Zur Bedeutung transversaler Sozialitäten in schwierigen Lebenslagen
Hanna Hüdepohl, André Körner, Jörg Reitzig
veröffentlicht am 27.09.2024
Inhalt
- 1 Einleitung
- 2 Konzeptioneller Rahmen der Forschung und methodisches Vorgehen
- 3 Ergebnisse
- 4 Fazit
- 5 Literatur
Zusammenfassung
Transversale Sozialitäten [1] bezeichnen Kooperations- und (Selbst- )Verständigungsprozesse, die quer zur herrschenden Struktur von Institutionen liegen. Sie sind räumlich und zeitlich begrenzt und realisieren sich in praktischen Aktivitäten, getragen von einem Gruppenwunsch, beziehungsweise von einem gemeinsamen Thema, das kollektiv bearbeitet wird. Entsprechende Praxen gehen notwendig mit Reflexionen zu den Bedingungen und Möglichkeiten konkreter Gesellschaftlichkeit einher, sind also (Selbst-)Bildung am Sozialen. Andererseits können sie aber auch ein Ausdruck von Selbstorganisation oder Selbsthilfe im Hinblick auf tragfähige Sozialitäten oder soziale Widerständigkeit sein, die neue Kooperationsnetzwerke hervorbringen und insofern eine Form der tätigen Gestaltung (Bildung) des Sozialen darstellen.
Am Beispiel dreier verschiedener Einrichtungen im Feld der Sozialen Arbeit wird empirisch der Frage nachgegangen, wie sich transversale Sozialitäten abbilden und welche Strategien zur Bearbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse dabei sichtbar werden. Diese Perspektive verändert die Analyse von Gruppenprozessen ebenso wie die der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, in die sie eingebettet sind. Die relationale Bedeutung des Kollektiven tritt dabei in den Vordergrund, wodurch sich Möglichkeiten für eine partizipative Soziale Arbeit eröffnen.
1 Einleitung
Noch bevor die erste Pisa-Studie die Bildungsdebatte auch in der Sozialen Arbeit befeuerte, formulierten Timm Kunstreich und Michael May (1999) ein Konzept von Sozialer Arbeit „als Bildung am Sozialen und Bildung des Sozialen“. Darin kommt dem Begriff des Transversalen eine besondere Bedeutung zu. Er bezeichnet Kooperations- und (Selbst‑)Verständigungsprozesse, die quer zur herrschenden Struktur von Institutionen liegen (Kunstreich und May 1999, S. 40) und sich sowohl in formellen wie in informellen Settings und Verbindungen realisieren. Der subjektive Faktor oder, anders gesagt, die tätige Entfaltung des Eigensinns, verkörpert dabei eine Kraft, der das Potenzial zur Transformation vorhandener Strukturen und (institutionalisierter) Machtverhältnisse innewohnt. Entsprechende Praxen gehen notwendig mit Reflexionen zu den Bedingungen und Möglichkeiten konkreter Gesellschaftlichkeit einher, sind also (Selbst-)Bildung am Sozialen. Andererseits können sie aber auch ein Ausdruck und Moment von Selbstorganisation oder Selbsthilfe im Hinblick auf tragfähige Sozialitäten oder soziale Widerständigkeit sein, die neue Kooperationsnetzwerke hervorbringen und insofern eine Form der tätigen Gestaltung (Bildung) des Sozialen darstellen (ebd.).
Nachfolgend werden zunächst die theoretische Konzeptionierung und die Methodik des Forschungsprojekts dargestellt. Darauf folgen eine komprimierte Darstellung zentraler Ergebnisse sowie ein vorsichtiges Fazit zu unseren Forschungen.
