläufe und -modelle, die mit jenem der Erwerbsbiographien meist ganz eng verflochten ist, wird davon ebenfalls betroffen, kann man die Rentenformel doch als eine „Generalabrechnung des Lebens“ (Fredericks 2020, 139) bezeichnen. Ich skizziere die Entwicklungen hierzu in aller Kürze:
2.2 Wandel der Lebensverläufe
In sozialstruktureller Hinsicht sind es insbesondere zwei gesellschaftliche und dabei zahlreiche Lebensverläufe formatierende Normalitätsfiguren, auf die die Sozialversicherung und mit ihr die Rentenversicherung gegründet wurden: Zum einen das eingangs bereits genannte Normalarbeitsarbeitsverhältnis: die unbefristete, sozialversicherungspflichtige, tarifvertraglich abgesicherte und auskömmlich bezahlte abhängige Beschäftigung in Vollzeit, das traditionell als männliches Normalarbeitsverhältnis gilt.
Zum anderen die Normalfamilie in ihrer spätneuzeitlich-bürgerlichen Form: die lebenslange Ehe als Keimzelle einer Kleinfamilie und struktureller Ort der hergebrachten Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter (vgl. dazu Althammer 2012, 279–282). In einer modifizierten Version wird dieses Modell vermehrt in Form von drei Phasen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelebt: Ausbildungs- und erste Erwerbsphase beider Ehepartner, Unterbrechung der Erwerbsarbeit meistens durch die Frau in der innerfamilialen Erziehungsphase und dann je nach Familiengröße die Reintegration der Frau in den Arbeitsmarkt meist im Rahmen einer geringfügigen oder einer Teilzeitbeschäftigung (vgl. Althammer 2012, 280). Das wird als modifiziertes (immer noch männlich orientiertes) Ernährermodell bzw. als Zuverdienermodell bezeichnet.
Zwar verliert das Normalarbeitsverhältnis auf der einen Seite durch Entstandardisierung, Flexibilisierung und Diskontinuitäten sowie durch neue, bspw. hybride Erwerbsformen teilweise an Bedeutung.
Und auch die Modelle familiärer Lebensformen haben sich gewandelt: Zum einen durch die zugenommene Instabilität der Institution Ehe wegen hoher Scheidungsraten, zum anderen durch den Wandel der Geschlechter- und Generationenbeziehungen aufgrund sozialer und biografischer Individualisierung und Pluralisierung und einer größeren Sensibilisierung für Geschlechtergerechtigkeit (vgl. Heimbach-Steins 2011, 167).
Doch die beschriebene Normalitätsfigur der Normalfamilie zeitigt erstaunliche Beharrungstendenzen. Mehr noch kommt es bis heute nicht selten bei der Familiengründung zu einer Retraditionalisierung der Rolle der Frau und der Ausgestaltung des Familienlebens.
Nicht nur der tendenzielle Bedeutungsverlust der ersten Normalitätsfigur, auch die noch immer relativ hohe Konstanz der zweiten haben beide jeweils negative Auswirkungen auf die Höhe der Anwartschaften in der GRV zur Folge – im ersten Fall sind vor allem Männer, im zweiten ganz überwiegend Frauen von geringeren Anwartschaften betroffen; das deutsche Alterssicherungssystem wird vielen „Frauenbiografien nur unzureichend gerecht“ (Klammer 2020, 54).
Wie kann sich dieser Problemanzeige sozialethisch wegweisend angenähert werden?
3 Lebenslauforientierte Sozialethik und das Leitbild der Guten Erwerbsbiografie
„Eine sozialwissenschaftlich fundierte und normativ gehaltvolle Leitperspektive, […] an der die anstehende Erneuerung des Ordnungsrahmens der Sozial-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik insgesamt Maß nehmen kann, ist als Orientierungsangebot notwendig: Gesucht wird ein Kompass für eine die politischen Ressorts übergreifende, konsistente politische Steuerung für alle Handlungsfelder, die Lebensverläufe und biographische Handlungsmuster beeinflussen“ (Heimbach-Steins 2012, 76),
so Marianne Heimbach-Steins. Als einen solchen Kompass schlägt sie auch für die Christliche Sozialethik die Leitperspektive der Lebenslauforientierung vor, die normative Kriterien einer Lebenslaufpolitik auf den verschiedenen Politikfeldern bereitstellt und damit als „sozialethisches Leitbild für eine Gesellschaft des langen Lebens [Herv.i.O.]“ dienen kann (vgl. Heimbach-Steins 2012, 77).
