socialnet Logo

Pflegekinder mit FASD-Diagnose – Erkenntnisse zur Gestaltung des Zusammenlebens aus Sicht von Pflegeeltern

Prof. Dr. Jan Tietmeyer, Lisa Walgenbach

veröffentlicht am 12.04.2024


https://doi.org/10.60049/dv2ufolo

FASD entwickelt sich seit einigen Jahren zu einem relevanten Thema im Kontext verschiedener Handlungsfelder der Sozialen Arbeit. Dieser Beitrag fokussiert hierbei die Unterbringung von Pflegekindern mit FASD im Rahmen einer Vollzeitpflege gem. § 33 SGB VIII. Hierzu werden im Umgang mit FASD erfahrende Pflegefamilien zu ihren Erfahrungen interviewt.

Inhalt

  1. 1 Diagnose FASD
    1. 1.1 Säule 1: Wachstumsauffälligkeiten
    2. 1.2 Säule 2: Auffälligkeiten des Gesichts
    3. 1.3 Säule 3: Auffälligkeiten des Zentralen Nervensystems (ZNS)
    4. 1.4 Säule 4: intrauterine Alkoholexposition
    5. 1.5 Säugling und FASD
    6. 1.6 Kleinkindalter und FASD
    7. 1.7 Schulalter mit FASD
    8. 1.8 Erwachsene mit FASD
  2. 2 Relevanz von Pflegefamilien im Kontext von FASD-Kindern
  3. 3 Methodisches Vorgehen
  4. 4 Ergebnisse
    1. 4.1 Strukturen
    2. 4.2 Selbsthilfegruppen
    3. 4.3 Therapie und Beschäftigung
    4. 4.4 Wertschätzung
    5. 4.5 Auszeiten
    6. 4.6 Zusammenarbeit mit dem Jugendamt (positive Ausprägung)
    7. 4.7 Zusammenarbeit mit dem Jugendamt (negative Ausprägung)
    8. 4.8 Leistungsdruck und Stress
    9. 4.9 Fehlende Kenntnis über FASD in der Bevölkerung
    10. 4.10 Fehlende Kenntnis innerhalb des Familiensystems
  5. 5 Einschätzungen der verfassenden Personen
  6. 6 Literatur

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem Erkrankungsbild FetaleAlkoholspektrumstörung (FASD). Hierbei wird insbesondere der Fokus auf das Zusammenleben von betroffenen Kindern in Pflegefamilien gelegt. Dabei folgt die Darstellung der Fragestellung: Welche fördernden und hemmenden Faktoren gibt es bei der Unterbringung von Pflegekindern mit FASD? Hierfür werden Einschätzungen von Pflegeeltern mithilfe von qualitativen Leitfadeninterviews erfasst und wissenschaftlich ausgewertet. Es werden Pflegeeltern interviewt, die persönliche Erfahrungen in der Unterbringung von FASD Kindern in ihren Pflegefamilien besitzen.

Die Ergebnisse unterteilen sich in förderliche und in eher schadhafte Faktoren, die bei der Alltagsbewältigung berücksichtigt werden sollten. Bei den fördernden Faktoren handelt es sich umStrukturen, Selbsthilfegruppen, Therapie und Beschäftigung, WertschätzungsowieAuszeiten.Bei den eher schadhaften Faktoren handelt es sich umLeistungsdruck und Stress, fehlende Kenntnisse zu FASD in der Bevölkerung sowie fehlende Kenntnisse zu FASD innerhalb des Familiensystems. In Bezug auf die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt ergibt sich ein insgesamt mehrdeutiges Bild. Sie kann sowohl förderlich wie auch schadhaft ausgeprägt sein.

1 Diagnose FASD

Die vielfältigen Folgen des Alkoholkonsums von schwangeren Frauen werden unter dem Oberbegriff FASD (Fetale Alkohol Spektrum Störung, bzw. fetal alcoholsprectrumdisorders) zusammengefasst (Jost 2018, sowie https://www.socialnet.de/lexikon/​Fetale-Alkohol-Spektrum-Stoerung). Trinkt eine Frau während der Schwangerschaft(pränatal) Alkohol, können die durch den Alkoholkonsum entstehenden Schädigungen stark unterschiedlich ausgeprägt sein. Einflussfaktoren sind beispielsweise der Zeitpunkt und die Menge des Konsums sowie der Zeitraum, über den sich der Konsum erstreckt. Weitere Begrifflichkeiten beschreiben dabei unterschiedliche Diagnosen:

Das fetale Alkoholsyndrom, kurz FAS (https://www.socialnet.de/lexikon/​Fetales-Alkoholsyndrom), beschreibt das Vollbild der Störung und wird inder Klassifikation der Krankheiten, dem ICD-11 unter demCode LD2 F.00 zusammengefasst. Für die Diagnose des Krankheitsbildeswird in Deutschland die sogenannte S3-Leitlinie zur Diagnostikverwendet. Diese Leitlinie wurde erstmals im Jahr 2012 für das Vollbild FAS entwickelt und im Jahr 2016 mit den beiden weiteren Diagnosebildern pFAS und ARND weiterentwickelt. Diese Leitlinien werden aktuell überarbeitet. Dieser Beitrag orientiert sich daher an den aktuellen S3-Leitlinien, die vier diagnostische Säulen vorsehen (Hier und im Folgenden: Landgraf/Hoff2019). Diese Säulen werden nachfolgend kurz beschrieben.

1.1 Säule 1: Wachstumsauffälligkeiten

Zur Diagnose muss mindestens eine Wachstumsauffälligkeit vorliegen. Unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt bzw. Alter diese Auffälligkeiten auftreten. Zu den möglichen Auffälligkeiten zählen das Geburts- oder Körpergewicht, eine Geburts- oder Körperlänge oder ein Body Mass Index von einem Wert < 10. Perzentile.