2 Konzeptioneller Rahmen der Forschung und methodisches Vorgehen
Transversale Sozialitäten stellen eine theoretische Denkfigur dar, mit der ein besonderer Fokus auf kollektive Handlungspraktiken und die Gruppe als Subjekt (der Sozialen Arbeit) gelegt wird. Insofern bieten sie einen analytischen Zugang aus der Perspektive der Akteur:innen. „Sozialitäten bilden sich immer quer (‚transversal‘) zu den hegemonialen Institutionen von Familie, Schule, Betrieb, Profession usw.“ (Kunstreich 2001, S. 1094). Sie sind getragen von einem Gruppenwunsch, beziehungsweise von einem gemeinsamen Thema, das kollektiv bearbeitet wird (ebd.). Sozialitäten sind zeitlich, räumlich und bezogen auf Interessen beschränkt und verwirklichen sich in den sie realisierenden Aktivitäten (Kunstreich 2016, S. 37). Gleichzeitig wird mit Transversalität eine Bewegung beschrieben zwischen den Polen Objektgruppe, die sich gesellschaftlichen Normen anpasst, und Subjektgruppe, in der lebendige Arbeit die Aktivitäten kennzeichnet (ebd., S. 38 f.), womit hier die tätige Bearbeitung schwieriger Lebenslagen gemeint ist. Bislang gibt es zu dieser Thematik wenige Veröffentlichungen. Eine Ausnahme ist etwa die Arbeit von Wiebke Dierkes (2022), aus deren Sicht die Perspektive transversaler Sozialitäten es ermöglicht, „gesellschaftliche Prozesse und deren Bearbeitung aus der Akteur:innenperspektive zu denken und zu rekonstruieren“ (ebd., S. 110). Akteur:innen sind dabei „Mitglieder vielfältiger Sozialitäten (…), die wiederum mit sehr unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen belegt werden“ (ebd., S. 111) und über relationale Subjektivität miteinander verbunden sind, die es zu verstehen gilt, um sie gegebenenfalls effektiv unterstützen zu können.
Der darin angelegten Frage nach der alltagspraktischen Bedeutung transversaler Sozialitäten wird sich im Folgenden aus einer verstehenden Forschungsperspektive genähert, wie sie bei Jean-Claude Kaufmann (2015) beschrieben wird. Bereits die Entwicklung des Interviewleitfadens sowie die Interviewdurchführung und -interpretation waren an dieser Methode orientiert. Sie steht in der Tradition der analytischen Induktion und der Grounded Theory und verfolgt das Ziel der Theorieentwicklung auf der Grundlage des Wissens der Befragten. „Es geht darum zu verstehen, im striktesten weberschen Sinne, das heißt, dass die ‚Intropathie‘ lediglich als Instrument dient, das zum Erklären führen soll, und nicht an sich schon Ziel und Zweck ist, also kein intuitives Verstehen, das sich selbst genügt. Das Hauptziel der Methode ist die Theorieproduktion (…): als Herausarbeiten einer möglichst feinen Wechselwirkung zwischen Daten und Hypothesen“ (Kaufmann 2015, S. 13). Sie kehrt dabei allerdings die Reihenfolge der beiden Phasen um, in denen der Gegenstand herausgearbeitet wird: Das Untersuchungsterrain ist nicht Instanz zur Überprüfung einer vorher formulierten Fragestellung, sondern es ist der Ausgangspunkt für diese Fragestellung (ebd., S. 25). Diese spezifische Art der qualitativen Forschung ermöglicht es, gesellschaftliche Prozesse von unten in den Blick zu nehmen und so Theorie zu entwickeln, die „in den Tatsachen wurzelt“ (ebd., S. 26). Durch diesen Blickwinkel eröffnet sie die Möglichkeit, sich dem Thema der transversalen Sozialitäten verstehend zu nähern. Konkret wollten wir verstehen, wie sich transversale Sozialitäten in sozialen Einrichtungen abbilden und welche Strategien der Bearbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse sich über sie rekonstruieren lassen.
Nach einer vertiefenden inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Konzept der Transversalität wurden drei konkrete räumliche Ansatzpunkte für die Untersuchung ausgewählt: ein Tagestreff für Wohnungslose, eine niederschwellige Begegnungsstätte für Sucht- und Drogenkranke sowie ein Treff für Asylsuchende, der regelmäßig Beratungen und Begegnungsmöglichkeiten für geflüchtete Menschen bietet. Aus dem skizzierten inhaltlich-konzeptionellen und räumlich-strukturellen Ansatz resultierte schließlich auch die Forschungsfrage: Inwiefern lassen sich transversale Sozialitäten im Kontext der drei ausgewählten Orte beziehungsweise Einrichtungen abbilden und welche alltäglichen Strategien zur Bearbeitung (im Sinne von Bildung am und Bildung des Sozialen) gesellschaftlicher Verhältnisse werden dabei sichtbar?