Zentral ist der Punkt, dass Lebenslaufpolitik die Bedingungen dafür schafft, dass variierende „Kombinationen von Bildung, Erwerbstätigkeit, Familienaufgaben […] und gesellschaftlichem Engagement im individuellen Biographieverlauf“ (Heimbach-Steins 2012, 82) möglich werden. In die gleiche Richtung zielt auch das Konzept der „Atmenden Lebensläufe“, das auf eine Anpassung der Arbeitszeiten im Rahmen des „Lebensarbeitszeit-Pensums“ an persönliche Bedürfnisse und biografische Situationen abzielt (Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik, 3).
Lebenslaufpolitische Fragestellungen bedürfen nach Heimbach-Steins also einer entsprechend lebenslauforientierten Sozialethik. Und auch die Christliche Sozialethik kann ihr zufolge von der Lebenslaufperspektive im Sinne von „Verfeinerungen und Dynamisierungen“ ihres normativen Instrumentariums, etwa der klassischen Sozialprinzipien und dabei insbesondere des Personalitätsprinzips, profitieren (vgl. Heimbach-Steins 2012, 90 f.).
Eine lebenslauforientierte Sozialethik kann mit ihrer Biografieorientierung als Methode der Kontextualisierung ausgewiesen werden (vgl. Heimbach-Steins 2012, 93). So kann sie in ihrer anwendungsorientierten Dimension von einem dynamisiert verstandenen Personalitätsprinzip der katholischen Soziallehre und Sozialethik ausgehend „idealisierende Abstraktionen“, wie etwa eine „rentenpolitischen Entscheidungen zugrunde gelegte ,Normalbiographie‘“ identifizieren und kritisieren (vgl. Heimbach-Steins 2012, 93).
Wegen der Entstandardisierung der heutigen Erwerbsbiographien und ihrer Folgen für die Alterssicherung kann sozialethisch-lebenslauforientiert dementsprechend neu danach gefragt werden, was eigentlich das Leitbild einer Guten Erwerbsbiographie vor dem Hintergrund individualisierter Lebens- und Erwerbsverläufe und ihrer rentenrechtlichen Folgen beinhalten kann. Im Vergleich zu dem politisch etablierten Leitbild der Guten Arbeit ist der Begriff der Guten Erwerbsbiografie bisher noch weniger deutlich ausgearbeitet und konzeptionalisiert worden, wenngleich ihm in Wissenschaft und Gesellschaft zunehmend Aufmerksamkeit zuteilwird (vgl. Brettschneider et al. 2019, 839; vgl. auch Weißbuch Arbeiten 4.0 2017, 92 ff.).
Meinem Ansatz zufolge sollte es bei der Bestimmung einer Guten Erwerbsbiographie um die sozial abgesicherte Ermöglichung einer verantwortet-selbstbestimmten Erwerbsbiographie in Zeiten der Individualisierung und Pluralisierung der persönlichen Lebensgestaltung gehen. Sie entspricht dann einem Verständnis von Befähigung zur Verantwortung, und zwar in dem Sinne, dass individuelle Lebens- und Lebenslaufgestaltung bei aller Freiheit auch auf berechtigte soziale Erwartungen und Erfordernisse Rücksicht zu nehmen hat und damit verantwortbar bleiben muss (vgl. Sautermeister 2017, 49 ff.). Das Projekt „Gute Erwerbsbiografien“ setzt allerdings aufgrund seiner Orientierung an dem Ziel auskömmlicher Alterssicherung auf folgende Kriterien zur Bestimmung einer Guten Erwerbsbiographie:
keine oder höchstens kurze Arbeitslosigkeitszeiten und damit stabile sowie konstante Erwerbstätigkeit, „Normalbeschäftigung, ausreichende Einkünfte, früher Erwerbseinstieg und später Erwerbsausstieg“ (Arbeitspapier 6, 9). In einem solchen alterssicherungsorientierten Verständnis wäre eine Gute Erwerbsbiografie demnach deckungsgleich mit der beschriebenen (männlichen) Normalerwerbsbiografie.