1.2 Säule 2: Auffälligkeiten des Gesichts

Zu der diagnostischen Beurteilung von Auffälligkeiten des Gesichtes gehören insbesondere kurze Lidspaltenlängen, ein verstrichenes Philtrum sowie schmale Oberlippen.Die Lidspaltenlänge kann mithilfe eines Lineals direkt am Betroffenen gemessen und ausgewertet werden. Die Diagnostik eines verstrichenen Philtrumssowie schmaler Oberlippewird anhand des sogenannten Lip-Philtrum-Guide von Susan Astley durchgeführt und bewertet.

1.3 Säule 3: Auffälligkeiten des Zentralen Nervensystems (ZNS)

Das Kriterium des Zentralen Nervensystems (ZNS) wird erfüllt, wenn funktionelle- und/oder strukturelle Auffälligkeiten vorliegen. Eine funktionelle Auffälligkeit liegt vor, wenn es sich um eine globale Intelligenzminderung (mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb der Norm) oder signifikante Entwicklungsverzögerungen bei Kindern unter zwei Jahren handelt. Eine weitere funktionale Auffälligkeit des ZNS liegt vor, wenn mindestens drei der folgenden Punkte von Standards abweichen oder mindestens zwei, in Kombination mit Epilepsien: Sprache, Feinmotorik, räumlich-visuelle Wahrnehmung, Lern-oder Merkfähigkeit, Exekutive Funktionen, Rechenfertigkeiten, Aufmerksamkeit oder soziale Fertigkeiten und Verhalten (Landgraf/​Heinen 2013).Bei der strukturellen Auffälligkeit handelt es sich um eine Abweichung des Standards hinsichtlich des Kopfumfanges. Der Kopfumfang ist kleiner als bei Kindern ohne pränatalen Alkoholkonsum und kann mit Messungen erhoben werden.

1.4 Säule 4: intrauterine Alkoholexposition

Bei der Diagnoseerstellung sollte die leibliche Mutter zum Alkoholkonsum befragt werden. Jedoch ist es wahrscheinlich, dass Mütter dies nicht wahrheitsgemäß beantworten. Dies liegt zum einen an der sozialen Unerwünschtheit und der Folge einer möglichen sozialen Stigmatisierung und zum anderen daran, dass Kinder mit FASD oftmals fremduntergebracht sind und daher kaum verlässliche Aussagen vorliegen. Wenn jedoch in den drei übrigen Säulen diagnostische Werte vorliegen, sollte auch ohne den bestätigten Alkoholkonsum der Mutter die Diagnose gestellt werden (Landgraf/Hoff 2019).

Bei dem sogenannten partiellen Fetalen Alkoholsyndrom-kurz pFAS – sinddrei der vier der oben genannten Diagnosekriterien erfüllt, was jedoch nicht auf eine schwächere Form schließen lässt. Hierbei ist, anderes als bei FAS, die Wachstumsauffälligkeit nicht vorhanden.Unter dem Begriff AlcoholRelatedNeurodevelopmentalDisorders- kurz ARND – liegenEinschränkungen des zentralen Nervensystems und ein bekannter Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft vor.

Wie bereits beschrieben, gibt es kein einheitlich feststehendes Symptombild. Es können unterschiedliche Bereiche betroffen sein. Nachfolgend wird daher beschrieben, wie die sozialen Folgen in verschiedenen Lebensphasen ausfallen können. Dies soll lediglich einen kurzen Einblick darstellen, um bezugnehmend auf Fragestellung dieses Beitrags mögliche Auswirkungen deutlich zu machen.

1.5 Säugling und FASD

Neben den äußerlichen Merkmalen durchleben von FASD betroffene Säuglinge in den ersten Stunden und Tagen ihres Lebens oftmals einen Alkoholentzug. Dies ist gekennzeichnet durch Unruhe, Reizbarkeit, Empfindlichkeit, Zittern, Schwitzen und Schlafstörungen (Spohr 2016). Häufig kommt es zudem zu Regulationsstörungen und Problematiken der Essensaufnahme sowie Erbrechen, da der Schluckakt durch eine fehlende körperliche Entwicklung nicht ausgeführt werden kann. Selbst wenn eine ausreichende Nahrungsaufnahme möglich ist, nehmen Säuglinge häufig nicht ausreichend zu und bleiben in der gesamten Kindheit untergewichtig. Weiter kann es zu exzessiven Schreiphasen kommen, die oftmals über mehrere Stunden andauern. Darüber hinaus sind betroffene Säuglinge häufig anfälliger für Infekte als Gleichaltrige, wobei dies meist mit zunehmenden Alter wieder abnimmt.

1.6 Kleinkindalter und FASD

Gerade im Kleinkindalter sind die Folgen und Auswirkungen von FASD im Vergleich zu Gleichaltrigen deutlich. Insbesondere in Interaktionen, beispielsweise beim Spielen in Kindertagesstätten, werden Unterschiede erkennbar. Die Auffälligkeiten können in unterschiedlichen Bereichen liegen. Oftmals betreffen sie motorische, sprachliche, kognitive aber auch emotional-soziale Bereicheund äußern sich in Wahrnehmungsstörungen oder fehlende Gefühle in Bezug auf Nähe und Distanz (Feldmann 2022).

