Standard für Rehabilitative Altenpflege nach Oskar Dierbach
Oskar Dierbach
veröffentlicht am 05.06.2024
Inhalt
- 1 Klientenzentrierung: Der Mensch im Mittelpunkt
- 2 Rehabilitation im Mittelpunkt
- 3 Interdisziplinäre Zusammenarbeit auf Augenhöhe in allen Bereichen
- 4 Ressourcenorientierung statt Defizitorientierung
- 5 Literatur
Abkürzungen:
QMS: Strukturqualität, QMP: Prozessqualität, QME: Ergebnisqualität
Zusammenfassung
Unsere Gesellschaft muss dringend eine neue Sichtweise auf das Alter diskutieren. Der alte Mensch ist nicht von seinen Defiziten her zu definieren. Er hat unabhängig von Alter oder Krankheit Ressourcen sowie das Recht auf Menschenwürde und Lebensqualität. Dieses Denken steht im Zentrum der Rehabilitativen Pflege: Was kann und möchte der Mensch noch, wie können Pflege und Therapie dabei unterstützen? Rehabilitative Pflege senkt sogar in einigen Bereichen Kosten, sodass mehr Geld für Fachpersonal und Therapien vorhanden ist. Rehabilitativ pflegen heißt also: Reha in Pflege, und das 24 Stunden am Tag.
In der Ev. Altenhilfe Mülheim an der Ruhr gGmbH wurde unter der Leitung von Oskar Dierbach über Jahrzehnte das Konzept der Rehabilitativen Altenpflege entwickelt und umgesetzt. Diesem Pflegekonzept liegen eine ganzheitliche Sichtweise auf den Menschen und die Aufgaben der Pflege hochaltriger Klient:innen zugrunde. Die Abkehr von der Defizitorientierung und die Hinwendung zu den individuellen Ressourcen stehen im Mittelpunkt. Ermöglicht wird die Rehabilitative Pflege durch interprofessionelle Zusammenarbeit, mehr Pflegepersonal und umfassende Therapieangebote. Aus diesen Erfahrungen und vor diesem Hintergrund werden an dieser Stelle die Standards für die Rehabilitative Pflege definiert.
1 Klientenzentrierung: Der Mensch im Mittelpunkt
QMS 1a:
Alle am Pflege-, Betreuungs- und Therapieprozess beteiligten Akteur:innen haben eine klientenzentrierte Haltung. Akteur:innen: Pflegefachkräfte, Pflegeassistent:innen, Mitarbeitende der sozialen Betreuung sowie der Alltagsbegleitung und der hauswirtschaftlichen Betreuung, Therapeut:innen, Ärztinnen und Ärzte, Pharmazeut:innenen (Dierbach 2023, S. 46 ff.).
QMP 1a:
Die Klientenzentrierung bestimmt die Struktur der Anamnese, die Gesprächsform im Umgang mit den Pflegebedürftigen, die Suche nach den individuellen Schlüsseln der Compliance zur Mitwirkung und schlussendlich auch Umfang, Art und Zeitpunkt für therapeutische Interventionen. Der bzw. die Pflegebedürftige selbst ist der oder die Taktgeber:in für alle fachlich sinnvollen Betreuungsschritte und Therapien. Seine bzw. ihre Compliance und Lebensmotivation sind der Schlüssel zum Erfolg.
QME 1a:
Die Klientenzentrierung gilt dann als erfolgreich umgesetzt, wenn hilfebedürftige Menschen ihre eigene Lebensmitte wiedergefunden haben und maßgeblich an der Steuerung ihres Therapieprozesses im Alltag beteiligt sind. Sie erleben dies als Erfahrung zurückgewonnener, eigener Selbstständigkeit und Selbstbestimmung.
QMS 1b:
Die Einrichtung fördert die klientenzentrierte Haltung ihrer Mitarbeitenden und Kooperationspartner. Sie schafft Strukturen der kontinuierlichen Einbeziehung von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen in den Betreuungs- und Therapiealltag (Dierbach 2023, S. 52 ff.).
QMP 1b:
Die Einrichtung organisiert Formate regelmäßiger, verbindlicher und fallbezogener Teamtreffen zwischen externen und internen Fachkräften der Therapie mit Mitarbeitenden der Pflege und der sozialen Betreuung zur gemeinsamen Maßnahmenplanung und Evaluation des Therapiegeschehens. Die leitenden Pflegefachkräfte und Qualitätsbeauftragten begleiten diesen Prozess, um die Klientenzentrierung sicherzustellen.