Der Kontaktaufbau zu den Einrichtungen und die Klärung administrativer Voraussetzungen zum Forschungsvorhaben wurden über die Projektseminarleitung vorbereitet. Für jede der drei Einrichtungen war jeweils eine Forschungsgruppe verantwortlich, die das weitere Vorgehen im Prozess selbstständig vereinbarte und terminierte – auf Basis ungefährer Eckdaten, bis wann bestimmte Prozesse abgeschlossen sein sollten. Zur Vorbereitung der späteren Interviews wurden alle drei Einrichtungen beziehungsweise Orte von der jeweils zuständigen Gruppe über einen Zeitraum von einigen Wochen mehrfach besucht, um durch die Präsenz und auch durch die tätige Mitwirkung vor Ort Beziehungen zu Nutzer:innen und Mitarbeitenden herzustellen. Die dadurch aufgebauten Kontakte erleichterten die spätere Anbahnung und Durchführung von Interviews in diesen sensiblen Feldern mit überaus vulnerablen persönlichen Lebenslagen.
Im Ergebnis wurden von jeder Studierendengruppe an ihrem jeweiligen Ort insgesamt bis zu drei verschiedene Interviews geführt und ausgewertet. Alle interviewten Personen haben vorab schriftlich ihre datenschutzrechtliche Einwilligung gegeben, nachdem sie über Zweck und Ziel der Forschung informiert wurden. Die Auswertung der aus den Interviews gewonnenen Daten basierte dann im Folgenden auf sechs Schritten. Erstens, der Transkription der Interviews, um eine detaillierte Analyse des Gesagten zu ermöglichen. Zweitens, der Codierung, bei der Schlüsselbegriffe, Themen, Muster und Konzepte identifiziert wurden, die aus der Forschungsfrage abgeleitet werden konnten (Hypothesenbildung). Wichtige Grundlage waren hierbei gemeinsame exemplarische Diskussionen am (ausgewählten) Material in der gesamten Plenumsgruppe des Forschungsprojekts. Drittens, der Kategorisierung von Interviewsequenzen, um Muster und Zusammenhänge zwischen den Daten zu erkennen. Viertens, der Interpretation auf Grundlage der in Kategorien organisierten Daten, um die sozialen Beziehungen oder bestimmte Muster zu verstehen. Fünftens, der Validierung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen in Rückkoppelung mit anderen Mitgliedern der Forschungsgruppe und der Projektseminarleitung, um eine angemessene Interpretation sicherzustellen. Sechstens, der Verschriftlichung in Form eines Forschungsberichts, der die wichtigsten Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zusammenfasst. Die hier in diesem Aufsatz verwendeten Interviews aus diesen drei Forschungsberichten werden in der Zitation nach Örtlichkeit (W=Tagestreff Wohnungslose, S=Begegnungsstätte Sucht, A=Treff für Asylsuchende) mit der Nummerierung 1 bis 3 und gegebenenfalls mit fiktiven Namen aufgeführt.
3 Ergebnisse
In der Analyse der Interviews und der Interpretation von Zusammenhängen sowie den gemeinsamen Versuchen, im Projekt Kategorien herauszuarbeiten, die die unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten und damit verbundene Prozesse vergleichbar machen, kristallisierten sich drei relevante Zusammenhänge heraus. Transversale Sozialitäten zeichnen sich in allen Untersuchungsfeldern empirisch dadurch aus, dass die jeweiligen Sozialitäten erstens bestimmte Bedingungen für Zugehörigkeit aufweisen, dass mit ihnen zweitens Aktivitäten und Funktionen verbunden werden und dass sie drittens alltagsrelevante (non-formale oder informelle) Bildungserfahrungen vermitteln.
3.1 Bedingungen für Zugehörigkeit: Exklusivität
In den sozialen Einrichtungen entsteht die Möglichkeit, dass sich auf der Grundlage einer bestimmten Exklusivität Sozialitäten bilden. Der offene Treff für Asylsuchende bietet Hilfesuchenden einmal wöchentlich für einige Stunden die Möglichkeit zur Begegnung oder erste Unterstützung bei Fragen oder Problemen zu erhalten. Exklusivität stellt sich in der Gruppe der Nutzer:innen hauptsächlich über Fluchterfahrungen und den (prekären) Aufenthaltsstatus – oder das Wissen um die damit verbundenen Probleme – her. So sind auch Personen, die schon länger und mit geklärtem Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, Teil dieser Sozialität. „Beinah wollte isch nisch mehr zu tun haben. […] Dann auf einmal die Iraner gekommen wieder, dann bin ich gekommen und dann ist ganz (unv.) wieder lustig und gut geworden“ (A1).