1.7 Schulalter mit FASD

Die bereits im Kleinkindalter auftretenden Störungen nehmen ab dem Schulalter deutlich zu. Der Unterschied zu Gleichaltrigen wird dadurch immer größer und deutlicher. Durch eine gestörte Fähigkeit zur Handlungsplanung, Störung des Arbeitsgedächtnisses, geringe Frustrationstoleranz und eine motorische Unruhe kommt es im Schulalltag oftmals zu Überforderungen und Problemen, dem zunehmenden Leistungsdruck in der Schule gerecht zu werden. Häufig können relevante und irrelevante Themen nicht unterschieden werden oder es werden keine Konsequenzen und Lernprozesse aus Fehlern gezogen. Bei vielen alltäglichen Abläufen, beispielsweise dem Ankleiden, dem Waschen oder den Tischdecken, brauchen Kinder und Jugendliche die gleichen Hilfen und Unterstützung wie im Kindergartenalter(Spohr 2016, Falke 2017).Betroffene haben häufig konfliktbehaftete Freundschaften und haben ein erhöhtes Risiko, Opfer von Mobbing zu werden oder in kriminelle Handlungen zu geraten. Das Risiko, selbst zum Täter zu werden, ist erhöht und eine Berufsausbildung wird oftmals aufgrund von Überforderungen nicht erfolgreich abgeschlossen (Feldmann 2022).

1.8 Erwachsene mit FASD

Die individuellen Folgen für Erwachsenesind bisher nur unzureichend bekannt, da es nur wenige Langzeitstudien gibt. Eine Studie aus dem Jahr 2011 der Universitätskinderklinik Münster, die speziell das Vollbild FAS untersucht, belegt, dass von den 60 Teilnehmenden überwiegend keine Selbstständigkeiterreicht werden kann. Weiter kann festgestellt werden, dass 3 von 4 Erwachsenen, bei denen FAS diagnostiziert wird, Opfer von Missbrauch werden. Aufgrund der unzureichenden Selbstständigkeit kommt die Studie zu dem Schluss, dass Betroffene mit FAS dauerhaft Hilfen in allen Lebensbereichen sowie Schutz und Betreuung benötigen (Freunsch/​Feldmann2011).

Auch für Betroffene, die nicht unter dem Vollbild leiden, gibt es in vielen Lebensbereichen Unterstützungsbedarf. Studien weisen darauf hin, dass ihr Intelligenzniveau niedriger ist. Die Einschränkungen und Behinderungen, die bereits im Kindes- und Jugendalter vorherrschten, bleiben oftmals bestehen (Spohr 2016). In einer Studie aus dem Jahr 1996 werden weitere Alltagsprobleme festgestellt, die bei Betroffenen oftmals vorherrschen. Zwei Ergebnisse, die für besonders bedeutend empfunden werden, sind, dass 50 % der Betroffenen inhaftiert oder zwangsuntergebracht werden. Weiter kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass es zu unangemessenen Sexualverhalten kommt. Etwa 50 % aller FASD-Betroffenen zeigen sexuelle Aufdringlichkeit, Exhibitionismus oder promiskuitive Verhaltensweisen (Streissguth/Barr/Kogan/​Bookstein 1996).

2 Relevanz von Pflegefamilien im Kontext von FASD-Kindern

Hier wird unter Pflegefamilie eine Vollzeitpflege verstanden, bei der ein oder mehrere Pflegekinder in einem familiären Setting gem. § 33 SGB VIII leben (https://www.socialnet.de/lexikon/​Pflegekind). Die Dauer der Unterbringung kann dabei variieren, aber im Kontext dieser Studie wird der Fokus auf eine dauerhafte Unterbringung gerichtet. Laut dem Statistischen Bundesamt lebten im Jahr 2021 rund 87.300 junge Menschen in einer Pflegefamilie und 122.700 Kinder und Jugendliche wurden in Heimeinrichtungen versorgt(https://www.destatis.de/DE/Presse/​Pressemitteilungen/2022/10/PD22_454_225.html).

Um dem Fokus der Untersuchung gerecht zu werden, wird im Folgenden die Situation von Pflegefamilien speziell mit Kindern mitFASD-Diagnose betrachtet. Zu den Herausforderungen, denen sich Pflegefamilien regelmäßig stellen müssen, birgt das Erkrankungsbild FASD weitere große Herausforderungen. Die verschiedenen Auswirkungen wie beispielsweise Aggressivität, Trauer, Frustration, Schlafstörungen, gestörtes Ess- und Sozialverhalten, Sucht, Kriminalität oder Bindungsstörungen, die von Betroffenen gezeigt werden können, beeinflussen das Zusammenleben in Pflegefamilien und erschweren den Alltag der Familie. Dies ist für alle beteiligten Personen meist nicht direkt erkennbar und wird erst im Laufe des Zusammenlebens deutlicher. Die beteiligten Personen, also das Pflegekind selbst, die Pflegeeltern aber auch andere Familienmitglieder, müssen erst in einem Prozess erlernen, wie ein Zusammenleben funktionieren kann (Michalowski/​Lepke 2022). Interessanterweise hat 2017 die damalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung Marlene Mortlerein Handbuch veröffentlicht, in dem diese Herausforderungen speziell dargestellt werden (Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2017). Die Herausforderungen werden in der folgenden Abbildung dargestellt, die Seite 19 der benannten Publikation entnommen ist.