QME 1b:
Die von der Einrichtung initiierten und durch ihre fachliche Leitung begleiteten Formate zur Stärkung klientenzentrierter Teamarbeit gelten als etabliert, wenn die beteiligten internen und externen Akteur:innen diese Formate für sich selbst als notwendig und wertvoll adaptiert haben und dies gegenüber Dritten (z.B. Angehörigen, Nachwuchskräften) auch so kommunizieren.
2 Rehabilitation im Mittelpunkt
QMS 2a:
Die Pflegekräfte verstehen ihre beruflichen Aktivitäten primär als Teil eines ganzheitlichen, rehabilitativen Handelns im Lebensalltag der Klient:innen (Dierbach 2023, S. 20 ff.).
QMP 2a:
Pflegekräfte gestalten ihre alltäglichen Einzelaktivitäten der Grund- und Behandlungspflege nach individuellen Maßnahmenplanungen, dabei sind therapeutisch-rehabilitative Gesichtspunkte (z.B. Physiotherapie, Motopädie, Ergotherapie, Lichttherapie) handlungsleitend. Dies geschieht in engster Abstimmung mit Fachtherapeut:innen und Mediziner:innen vor Ort. Fallkonferenzen, Fachkonsile und tägliche „Zwischen-Tür-und-Angel“ Gespräche bilden hierzu unterschiedliche Formate.
QMS 2b:
Die Mitarbeitenden der sozialen Betreuung verstehen ihren Dienst gleichermaßen als Teil eines ganzheitlichen, rehabilitativen Handelns.
QMP 2b:
Die Mitarbeitenden der sozialen Betreuung stehen in der regelmäßigen Kommunikation mit Therapeut:innen und Pflegekräften. So unterstützen sie mit ihrer betreuenden, individuellen Alltagsbegleitung und ihren Gruppenaktivitäten begonnene Therapieprogramme an einzelnen Klient:innen.
QMS 2c:
Die therapeutischen Fachkräfte verstehen ihrerseits ihre Arbeit als Teil eines ganzheitlichen, rehabilitativen Handelns im gesamten Alltag der oder des Pflegebedürftigen (Dierbach 2023, S. 65 ff.).
QMP 2c:
Die therapeutischen Fachkräfte suchen aktiv den Austausch mit den Pflegekräften und den Mitarbeitenden der sozialen Betreuung. Sie geben auch außerhalb der interprofessionellen Teambesprechungen zeitnah und auf kurzem Dienstweg Anregungen und Anleitungen an Pflege und soziale Betreuung weiter. Umgekehrt erfahren sie in der Alltagsbegegnung zeitnah von den Kolleg:innen der anderen Berufsgruppen, ob und wie im Einzelfall Fortschritte in der Alltagsbewältigung einzelner Klient:innen zu erkennen sind. Die Klient:innen selbst sind in diesen Informationsaustausch möglichst regelmäßig einzubeziehen.
QME 2a-c:
Die gemeinsame rehabilitative Intervention von Pflege, sozialer Betreuung, Therapie, Pharmazie und Medizin führt in den allermeisten Fällen zu einer deutlichen Verbesserung der gesundheitlichen Situation Pflegebedürftiger. Es kommt zur Steigerung der Selbstständigkeit und der Lebensfreude. In 10-15 % der erheblich und schwer Pflegebedürftigen ist nach konsequenter Rehabilitativer Pflege eine Rückkehr in die eigene Häuslichkeit zu erwarten.
QMS 2d:
Die Einrichtung ermöglicht und fördert Rehabilitative Pflege in fachlicher Hinsicht und durch die Bereitstellung von personellen und räumlichen Ressourcen (Dierbach 2023, S. 31 ff.).
QMP 2d:
Die Einrichtung stellt, gerade auch durch einen angemessenen Personalschlüssel in der Pflege, die unter QME 2a–c beschriebene Kommunikation und Interaktion der Akteur:innen sicher. Als angemessen gilt, dass jeweils eine Pflegekraft je Tagesschicht nicht mehr als sechs bis max. acht Pflegebedürftige zu betreuen hat. Bei Pflegebedürftigen mit Pflegegrad 4 oder 5 und/oder gerontopsychiatrisch veränderten Menschen ist von vier bis max. sechs Personen pro Pflegekraft auszugehen, damit Rehabilitative Pflege möglich bleibt.