In den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und der Drogen- und Suchtberatung entsteht die Exklusivität über die jeweiligen Kategorien, die zum sozialen Ausschluss führen – Sucht und Armut. „Es ist eigentlich nichts anderes, als ja (…) man trifft Seinesgleichen sozusagen, ne“ (S1). Dazu kommt, dass sich die Angehörigen der Sozialitäten untereinander auf einen Verhaltenskodex verständigt haben, zu dem zumindest Verschwiegenheit gehört. „Feste Regeln gibt’s keene, das ist halt einfach ‘n Kodex, was unneranander geht. (…) Ich hör nix, ich seh nix … ich weeß nix … des ist praktisch unter uns“ (W1). Mit dem Verhaltenskodex gehen auch unterschiedliche Problemlösungsstrategien der potentiellen Nutzer:innen Sozialer Arbeit einher, das heißt, die Exklusivität entscheidet nicht nur über den Zugang, sie legt auch fest, welches Verhalten in der Gruppe als akzeptabel gilt. Aus den geführten Interviews geht hervor, dass der Schlüssel zur Sozialität ein ähnlicher biografischer Hintergrund ist, der zu einem Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft geführt hat. Dies ist die Grundbedingung zur Teilhabe an der Gruppe. Der Zugang zur Gruppe ist Stigma und Anspruch zugleich, uneindeutig und ambivalent. Das bedeutet, die Sozialität hat schon aufgrund ihres ambivalenten Zugangs sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Nutzer:innen (Kunstreich 2022, S. 213). Während diese vom exklusiven Zugang im Rahmen ihrer Selbstbetrachtung profitieren, werden auf der anderen Seite Ausschließungsprozesse sowohl innerhalb als auch für die ganze Sozialität reproduziert. Dies äußert sich sowohl in den Abwertungen als Gruppe, „desderwegen werden wir halt auch immer so komisch angesehen und des stört mich halt (…) die sehen auf uns herab“ (W3), als auch in einer Beschränkung im Zugang zu Angeboten des Treffs, wie beispielsweise der Leiter des Obdachlosentreffs schildert. Die sozialen Ausschlusskriterien (zum Beispiel Sucht, Wohnungslosigkeit) der Sozialitäten wiederum verlaufen entlang der typischen Tätigkeitsfelder Sozialer Arbeit. „Die Blicke was, die Blicke sagen manschma mehr wie (..) wissense was isch mein“ (W1). Gleichzeitig werden über die Exklusivität der Sozialität feste Werte innerhalb der jeweiligen Gruppen gebildet, welche auch als eine Art Gegeninstitution zur bürgerlichen Welt verstanden werden können und nicht selten in Konflikt mit bürgerlichen Werten stehen.
Die widerspenstigen Praxen in ihren Handlungsmustern können gewissermaßen als „Techniken gegen die Mikromechanismen der Macht“ (Maurer 2006, S. 201) im Kampf um Teilhabe interpretiert werden. „Ja, des ist halt bei uns so. Leut wo Drogen nehme, die kommen immer zusammen. Die tun sich mal streiten und so und dann kommen sie doch wieder zusammen“ (S1). Diese gegenüber den herrschenden Verhältnissen widerspenstigen Praxen sind auch insofern interessant, als Nutzer:innen (auch in anderen Beratungs- und Betreuungsverhältnissen Sozialer Arbeit) auf diese Weise probieren, soziale Teilhabe zu ihren Bedingungen zu erreichen. Oder, wie es einer der Interviewten formuliert: „ich bin halt Alkoholiker und hier muss ich mich net schämen, hier is keiner, der sagt, oh guck mal (…)“ (S1).
3.2 Aktivität und Funktion: Sozialer Sinn der Interaktionen
Die Teilhabe an der Sozialität hat für die Individuen eine sinngebende Funktion und ist mit verschiedenen alltäglichen Aktivitäten und Funktionen verbunden. In den drei beforschten Einrichtungen konnten verschiedene Funktionen herausgearbeitet werden, die der Zugehörigkeit für die Einzelnen einen sozialen Sinn verleihen. Diese Aktivitäten und Funktionen decken im Alltag der Nutzer:innen ein großes Spektrum an verschiedenen Möglichkeiten ab, dienen aber dem Zweck, gewisse Lücken zu schließen, die durch den erlebten gesellschaftlichen Ausschluss nicht mehr beziehungsweise noch nicht (Asyl) gesichert werden.