Tabelle 1: Probleme mit FAST (Quelle: Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2017, S. 19)

FASD

Probleme

Familie

  • Ursprungsfamilie
  • Besuchskontakte Pro und Kontra = Spannung
  • Gerichtliche Auseinandersetzung
  • Retraumatisierung
  • Gestaltung der Besuchskontakte
  • Schul und Ängste
  • Trennungsängste, Stress
  • Beschützen, Identität
  • Platz in der neuen Familie, Verteufelung oder Idealisierung der leiblichen Familie
  • Sozialer Aufstieg um 2-3 Stufen

Ausnahmezustand

  • Nichtwissen um FASD
  • Unverständnis der Umwelt
  • Traumata, Wut, Dissoziation
  • Inselwissen

Stress

  • Wutanfälle, Hilflosigkeit, Überforderung
  • Gefühl, betrogen zu sein
  • Wenig Unterstützung
  • „Beschuss von allen Seiten“

Diagnose (Schock)

Odyssee bis zur Diagnose, wenig erfahrende Diagnostiker, Nichtakzeptanz durch Behörden, Krankheitsverarbeitung

Phasen:

  1. Schock-Verleugnung
  2. Aggression
  3. Depression
  4. Verhandeln
  5. Akzeptanz

Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, bedarf es speziell abgestimmter Unterstützungsangebote. Dies kann im Rahmen von Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt werden. Dabei sollten Pflegeeltern umfassend über FASD aufgeklärt und auf die bestehenden Schwierigkeiten hingewiesen werden (Landschaftsverband Rheinland und Westfalen-Lippe 2017).Auch ein Austausch mit betroffenen Pflegeeltern wird in der Literatur alshilfreich und fördernd angesehen (Feldmann/​Kampe/Graf 2020).Mittlerweile gibt es in ganz Deutschland verteilt ca. 50 Selbsthilfegruppen (https://www.fasd-deutschland.de/selbsthilfegruppen-in-deutschland/).

Als Zwischenfazit zeigt sich, dass zwar viele Erkenntnisse über das Erkrankungsbild FASDvorliegen, es aber als sehr vielschichtig zu beschreiben ist. Daraus resultiert auch, dassUnklarheit darüber besteht, welche Unterstützungsmöglichkeiten erfolgreich umgesetzt werden können. Kinder und Jugendliche mit FASD haben besondere Bedarfe und benötigen oftmals lebenslang Unterstützung. Für den Bereich der Pflegefamilie kann festgestellt werden, dass Pflegeeltern oftmals mit dem Wunsch nach einer normalen, familiären Struktur streben, einen unerfüllten Kinderwunsch haben oder die Beziehung mit der Aufnahme eines Pflegekindes bereichern möchten. Werden nun beide Themenkomplexe miteinander verzahnt, so wird deutlich, dass die Erwartungen und Haltungen von Pflegeeltern oftmals nicht erfüllt werden können und daraus große Spannungsfelder entstehen und es so unter Umständen zu Abbrüchen von Pflegeverhältnissen kommen kann.

Daher soll der Fokus dieses Beitrags auf Faktoren gelegt werden, die es Pflegefamilien vereinfachen, den Alltag zu gestalten und das Zusammenleben zu bewältigen. Auf der anderen Seite soll auch herausgefunden werden, welche Faktoten sich eher schadhaft auswirken.

3 Methodisches Vorgehen

Methodisch betrachtet sucht dieser Beitrag nach Mustern in der praktischen Realität von Pflegefamilien, in denen Kinder mit FASD Diagnose leben. Bei den Mustern geht es sowohl um hilfreiche Kategorien wie auch um eher schadhafte Kategorien für das Zusammenleben. Um diesem explorativen Forschungscharakter gerecht zu werden, werden qualitative leitfadengestützte Interviews mit Pflegeeltern geführt, die als Experten:innen problembezogen über ihre Erfahrungen berichten. Die gewonnen qualitativen Daten wurden in der Folge transkribiert und gem. der zusammenfassenden Form der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Dabei wurden zunächst Kodiereinheiten gebildet, die in der Folge paraphrasiert, generalisiert und dann zu Kategorien zusammengefasst worden sind (Mayring 2022).

Der Feldzugang hat sich hier als anspruchsvoll erwiesen. Die Voraussetzung für die Teilnahme war zum einem, dass die Familie mindestens ein Pflegekind bei sich aufgenommen hat, bei dem FASD diagnostiziert worden ist. Die Pflegekinder der interviewten Personen waren zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits erwachsen. Als Pflegekinder lebten sie alle mindestens sechs Jahre lang in den Pflegefamilien. Teilweise waren die Pflegeverhältnisse im rechtlichen Sinne in diesem Zeitraum jedoch bereits beendet. Die Ansprache dieses Feldes erfolgte über Selbsthilfegruppen, über Pflegekinderdienste von kommunalen Jugendämtern und über Social Media. Insgesamt konnten so vier qualitative Interviews geführt werden, die eine Gesamtdauer von ungefähr vier Stunden erreicht haben. Die Interviews wurden in Quartal IV 2023 und in Quartal I 2024 geführt.

Allgemein kann beschrieben werden, dass die Diagnose FASD bei keiner der Familien im Vorfeld bekannt gewesen ist.In allen vier Interviews berichteten die Pflegeeltern, dass die eigentliche Diagnostik jeweils schnell umgesetzt werden konnte. Allerdings wurde auch berichtet, dass es zum Teil lange dauerte, bis man auf das Krankheitsbild an sich aufmerksam geworden ist und daher keine frühzeitige Diagnostik stattgefunden hat. Das Aufmerksamwerden auf FASD ist teilweise eher zufällig geschehen. In den Interviews wird jeweils von unterschiedlichsten Auffälligkeiten im Verhalten gesprochen.

4 Ergebnisse

Die Ergebnisse wurden wie beschrieben durch die Qualitative Inhaltsanalyse ermittelt und werden zusammenfassend in der folgenden Abbildung dargestellt. Dabei handelt es sich bei den förderlichen Faktoren um Strukturen, Selbsthilfegruppen, Therapie und Beschäftigung, Wertschätzung und Auszeiten. Eher schadhafte Kategorien sind Leistungsdruck und Stress, fehlende Kenntnisse zu FASD in der Bevölkerung und auch innerhalb des Familiensystems. Eine Ambivalenz kann in der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt entstehen, die entweder förderlich oder eher schadhaft sein kann.