Personalschlüssel in der Pflege sind so zu gestalten, dass nach Abzug von Ressourcen für Urlaub, Krankheit und Fortbildung der Mitarbeitenden, real die genannten Betreuungsverhältnisse möglich sind. Die Fachkraftquote sollte bei mindestens 60 % liegen.
Solange SGB V und SGB XI voneinander getrennte Leistungsgesetze sind, wird eine Einrichtung den Bedarf an therapeutischen Rehaleistungen über verschiedene Wege sicherstellen müssen. So z.B. durch ärztliche Verordnung über SGB V und ergänzend durch zusätzliche Förderprogramme. Die Einrichtung stellt eigene therapeutische Fachkräfte ein, die im Regelbetrieb Teil des interdisziplinären Mitarbeiter:innenteams sind. Ihre Arbeit wird durch externe Kolleg:innen, die auf ärztliche Rezept-Verordnung arbeiten, ergänzt. Diese therapeutischen Fachkräfte arbeiten z.B. im Bereich Physio-, Ergotherapie, Motopädie, Kunst- und Musikgeragogik.
Die kooperative Zusammenarbeit mit einer Geriaterin oder einem Geriater oder die Festanstellung eines solchen Facharztes bzw. einer solchen Fachärztin in der Pflegeeinrichtung ist die logische Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung konsequenter Rehabilitation in der Pflege. Mindestens aber gestaltet die Einrichtung eine verbindliche Kooperation mit dem neurologischen und gerontopsychiatrischen fachärztlichen Dienst. Ebenso ist die Kooperation mit dem pharmakologischen Fachdienst (Apotheke) für die Medikamentenanalyse und die kontinuierliche pharmakologische Schulung der Mitarbeitenden unverzichtbar.
Die Fachleitung der Pflege hat die Verantwortung für Steuerung und Evaluation des Prozessgeschehens der Rehabilitativen Pflege in der Gesamteinrichtung. Sie wird hierbei in besonderer Weise vom fachärztlichen Dienst der Geriatrie, der Neurologie und der Psychiatrie sowie der Pharmakologie unterstützt.
Die Einrichtung stellt räumliche Ressourcen zur Verfügung. Hierzu gehören auch geeignete Geräte zur Unterstützung der unterschiedlichen Therapien sowie die Ausstattung von Gemeinschafts- und Gruppenräumen mit der Technik der Lichttherapie.
QME 2d:
Mitarbeiter:innengesundheit, Mitarbeiter:innenzufriedenheit, daraus folgende Arbeitsmotivation und Sinnerfahrung sind bei den Arbeitsbedingungen der Rehabilitativen Pflege deutlich höher. Das Personalmanagement einer Einrichtung profitiert deutlich von dieser Wirkung.
3 Interdisziplinäre Zusammenarbeit auf Augenhöhe in allen Bereichen
QMS 3a:
Die Pflegefachkraft in der Rolle der Bezugspflegekraft versteht sich als Lotse in einem interprofessionellen Team (Dierbach 2023, S. 37 ff.).
QMP 3a:
Die Pflegefachkraft als Bezugspflegekraft plant und koordiniert das individuelle Case-Management im interprofessionellen Team als erste unter gleichen. Sie trägt im täglichen Prozess Sorge dafür, dass alle beteiligten Akteur:innen an den geplanten Fallbesprechungen teilnehmen, ihre Informationen zeitnah weitergeben und auf möglichst kurzen Wegen miteinander kommunizieren. Sie überwacht die verabredeten Zeitfenster für Evaluation. Sie ist die wichtigste Ansprechpartnerin für Klient:innen und ihre Angehörigen.
QME 3a:
Das multiprofessionelle Team unter der Leitung der Bezugspflegefachkraft erlebt die seelische, körperliche und geistige Verbesserung und/oder Stabilisierung bei einer oder einem Pflegebedürftigen als gemeinsam errungenen Erfolg in der Ergänzung unterschiedlichster Kompetenzen. Dieser gemeinsame Erfolg beflügelt die Freude an dem voneinander Lernen und dem miteinander Arbeiten und stärkt so den Prozess der interprofessionellen Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
QMS 3b:
Das interprofessionelle Team (Mitarbeitende der Pflege, sozialen Betreuung, Therapien, pharmakologische Versorgung, medizinische Versorgung) leben Teamarbeit auf Augenhöhe (Dierbach 2023, S. 37 ff.).