4 Lebenslauforientierung – Guten Erwerbsbiografie – Rentenrecht: abschließende normative Reflexionen
Das Leitziel der „Guten Alterssicherung“, auf das die „Gute Erwerbsbiografie“ dieser Auffassung nach abzielt, möchte ich daher auf einer ganz grundlegenden Ebene auf die zentrale ethische Frage nach dem „Guten Leben“ ausrichten. Gemäß dem Leitbild einer freiheitlich-demokratischen und weltanschaulich pluralen Gesellschaft ist diese Frage um des in der Geschichte hart erkämpften Freiheitsrechts des Einzelnen willen weitgehend privatisiert. Diese in Deutschland durch Art. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 geschützte und dem Bürgerlichen Gesetzbuch als Privatautonomie zugrunde gelegte individuelle, selbstbestimmte Freiheit ist auch sozialethisch relevant. Die zentrale Frage lautet dann: Wie sind die Gesellschaft und ihre sozialen Systeme zu gestalten, damit möglichst alle Menschen ein gutes Leben im Gesamt ihrer Lebenszeit nach ihren eigenen Vorstellungen im Rahmen eines gerechten Zusammenlebens leben können? Das ist im Kern die modernisierte Suchbewegung nach dem Gemeinwohl als der „Gesamtheit jener Bedingungen des sozialen Lebens, unter denen die Menschen ihre eigene Vervollkommnung in größerer Fülle und Freiheit erlangen können; es besteht besonders in der Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen Person“, wie es in Nr. 6 der Erklärung „Dignitatis humanae“ des Zweites Vatikanischen Konzils ganz basal heißt.
Von dieser grundsatzethischen Hochebene in den konkreten, hier interessierenden Sachbereich zurückkehrend, gilt dann: Die persönliche Lebensgestaltung und biografiebezogene Identitätsbildung der menschlichen Person ist in diesem Sinne das Integral, das die Kriterien einer alterssicherungsgerechten Biografie noch einmal umfasst. Das von mir vorgeschlagene, als liberal qualifizierbare Verständnis einer Guten Erwerbsbiografie besteht also aus zwei wesentlichen Ankerpunkten: größtmögliche, aber verantwortete biografische Gestaltungsfreiheit einerseits und hinreichende rentenrechtliche Absicherung einer entsprechend selbstbestimmten Lebensverlaufsgestaltung andererseits, und damit der abgesicherten Ermöglichung des Wechsels beispielsweise von voll- in teilzeitige Arbeit, oder von Familienphasen in Berufs- oder Weiterbildungsphasen, um nur ein paar Stichworte zu nennen, die einen mit der so verstandenen Guten Erwerbsbiographie korrespondierenden „Atmenden Lebenslauf“ auszeichnen.
Das Problem aber bleibt: Solcherlei selbstbestimmte Gestaltung der Erwerbsbiografien der Menschen bei gleichzeitiger, politisch gewollter Leistungseinschränkung der GRV führen genauso zu einem niedrigeren Sicherungsniveau für zukünftige Rentner/​innen wie die unerwünschten biografischen Phasen von insbesondere Arbeitslosigkeit oder Niedriglohnbeschäftigung. Dieser Befund, der eben eine implizite Pflicht zur Erwerbsarbeit suggeriert, steht damit in Spannung zu einem in Zeiten von Individualisierung und Pluralisierung an normativer wie praktischer Relevanz gewinnenden Leitbild der biografischen Autonomie und der eigenverantwortlichen Gestaltung des eigenen Lebensverlaufes. Möglichkeiten der variablen Kombination von Erwerbstätigkeit, Bildungsphasen, Familienaufgaben oder Ehrenamt im eigenen Biografieverlauf werden durch die Normalitätsannahmen des herkömmlichen Verständnisses einer Guten Erwerbsbiografie, auf denen das Rentenrecht basiert, gemindert. Für die politische Ausgestaltung des Rentenrechts ist die Konsequenz, dass Wege und Formen gefunden werden müssen, wie auch frei gewählte Qualitätszeiten der Nichterwerbsarbeit angemessen sozial- und rentenrechtlich abgesichert werden können. Der Standardrentner nach der GRV-Rentenformel ist ohnehin kaum in der Realität anzutreffen und zudem immer seltener überzeugendes Ideal, das überdies auch bei Erreichen wegen der Rentenniveauabsenkung keine hinreichende gesetzliche Rente mehr garantiert – man denke an den dann erreichten Zahlbetrag von knapp 1.400 Euro brutto, vor Steuern.