Abbildung
Abbildung 1: Ergebnisse der Untersuchung (Quelle: eigene Darstellung)

Diese Kategorien werden nun im Folgenden inhaltlich jeweils genauer beschrieben.

4.1 Strukturen

Strukturen werden in der Literatur als ein wichtiges und hilfreiches Element beim Umgang mit Menschen mit FASD genannt. Der Alltag sollte von klaren Regeln und einer Tagesroutine geprägt sein. Dies soll zu einer Verselbstständigung und einem erhöhten Sicherheitsgefühl für Betroffene beitragen (Feldmann 2022).Für viele FASD-Betroffene ist es schwierig, bestimmte Aufgaben oder Handlungen zu planen und umzusetzen. Die Folge dessen kann Unsicherheit, Angst oder Orientierungslosigkeit sein. Klare Strukturen und Routinen können in diesem Zusammenhang helfen und sind daher ein wichtiger Bestandteil von fördernden Faktoren (Bünemann/​Fietzek/​Holodynski/​Feldmann2019). Konkrete Umsetzungen könnten unter anderem die Installation von bestimmten wiederkehrenden Ritualen sein, beispielsweise Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale.Dass Strukturen ein zentrales förderndes Element sind, haben alle vier Interviewpartner:innen berichtet. Wiederholt ablaufende Tätigkeiten helfen den Pflegekindern. Besonders herausfordernd wird beschrieben, wenn Strukturen wegfallen oder sich verändern.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Also bei uns ist der Tag genaugeplant, getimt und getaktet und es läuft jeden Tag das gleiche Programm, auch mit den Verhaltensauffälligkeiten der Kinder.“

4.2 Selbsthilfegruppen

Als ein weiterer fördernder Faktor wurde die Teilnahme an Selbsthilfegruppen genannt. Eine Selbsthilfegruppe ist ein Zusammenschluss von Menschen, die von gleichen Problematiken oder Behinderungen betroffen sind. Diese können von psychischen, körperlichen oder sozialen Problemen betroffen sein (https://www.paritaetischer.de/kreisverbaende/​emsland/​unsere-angebote/​kontakt-und-beratungsstelle-fuer-selbsthilfe-kobs/​haeufige-fragen/).Die Ziele dieser Zusammenkünfte sind vielseitig und werden meist mit der gegenseitigen Unterstützung, des „Mut Machens“ oder dem Austausch an Informationen und sozialen Kontakten begründet. Grundsätzlich gibt es Selbsthilfegruppen für die Betroffenen selbst oder für die Angehörigen. In den befragten Familien waren alle Pflegeeltern in Selbsthilfegruppen aktiv. Alle Interviewpartner:innen äußerten, dass der Kontakt zu anderen betroffenen Eltern hilfreich sei und der Austausch von Erfahrungen als besonders förderlich empfunden wurde.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Und dann sitzen da Menschen die das verstehen können, die dann einfach nicken und sagen ja haben wir genauso. Das macht schon viel aus und ist für mich oder auch für uns hilfreich.“

4.3 Therapie und Beschäftigung

Es gibt bisher keine kausale Therapie für die Behandlung von FASD. Allerdings gibt es unterschiedlichste Therapieangebote, diezueinerLinderung der Symptomeführen können. Welche Therapie die geeignete ist, muss jedoch individuell für jeden Betroffenen herausgefunden werden (https://fasd-fz-koeln.de/fasd-wissen/​medizin/​therapiemoeglichkeiten). In zwei Interviews wurde die Teilnahme an verschiedenen therapeutischen Angeboten oder einer generellen Beschäftigung der Betroffenen als positiv wirkend eingeschätzt. Es wurde beschrieben, dassVerbesserungenin verschiedenen Problemfeldern erreicht werden konnten. Es wurde bspw. beschrieben, dass durch eineTeilnahme an einer Theater-AG, das betroffene Kind Kontakt zur anderen Menschen herstellen konnte. Eine weitere Person konnte durch die Teilnahme an einer Reittherapie ebenfalls bestimmte Auffälligkeiten verringern und kam auch hier in Kontakt mit anderen Menschen. Aus den Interviews geht weiter hervor, dass die Beschäftigung mit den Betroffenen als wertvoll eingeschätzt wurde. Das ermöglicht eine Kommunikationsbasis auf einer neutralen Ebene und wird von den Pflegeeltern als positiv beschrieben.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Und was natürlich ganz besonders hilft, ist halt die Reittherapie, von der ich am Telefon schon gesprochen habe.“

4.4 Wertschätzung

Eine wertschätzende Haltung im Umgang miteinander ist ein weiterer herausgearbeiteter fördernder Faktor, der in den Interviews genannt worden ist. In der Literatur ist dies ebenfalls als ein fördernder Faktor beschrieben. Durch ein entsprechendes Verhalten kann Wertschätzungu.a. zur Entwicklung eines positiven Selbstbildes führen und den Aufbau des Selbstbewusstseins begünstigen (Falke/​Stein 2018). Außerdem ist Wertschätzung aufgrund der koproduktiven Zusammenarbeit sowieso grundlegend notwendig.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Also diese starke Kontrolle in Verbindung mit Loben und sich dann nicht aufregen, das ist gut.“