QMP 3b:
Im interprofessionellen Team halten sich interne wie externe Akteur:innen an die verbindlichen Kommunikations- und Dokumentationsstrukturen. Die Bezugspflegefachkraft wird im Alltagsgeschehen in ihrer leitenden Rolle geachtet.
QME 3b:
Die Bereitschaft, sich an verabredete Strukturen zu halten, steigt mit positiven Erfahrungen aus der Zusammenarbeit.
QMS 3c:
Die Einrichtung schafft Strukturen und Ressourcen, die die Zusammenarbeit im interdisziplinären Team ermöglichen und fördern und dies auch unter Einbeziehung der externen Kooperationspartner. Die Einrichtung stärkt ausdrücklich die Rolle der Bezugspflegefachkraft in ihrer Lotsenfunktion.
QMP 3c:
Die Einrichtung stellt die fachliche Leitung des Prozessgeschehens und die supervisorische Begleitung der interdisziplinären Teams sicher. Sie tut dies durch klare Dienstanweisungen, Verträge mit Externen, sowie Fort- und Weiterbildungsangebote.
QME 3c:
Die Einrichtung erzielt durch die hohe Qualität der interdisziplinären Zusammenarbeit bei hoher Kosteneffizienz ein sehr gutes Qualitätsergebnis. Dies steigert die Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere in Bezug auf die Gewinnung qualifizierter Mitarbeitender.
4 Ressourcenorientierung statt Defizitorientierung
QMS 4a:
Alle Mitarbeitenden der Pflege, der sozialen Betreuung und der Therapie verstehen ihre berufliche Rolle primär in der Evaluation und Stärkung der Ressourcen pflegebedürftiger Menschen und sekundär im Case Management der Kompensation von Defiziten (Dierbach 2023, S. 27).
QMP 4a:
Anamnese, Maßnahmenplanung und Evaluationsziele sind eindeutig ressourcenorientiert ausgerichtet. Auch die alltägliche Dokumentation enthält in der Regel mindestens soviel Informationen zur möglichen Stärkung der Ressourcen wie Angaben zu Defiziten und deren Kompensation.
QME 4a:
Aus der Priorisierung der Betrachtung von Ressourcen und Defiziten leitet sich eine geänderte Priorisierung der Maßnahmenplanung und der Zielformulierung ab. Das Bild vom Menschen, dem es auch in Pflegebedürftigkeit morgen besser gehen soll als heute, bestimmt das Denken, Planen und Handeln.
QMS 4b:
Die Einrichtung setzt sich aktiv pflegefachlich und sozialpolitisch für eine grundsätzliche Abkehr von der gesellschaftspolitischen Defizitorientierung der Pflege ein und fördert ein ressourcenorientiertes Pflegeleitbild.
QMP 4b:
In ihrer Kommunikation mit den medizinischen Diensten, der Heimaufsicht, den Kostenträgern und der interessierten Öffentlichkeit legt die Einrichtung ihren Handlungsschwerpunkt darauf, die Ressourcen alter Menschen in den Fokus zu stellen und organisiert den Lebensalltag der ihr anvertrauten Menschen als „24-Stunden-Rehabilitation“.
QME 4b:
Bei konsequenter Umsetzung Rehabilitativer Pflege gewinnen alle Beteiligten: Zuallererst die Pflegebedürftigen selbst und ihre Angehörigen, aber auch die pflegenden Profis sowie die Kostenträger des Gesundheitssystems und der Sozialhilfe. Zusätzlich profitieren das Image der Pflegeberufe und letztlich die Gesellschaft in ihrem gelebten Generationenvertrag.
5 Literatur
Dierbach, Oskar 2023. Rehabilitative Altenpflege. Therapeutisches Pflegemodell: Konzept, praktische Umsetzung, Kosten und Nutzen. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-042203-2 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Oskar Dierbach
Sozialpädagoge mit Schwerpunkt Sozialmedizin, leitende Pflegefachkraft
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Zitiervorschlag
Dierbach, Oskar, 2024.
Standard für Rehabilitative Altenpflege nach Oskar Dierbach [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 05.06.2024 [Zugriff am: 22.06.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/materialien/30125.php
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