Zunächst suchen die Menschen die Orte auf, weil sie sich Hilfe in ihrer konkreten Lebenslage erwarten. Dabei ergeben sich erweiterte Handlungsoptionen und Alternativen zum bisherigen Alltagsleben „(…), also eine Alternative wäre entweder, ich gehe da vorne hin, da an diesen Kirchenplatz, wo die anderen sich getroffen haben oder ich such mir irgend ‘ne Kneipe, die morgens schon auf hat, aber des ist jetzt auch net (…)“ (S1) oder konkreter in der Asylhilfe durch Übersetzungen von Schriftstücken im Umgang mit Behörden. Auch im Treff für Obdachlose können Leistungen in Anspruch genommen werden, die das alltägliche Überleben erleichtern. Fernando berichtet diesbezüglich: „isch kann dusche gehen, isch kann Klamotte wasche, isch kann (…)“, was in seiner Situation „Gold wert“ (W1) sei. Auch biete ihm der Treff eine Möglichkeit zur Reintegration in den Wohnungsmarkt, da er dort am PC nach Wohnungs- oder Jobangeboten schauen könne. Er berichtet weiterhin, dass er sich über die Nutzung verschiedener sozialer Angebote einen strukturierten Tagesablauf geschaffen habe, der ihn dabei unterstütze „Sich net praktisch, morgens direkt eine neizuschütte“ (W1). Dieses gilt aber nicht nur für ihn, sondern auch der Leiter des Obdachlosentreffs berichtet, dass es große Überschneidungen zwischen den Nutzer:innen der verschiedenen Angebote gibt und er sich daher proaktiv mit den anderen Verantwortlichen auf angepasste Öffnungszeiten verständigt habe, um die Nutzer:innen in ihrer Tagesstruktur zu unterstützen.
Das Angebot des Asylcafés ist für Asylsuchende eine Chance, geflüchtete Gleichgesinnte kennenzulernen und sich auszutauschen, beispielsweise mit Personen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, dieselbe Sprache sprechen oder dem gleichen Kulturkreis angehören. Es bietet Einzelnen aber auch die Möglichkeit, selbst zu helfen: „Es gibt irgendwie (…) gibt mir Kraft. Und deswegen hilfe ich(…) mit diese Kraft. Und wenn ich hilfe, bin isch glücklich“ (A1). Zum Erhebungszeitpunkt besuchten den Treff vor allem Menschen aus Afghanistan, dem Iran, dem Irak, der Türkei oder aus der Ukraine. In der Beratung werden hauptsächlich Fragen zur Beantragung von Kinder- und Wohngeld und der Formulierung von Bewerbungsschreiben bearbeitet. Lydia übt dort regelmäßig die Funktion einer Übersetzerin aus: „Und dann manchmal isch kommen die andere Leute helfen übersetzen“ (A2). Dabei ist Lydia keine ausgebildete Dolmetscherin, sondern engagiert sich ehrenamtlich im offenen Treff für Asylsuchende, wobei sie gleichzeitig ebenfalls als Geflüchtete dort Hilfe bei der Bewältigung von Anträgen sucht.
Die Erwartungen gehen aber häufig über die Hoffnung, in den Einrichtungen Hilfe zu finden, hinaus und sind gerichtet auf Sozialität: „Das man Hilfe hier finden tut, Kontakt zu Leuten mal wieder hat, ne. Soziale, soziale ähm soziales Umfeld sich vielleicht auch aufbaut, ne“ (S1). In allen Einrichtungen eröffnen sich Möglichkeitsräume, sei es beispielsweise, wenn sich Leute gleicher Herkunftsländer miteinander vernetzen können oder wenn man nicht zurechtkommt „frag ich halt Leute wo sich da besser auskenn. […] die helfen mir dann und so“ (S1). Mitunter spielt dabei auch die Übernahme von Care-Arbeiten, die sonst eher im familiären Umfeld verortet sind, eine Rolle. Dies wird vom Leiter des Obdachlosentreffs folgendermaßen beschrieben: „[…] die einzelnen Gruppen, was heißt, die sind ja teilweise auch übergreifend die Gruppen, ähm je nachdem wenn jemand in Haft kommt und dann wird schon oder wenn jemand fehlt […] der Rest der Gruppe macht sich dann wirklich Sorgen. Die gehen dann rum, von einem Platz zum andern und suchen die Leute“ (W2). Ähnliches berichten auch Nutzer:innen der Begegnungsstätte für Suchterkrankte: „Also klar, da hilft man sich schon, da hilft man sich schon, da sind die Leute hier glaub ich auch ziemlich solidarisch, weil sie sich ein bisschen als Clique sehen, ne“ (S1).