4.5 Auszeiten

Auszeiten für die Pflegeeltern wurden als hilfreich beschrieben. Bei der Suche nach Unterstützungsmöglichkeiten für Pflegeeltern lassen sich unterschiedlichste Formen und Angebote finden. Diese reichen von der Entlastung am Wochenende oder in der Haushaltsführung bis zu Ferienangeboten für die gesamte Familie. Welche Form und welches Angebot das passende ist, muss individuell abgewogen werden (https://fasd-fz-koeln.de/infos-service/​entlastungsangebote). Eine interessante Maßnahme ist hier ein Angebot des KinderJugendhilfeForume.V. Solingen. Dieses bietet sogenannte Entlastungswochenenden an. In kleinen festen Gruppen verbringen die Kinder ein Wochenende auf einem Bauernhof im Sauerland und werden dort betreut (https://www.kjfo.de/angebo/​entlastungswochenenden/). Die Pflegeeltern haben so die Möglichkeit, neue Kräfte zu sammeln und Ressourcen wiederherzustellen.

In den Interviews wurden unterschiedliche Arten von der Inanspruchnahme von Auszeiten benannt. Zum einen geht es um die Auszeiten, die oben bereits beschrieben wurden, also Auszeiten am Wochenende, in den Ferien oder eine Entlastung bei der Haushaltsführung. Zum anderen beschrieben Interviewte, dass es hilfreich ist, im Alltag eine kurze Zeit aus der Situation gehen zu können, um sich einen Moment lang zu sammeln und sich so auf die Situation einstellen zu können. Begründet wurde dies mit einer Möglichkeit und Chance, eine Reflexion durchzuführen oder der Sammlung bzw. Wiederherstellung von Ressourcen.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Wir haben uns auch mal Auszeiten genommen. Auch das fanden wir immer wichtig.“

4.6 Zusammenarbeit mit dem Jugendamt (positive Ausprägung)

Bei der Auswertung des Interviewmaterials fällt auf, dass diese Kategorie ambivalent beschrieben wird. Aus diesem Grund wird die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt hier ebenfalls in mehreren Ausprägungen dargestellt, hier zunächst in der positiv wirkenden Form. Die Interviewten äußerten, dass die Zusammenarbeitstark von einzelnen Mitarbeitenden des zuständigen Jugendamtes abhängig sei. Als besonders fördernd wurde beschrieben, dass über einen längeren Zeitraum dieselbe Fachkraft zuständig ist. Das fördert das Vertrauen und hilft dabei, die passenden Hilfen zu installieren. Außerdem wurde beschrieben, dass dadurch ein hoher Vertrauensaufbau sowohl für Pflegeeltern als auch für das Pflegekind erreicht werden kann.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Wir hatten da einen super Sachbearbeiter, der sehr einfühlsam war.“

4.7 Zusammenarbeit mit dem Jugendamt (negative Ausprägung)

Einige Interviewte äußerten eine problembehaftete Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, die von Konflikten geprägt war. Ein Zusammenhang wird mit der jeweilig zuständigen Fachkraft beschrieben, zu der keine vertrauensvolle Basis bestand oder es aufgrund von kontinuierlichen Personalrotationen nicht möglich war, eine entsprechende Verbindung aufzubauen. Weiter wurde die Transparenz des Vorgehens kritisiert sowie eine Anmaßung und Urteilsbildung von Fachkräften oder Amtsleitung.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Aber unglaublich verletzend war, dass der Amtsleiter sich damals tatsächlich erlaubt hat, zu urteilen.“

4.8 Leistungsdruck und Stress

Betroffene haben oftmals ein erhöhtes Stressempfinden oder fühlen sich in Situationen überfordert. Beispielsweise kann das Geräusch einer tickenden Uhr bereits ausreichend sein, um eine Überforderungssituation auszulösen (Feldmann/Löser/Weglage 2007). Helfen könnenhier – wie bereits im fördernden Bereich beschrieben – bestimmte Entspannungstechniken, wie beispielsweise Atemübungen (Blackburn/​Carpenter/​Egerton 2012).Eine Stressreduktion kann beispielsweise durch unterschiedliche Therapieangebote oder Ruhephasen verbessert werden (Falke/​Stein 2021).Drei der vier Pflegeeltern berichteten, dass es bei einem Leistungsdruck oder einer Stresssituation, beispielsweise durch den Besuch einer Schule oder der Ausbildung, zu Problemen kam. Oftmals konnten die Pflegekinder unter Druck schlechtere oder gar keine Leistungen erbringen. Stresssituationen führten dabei oft zu einer Überforderung, in denen sich das Kindzurückzog. Erst wenn die Situation wieder beruhigt war oder der Leistungsdruck sank, verbesserte sich die Situation wieder.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Und immer, wenn er unter Druck gesetzt wurde, dann wurde das alles nur noch schlimmer, dann hat er ganz aufgehört und dichtgemacht.“

4.9 Fehlende Kenntnis über FASD in der Bevölkerung

Diese Kategorie beschreibt den hemmenden Faktor der fehlenden Kenntnis über FASD in der Bevölkerung. Durch unzureichende Aufklärung und Kenntnis werden sowohl Pflegeeltern als auch Pflegekinder, die von FASD betroffen sind, in der Bevölkerung abgelehnt. Menschen im Umfeld können oftmals mit dem Störungsbild nicht umgehen und geraten so in Ungleichbehandlungen bzw. Ungerechtigkeiten. Die Betroffenen erleben Ablehnung seitens der Gesellschaft (Feldmann/​Kampe/Graf 2020). Zum einen beschrieben die interviewten Pflegeeltern, dass sie ausgegrenzt werden, weil der Umgang mit ihren Pflegekindern von der Gesellschaft abgelehnt wird oder sie selbst als erziehungsunfähig bezeichnet werden. Es wurde beschrieben, dass der Kontakt nach Außen alsschwierig wahrgenommen wird, da eine soziale Beurteilung bzw. Verurteilung befürchtet wird. Auf der anderen Seite beschrieben die Pflegeeltern, dass es Ablehnungen für die Pflegekinder gibt. Das äußert sich beispielsweise bei dem Ausschluss von Geburtstagsfeiern unter Kindern. Die Pflegeeltern begründeten dies, mit einer unzureichenden Aufklärung dieses Krankheitsbildes. Oftmals kann durch eine Aufklärung eine Verbesserung erreicht werden.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Von einer Mutter, ach das weiß ich noch genau- die sagte mir mal, das ist aber ein komisches Kind, also da war ich tief getroffen, muss ich sagen.“