Daneben bedarf es ebenso politischer Antworten auf die Frage, wie die ungewollten Zeiten der Nichtberufstätigkeit, allen voran die Arbeitslosigkeitsphasen in der GRV besser abgesichert werden können, die besonders wegen der Arbeitsmarktentwicklung der letzten Jahrzehnte zunehmend häufiger die Erwerbsbiografien der Menschen perforieren und damit ihrer Alterssicherung schaden. Beim Thema Altersarmut ist dabei gerade auch aus der Lebensverlaufsperspektive zu berücksichtigen, dass diese
„immer das Resultat einer individuellen Risikokombination und an verschiedenen Knotenpunkten in Leben eingetretener Ereignisse ist. Dies können neben Charakteristika der Erwerbsbiografie auch Merkmale der Familienbiografie, der Gesundheitsbiografie, des Bildungsverlaufs, von Einwanderung, mangelnder Vorsorge oder sonstige problematische Elemente der Biografie wie Verschuldung, Insolvenz oder Sucht sein“ (Klammer 2020, 47).
Es gilt demnach, das Prinzip des sozialen Ausgleichs in der GRV gegenüber dem Äquivalenzprinzip wieder angemessen zu stärken. Sozialer Ausgleich ist letztlich das zentrale Charakteristikum, das eine Sozialversicherung wie die GRV von einer Privatversicherung unterscheidet.
Schwierig bleibt allerdings die Frage der Finanzierung der rentenrechtlichen Absicherung der Phasen von in Anführungszeichen „biografischen Annormalitäten“ sowie deren Verteilung auf die relevanten Akteure im Sinne der Triparität (Köhler-Rama 2020, 78) von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen sowie Steuerzuschüssen. Auch rein betriebliche Finanzierungsmodelle für berufliche Auszeiten mit rentenrechtlicher Absicherung sind denkbar (vgl. bspw. Kocher 2013, 468 ff.). Wegen der institutionellen Abhängigkeit der Alterssicherung vom Arbeitsmarkt sind rentenpolitische Reformen nicht zuletzt immer mit entsprechender Arbeitsmarktpolitik konsistent zu verbinden (vgl. Czepek 2020). Die Problemanzeige bleibt klar: Es gilt, gerade auch aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit, die Frage zu beantworten, wie die bisherige Bindung der Alterssicherung an die Normalerwerbsbiografie durch eine entsprechende Reform des Rentenrechts gelockert, werde kann. Das sozialethische Ziel lautet mehr Gerechtigkeit im Rentenrecht als einer Bedingung für die Befähigung zu einem eigenverantwortlich gestalteten guten Leben im je individuellen Lebensverlauf in einer pluralen Gesellschaft des langen Lebens zu erreichen.
5 Literatur
Althammer, Jörg (2011), Sozialpolitische Inklusion zwischen Familie und Staat, in: Roman Herzog Institut (Hg.): Wie viel Familie verträgt die moderne Gesellschaft? Berlin 2011, 56–67.
Althammer, Jörg (2012), Soziale Marktwirtschaft und katholische Soziallehre, in: Habisch, André/Küsters, Hanns Jürgen/Uertz, Rudolf (Hgg.): Tradition und Erneuerung der christlichen Sozialethik in Zeiten der Modernisierung (Hrsg. i.A. der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.), Freiburg i.Br. 2012, 270–287.
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Verfasst von
Mag. theol. Lars Schäfers
Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Neutestamentlichen Seminar an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
Generalsekretär von Ordo socialis – Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre e.V.
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Es gibt 2 Materialien von Lars Schäfers.
Zitiervorschlag
Schäfers, Lars, 2023.
Gerechtigkeit im Rentenrecht – der Wandel der Erwerbsverläufe und seine Auswirkungen auf die Rentenanwartschaften [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 05.12.2023 [Zugriff am: 11.09.2024].
https://doi.org/10.60049/4ern2851
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