Dass man sich um andere kümmert oder diese Personen ggf. mit notwendigen Ressourcen wie Schlafsäcken oder trockene Plätzen für die Nacht versorgt, taucht als Motiv in den Erzählungen immer wieder auf. Hier kommt also ein Moment zum Tragen, das in der Theorie als Zurückdrängung vertikaler Herrschaftszwänge beschrieben wird, zugunsten horizontal gleichberechtigter Mitgliedschaft, die es ermöglicht, sich als Subjektgruppe wahrzunehmen (Kunstreich 2022, S. 217). Während somit einerseits viele unterstützende Strukturen geschaffen werden und sich die Sozialität für manche wie eine Ersatzfamilie anfühlt und auch familienähnliche Aufgaben übernommen werden, dreht sich auf der anderen Seite sehr viel um Konsum, Beschaffungskriminalität und Missgunst. So werden die Einrichtungen beispielsweise als Ausgangspunkt zum Verkaufen von BTM genutzt, so beschreibt der Leiter der Einrichtung der Obdachlosenhilfe im Interview: „isch hab dann eine Gruppe wo isch irgendwie n Verdacht hab, dass sisch hier aufhaltn, wartn auf ne SMS, gehn draußn ihr Geschäft machen, un komm wieder zurück“ (W2).
3.3 Bildung
Bezüge zu Prozessen der Bildung (am und des Sozialen) lassen sich in unterschiedlicher Hinsicht identifizieren. Die Nutzer:innen in den untersuchten Sozialitäten beschreiben etwa akkumulierte Erfahrungen, die aufgrund der damit verbundenen Reflexivität als Bildungsprozesse betrachtet werden können. Die Sozialität ermöglicht es, sich ein Informationsnetzwerk zu erarbeiten, über Möglichkeiten, die sich in der Stadt bieten. „Dann gehen hier die Verabredungen, wo kriegt man noch was zu Essen. Da gibt es was zu Essen und da gibt es noch was zu Essen, ne. Ich kenne die Dinger nicht so, aber die Leute kennen das“ (S1).
Insbesondere für diejenigen, die wir als Nutzer:innen im Bereich der Wohnungslosenhilfe und der Sucht- und Drogenberatung interviewt haben, ist es wichtig, sich Strategien zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erarbeiten. In der Einrichtung der Wohnungslosenhilfe haben sie sich beispielsweise die Möglichkeit geschaffen, ihr Geld besser einzuteilen, indem sie es von der Einrichtung verwalten lassen. Das Vertrauen in die anderen der Gruppe ermöglicht aber auch solidarisches Verhalten. „Die leihen sich gegenseitig die Gelder, dasse übern Monat kommen. Des funktioniert auch dadurch, dass Einzelne ihre Rente am 15ten kriegen, andere ihre Grundsicherung am 22/23ten“ (W2). Es werden auch andere Strategien genutzt, was in den Interviews aber nur angedeutet wird: „(…)entweder hat man ein gewissen kriminelles Denken, des ist ja nicht negativ unbedingt, ne. ([…) Auch ich muss leben, überleben, ich mache auch meine illegalen Sachen, nee“ (W3).
Schließlich entsteht über Erfahrung und Austausch auch wichtiges Alltagswissen. „Ja, allgemein, wie gesagt, ich tu halt, ich weiß, ich kenn inzwischen alle Secondhandkaufhäuser, soziale Stellen, wo es Essen gibt, wo es dies gibt, wo es das gibt und da ich dann halt viel, äh, auch mana… Auch oft so zwischen privat managen“ (S1). Wissensaneignung vollzieht sich aber auch über die Hilfe, die man anderen zukommen lässt, beispielsweise durch die Übersetzung behördlicher Schriftstücke. Exemplarisch dafür steht das Interview mit Baran, einem regelmäßigen Nutzer und Besucher des Asylcafes. Er hilft gelegentlich beim Übersetzen und beschreibt, wie er sich dabei Wissen, etwa zum Verständnis von Gesetzen und im Umgang mit amtlichen Schriftstücken und sogar medizinische Kenntnisse angeeignet hat: „Man lernt viel. Des viele Gesetze, viele Gesetze kenn ich. Durch diese Briefe das ich lese“ (A1). Durch diese Art der Aneignung von Bildung und auch durch seine Übersetzungstätigkeit, die er ebenfalls ohne entsprechende formale Qualifizierung praktiziert, schafft Baran sich eine soziale Position in der Gesellschaft, die ihm eine gewisse Handlungsfähigkeit sichert (oder andersherum). Diese Beispiele können durchaus als eine Praxis der Bildung des Sozialen interpretiert werden, reflektieren aber auch „Praxis der Repräsentation einer Subjektivität, die sich am und im Sozialen bildet“ (Kunstreich und May 1999, S. 41).