4.10 Fehlende Kenntnis innerhalb des Familiensystems

Ein weiterer wichtiger Faktor, der als hemmend beschrieben wurde, ist die eigene fehlende Kenntnis innerhalb des Familiensystems, also beispielsweise der Pflegeeltern. Einefehlende Diagnostik oder eine fehlende Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild seitens der Pflegeeltern, verhindert eine Akzeptanz sowie ein Verständnis für die Defizite und Problematiken des Kindes. Dies kann dazu führen, dass das Kind nicht die Unterstützungsleistung erhält, die es benötigt. Pflegeeltern können möglicherweise zu wenig Verständnis für das Kind aufbringen (Feldmann 2022). In den Interviews wurde beschrieben, dass das Verhältnis zueinander bis zur Diagnosestellung problematischer war. Einige Interviewte äußerten eine Verzweiflung oder Frustration, weil es keine Erklärung für die anhaltenden Problematiken gab. Erst bei einer Diagnose in Verbindung mit einer inhaltlichen Vertiefung des Krankheitsbildes und einer darin anschließenden Verhaltensänderung der Pflegeeltern konnte eine Verbesserung erreicht werden. Die Interviewten berichteten, dass es bis dahin oftmals zu einer Ungleichbehandlung oder sogar einer Ungerechtigkeit für die Pflegekinder gekommen war.

Beispielhaft für diese Kategorie soll das folgende Zitat aus einem Interview stehen: „Und ich verstand das nie.“

5 Einschätzungen der verfassenden Personen

Zusammenfassend für die fördernden Faktoren kann festgestellt werden, dass es eine Vielzahl an unterschiedlichen Methoden und Maßnahmen braucht, die dem Pflegekind und damit den Pflegefamilien einen gelingenden Alltag ermöglichen. Eine individuelle Auseinandersetzung und Erprobung von Maßnahmen ist daher unerlässlich. Diese Erprobung kann zeitaufwendig, kostenintensiv aber auch frustrierend sein und bedarf daher einem hohen Durchhaltevermögen, insbesondere dem der Pflegeeltern. Die genannten fördernden Faktoren wurden auch in der Literatur beschrieben, sodass diese Arbeit die theoretischen Ansätze bestätigen kann. Es hat sich gezeigt, dass der am intensivsten beschrieben positive Faktor die Struktur ist. Dies wird vor allem mit einem geordneten und gleichablaufenden Alltag beschrieben, der es sowohl dem Pflegekind als auch den Pflegeeltern ermöglicht, den Alltag zu bewältigen. Stützend für die Struktur kann dabei auch gesehen werden, wenn therapeutische oder andere Angebote genutzt werden. Auch Entlastungen im Alltag scheinen eine hohe Bedeutung zu besitzen, insbesondere auch, um die sinnvolle Struktur wertschätzend einhalten zu können.

Als schadhaftester Faktor wurde die fehlende Kenntnis über FASD in der Bevölkerung eingeschätzt. Die daraus resultierende Ablehnung der betroffenen Kinder wird als sehr bedeutsam eingeschätzt. Ansonsten wirkt die Unkenntnis bzgl. FASD im eigenen Familiensystem stark negativ auf die Fähigkeit, das Setting förderlich zu gestalten, bspw. im Kontext von Wertschätzung. Wichtiger als erwartet zeigt sich hier auch die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern, die im negativen Fall starke Wirkungen zu entfalten scheint. Wohingegen ein Umgang mit dem Leistungsdruck im untersuchten Feld gut gelungen ist, daher wurden die negativen Auswirkungen als nicht sehr stark eingeschätzt. Denn die förderlichen Ansätze aus Struktur, Beschäftigung und Wertschätzung können dies kompensieren. Über negativ wirkende Faktoren lagen bisher keine Erkenntnisse in der Fachliteratur vor.

Der Ausblick dieses Beitrags soll auf die Möglichkeiten der Aufklärung und Prävention gerichtet werden. Es gibt verschiedene Präventionsangebote, die in unterschiedlichen Lebensphasen aber auch in verschiedenen Settings, wie bspw. in Schulen, Freizeitangeboten, Berufsschulen und dem gesundheitlichen Sektor angeboten werden. Die Zahl der jährlich geborenen Kinder mit FASD lässt jedoch die Vermutung zu, dass die Auswirkungen von Alkohol in der Schwangerschaft nicht ausreichend bekannt sind und es dadurch noch immer zu einem entsprechenden Trinkverhalten kommt. Daher muss aus Sicht der verfassenden Personen durch unterschiedlichste Professionen wie der Sozialen Arbeit, den Erziehungswissenschaften, der Gynäkologie und weiteren Akteuren stetig, umfangreich und niederschwellig Aufklärungsarbeit geleistetwerden.Trotz einer Ausweitung der Aufklärungsarbeit muss davon ausgegangen werden, dass die Erkrankung FASD nicht ausgeschlossen werden kann und Frauen während der Schwangerschaft Alkohol konsumieren. Die Gründe dafür können beispielsweise eine Alkoholabhängigkeit oder eine unwissentliche Schwangerschaft sein.

Aber auch die Kenntnis und die Auswirkungen über das Krankheitsbild FASD, insbesondere in Fachdiensten der Kinder- und Jugendhilfe sowie den Jugendämtern, stellt eine zentrale Voraussetzung dar, um den Kindern und ihren (Pflege-)Familien gerecht zu werden. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es, den Menschen in ihrer individuellen Lebenswelt eine bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Dazu bedarf es einer regelmäßigen Schulungsbereitschaft seitens der Fachkräfte aber auch der Organisationsleitungen.

Auch wenn es in Deutschland bereits Selbsthilfegruppen und Vereine gibt, die sich engagieren, kann jedoch nicht von einer flächendeckenden und bedarfsorientiertenVersorgung ausgegangen werden. Aus Sicht der verfassenden Personen bedarf es ebenfalls einer Ausweitung und Stärkung der Angebote.

6 Literatur

Blackburn, Carolyn, Carpenter, Barry, Egerton, Jo, Educating Children and Young People with Fetal Alcohol Spectrum Disorders. Constructing personalised pathways to learning, New York: Routledge, 2012

Bünemann, Hannah, Fietzek, Michaela, Holodynski, Manfred, Feldmann, Reinhold, FAS-Erste-Hilfe-Koffer: Hilfen und Tipps zur Erleichterung des Alltags mit einem alkoholgeschädigten Kind oder einem Kind mit ähnlichen Verhaltensauffälligkeiten, 3. Auflage, Idstein: Schulz-Kirchner Verlag, 2019

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Stressreduktion bei FASD Betroffenen, deren Bezugspersonen und sozialer Umwelt durch Elterncoaching, Berlin: Drogenbeauftragte der Bundesregierung, 2017

Falke, Susanne, Ein (Pflege-)Kind mit FASD – und glücklich! Zusammenleben mit Kindern und Jugendlichen mit Fetalem Alkoholsyndrom – Leitfaden für Betroffene, Angehörige und Fachleute – Ein pädagogisch-therapeutischer Wegweiser, Idstein: Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2017

Falke, Susanne, Stein, Sabine, Ein (Pflege-)Kind mit FASD und glücklich, 3. Auflage, Idstein: Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2021

Feldmann, Reinhold, Graf, Erwin, Praxishandbuch FASD in der Jugendhilfe, München: Ernst Reinhardt Verlag, 2022

Feldmann, R., Kampe, M., Graf, E., Kindern mit FASD ein Zuhause geben: Ein Ratgeber, Ernst Reinhardt Verlag, 2020. Feldmann, Reinhold, Löser, Hermann, Weglage, Johan, Fetales Alkoholsyndrom (FAS), Monatsschrift Kinderheilkunde, Ausgabe 9/2007 Wiesbaden: Springer Verlag, 2007, DOI: 10.1007/s00112-007-1567-9

Freunsch, Inga, Feldmann, Reinhold, Young Adults with Fetal Alcohol Syndrome (FAS): Social, Emotional and Occupational Development, Münster: Georg Thieme Verlag, 2011

Jost, Annemarie, 2018. Fetale Alkohol Spektrum Störung [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 10.01.2018 [Zugriff am: 04.03.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/​27987

Landgraf, Mirijam, Hoff, Tanja, Fetale Alkoholspektrumsstörungen – Diagnostik, Therapie, Prävention, 1. Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH Verlag, 2019

Landschaftsverband Rheinland, Westfalen-Lippe, Fetale Alkoholspektrum-Störungen in der Praxis der Pflegekinderhilfe: Eine gemeinsame Arbeitshilfe der Landesjugendämter Rheinland und Westfalen, Münster: LandschaftsverbandWestfalen-Lippe, 2017

Mayring, Philipp, Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken, 13. Auflage, Weinheim Basel: Beltz Verlag, 2022

Michalowski, Gisela, Lepke, Katrin, FASD Deutschland, FASD – Herausforderung angenommen?!, Idstein: Schulz-Kirchner Verlag, 2022

Spohr, Hans-Ludwig, DasFetale Alkoholsyndrom im Kindes- und Erwachsenenalter, 2. Auflage, Berlin: Walter de Gruyter GmbH, 2016

Streissguth, Ann Pytkowocz, Barr, Helen, Kogan, Julia, Bookstein, Fred, Understanding the Occurrence of Secondary Disabilities in Clients with Fetal Alcohol Syndrome (FAS) and Fetal Alcohol Effects (FAE). Final Report to the Centers for Disease Control and Prevention, Seattle: University of Washington,1996

Verfasst von
Prof. Dr. Jan Tietmeyer
FOM Hochschule
Professor für Soziale Arbeit
Diplom-Kaufmann und Master Soziale Arbeit
Mailformular

Lisa Walgenbach
Sozialarbeiterin im ASD, Stadt Borken
Mailformular

Es gibt 3 Materialien von Jan Tietmeyer.
Es gibt 1 Materialie von Lisa Walgenbach.

Zitiervorschlag
Tietmeyer, Jan und Lisa Walgenbach, 2024. Pflegekinder mit FASD-Diagnose – Erkenntnisse zur Gestaltung des Zusammenlebens aus Sicht von Pflegeeltern [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 12.04.2024 [Zugriff am: 09.10.2024]. https://doi.org/10.60049/dv2ufolo

Urheberrecht
Dieser Beitrag ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, helfen wir Ihnen gerne weiter. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Materialien für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.