Die Herstellung von Handlungsfähigkeit im Hinblick auf die Artikulation und Wahrung der eigenen – und in diesem Fall sogar kollektiven – Interessen spielt auch bei Fernando eine Rolle. Als regelmäßiger Nutzer einer Notunterkunft für wohnungslose Menschen, die plötzlich von dauerhafter Schließung bedroht war, ohne dass alternative Angebote vor Ort zur Verfügung standen, berichtet er vom gemeinsamen Widerstand, indem er mit anderen Nutzer:innen als Gruppe zum Beispiel an einer Demonstration teilnahm: „Natürlisch. Also isch war da, weil isch hab mir gedacht dass lass isch mir net nehme. Un e gute Freund von mir, der hat dann praktisch vor denne, hat dann vor der Kamera un hat dann wirklisch auch im Interview, also mit Kamera mit Mikrofon“ (W1). Hier realisieren sich – zumindest ansatzweise – Übergänge von der Objektgruppe zu „kooperativen Praxen der Subjektgruppe und ihrem positiven Membership“ (Kunstreich 2022, S. 215). Generell zeigte sich in den Interviews, dass die Nutzer:innen des informellen Treffs für Wohnungslose untereinander sehr gut vernetzt und übereinander informiert sind. So erinnern sie sich etwa wechselseitig an Termine bei Ärzt:innen oder bei Behörden. Auch der Umgang mit problematischen Situationen, wie etwa dem überraschenden Verlust eines Substitutionsarztes am Ort, wird kollektiv bearbeitet: „die Leut tun sich ja zum Glück so also beraterisch auch äh miteinander besprechen was, was machense“ (W2). Eine Rolle spielt dabei auch der Wissenstransfer, etwa wenn Strategien zum Überleben in Therapie oder anderen Settings weitergegeben werden. Diese horizontalen Unterstützungsangebote, bei denen sich die Individuen als gleichwertig betrachten, lassen sich als Praxis der Mutualität deuten. Die Individuen sind in diesen Prozessen der Subjektgruppe zugehörig und erleben darüber ein positives Membership (ebd., S. 209).
4 Fazit
Auch ein zweisemestriges Lehrforschungsprojekt unter sehr guten Bedingungen, in dem in einer kleinen Gruppe mit zwei Professoren gearbeitet werden konnte, hat seine Grenzen. So ist uns bewusst, dass die Kategorien Aktivität und Funktion und Bildung nicht ganz trennscharf sind. Zudem konnten nicht alle Fragen, die wir an Theorie, Methode und vor allem an das empirische Material hatten, konnten ausdiskutiert und sicherlich nicht alle Schätze möglicher Erkenntnis gehoben werden.
Der Versuch, Transversalität in den Blick zu nehmen, das ist im Forschungsprozess deutlich geworden, verändert die Analyse von Gruppenprozessen ebenso wie die gesellschaftlicher Macht- und Hegemonieverhältnisse, in die Erstere eingebettet sind. Die relationale Bedeutung des Kollektiven tritt in den Vordergrund und eröffnet neue Möglichkeiten für eine partizipative Soziale Arbeit. So hat sich gezeigt, dass transversale Sozialitäten nicht nur eine Form der (mitunter subversiven) kollektiven Bearbeitung von Herrschaftsverhältnissen darstellen, wie etwa Kunstreich in seinen Arbeiten betont. Sie sind erheblich ambivalenter und haben, gerade in den von uns untersuchten vulnerablen Gruppen und sozialen Lagen, primär eine alltagsstabilisierende Funktion. Gesellschaftliche Verhältnisse werden dabei eher indirekt oder informell bearbeitet.
Mit unserer explorativen Studie sind wir aber einen ersten Schritt gegangen, empirisch begründet zu beschreiben, welche alltagspraktischen Potenziale transversalen Sozialitäten innewohnen. Erkennbar wird, dass soziale Einrichtungen für ihre Nutzer:innen einen guten Ort darstellen (können), die Entwicklung transversaler Sozialitäten zu ermöglichen und zu unterstützen. Wenn es Einrichtungen der Sozialen Arbeit gelingt, diese Potenziale zu erkennen beziehungsweise zu berücksichtigen, kann das dazu beitragen, Ungleichheiten und Teilhabedefizite nicht weiter zu reproduzieren. Das ist nicht widerspruchsfrei, denn die Interessen der Nutzer:innen liegen mitunter auch quer zum institutionellen Auftrag. Wenn neben dem alltagspraktischen auch Potenzial zur Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse in den transversalen Sozialitäten steckt, sollte es umso mehr im Interesse einer sich als kritisch verstehenden Sozialen Arbeit sein, diese strukturell zu unterstützen. Hierfür wären weitere Forschungen in dieser Perspektive sicherlich nützlich.
5 Literatur
Dierkes, Wiebke 2022: Solidarisierungsprozesse in der Sozialen Arbeit: Ermöglichungs- und Verhinderungsbedingungen: eine Grounded Theory der ‚Stimmigen Verbundenheit‘, Opladen u.a.; DOI 10.3224/84742609
Kaufmann, Jean-Claude 2015: Das verstehende Interview. 2. Aufl. Konstanz und München
Kunstreich, Timm 2022: Hans S. Falck: Nicht Wohltätigkeit, sondern Gerechtigkeit. Die Membership-Perspektive in der Sozialen Arbeit, Weinheim und Basel 2022. ISBN:978-3-7799-7005-7
Kunstreich, Timm 2001: kritische Theorie/historischer Materialismus. In: Otto, Hans-Uwe; Thiersch, Hans (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied, S. 1084-1097. ISBN 3-472-03616-8
Kunstreich, Timm 2016: Pädagogik des Sozialen als transversale Selbstregulierung. Ein Versuch, lebendige Arbeit und Transversalität zusammen zu denken. In: Widersprüche, Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich. Heft 142, S. 35-44. ISBN 978-3-89691-012-7. Verfügbar unter: https://www.widersprueche-zeitschrift.de/IMG/pdf/Widerspr_142.pdf
Kunstreich, Timm; May, Michael 1999: Soziale Arbeit als Bildung des Sozialen und Bildung am Sozialen. In: Widersprüche, Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich. Heft 73, S. 35-53. ISBN 3-89370-317-9
Maurer, Susanne 2006: Kritik als Bewegung und Horizont – oder: was kann das Projekt einer Kritischen Sozialen Arbeit vom Feminismus „lernen“? In: Widersprüche, Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich. Heft 100, S. 195-202. ISBN 3-89370-420-5. Verfügbar unter: https://www.widersprueche-zeitschrift.de/IMG/pdf/widersprueche_100.pdf
[1] Die hier vorgelegten Ergebnisse sind das Resultat eines Lehrforschungsprojekts im Masterstudiengang Soziale Arbeit an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen. Das Projekt hatte zum Ziel, die Bedeutung transversaler Sozialitäten in schwierigen Lebenslagen in den Blick zu nehmen und diese theoretische Perspektive empirisch zu fundieren. Der Projektzeitraum erstreckte sich von März 2023 bis Februar 2024. Erste Ergebnisse wurden im Rahmen der Jahrestagung des Netzwerks für Rekonstruktive Soziale Arbeit im März 2024 in Form eines Posters vorgestellt. Die positiven Rückmeldungen dort haben die Forschenden ermutigt, ihre Ergebnisse weiter zu konsolidieren und einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen und zur Diskussion zu stellen.
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Verfasst von
Hanna Hüdepohl
Sozialarbeiterin, studiert im Masterstudiengang Soziale Arbeit an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen
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André Körner
Sozialarbeiter, studiert im Masterstudiengang Soziale Arbeit an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen
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Jörg Reitzig
Professor für Sozialökonomie und Sozialpolitik an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen – Leiter des Masterstudiengangs Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Hüdepohl, Hanna, André Körner und Jörg Reitzig, 2024.
Zur Bedeutung transversaler Sozialitäten in schwierigen Lebenslagen [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 27.09.2024 [Zugriff am: 13.10.2024].
https://doi.org/10.60049/of9kvutr
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