socialnet Logo

Migration im Kontext sozialer Interaktion und Transformation

Prof. Dr. Harald Kunz-Rogalla

veröffentlicht am 22.11.2024


https://doi.org/10.60049/ay1qx16q

Was hat die gesellschaftliche Transformation in den Neuen Bundesländern nach 1990 mit aktuellen Migrationsprozessen gemeinsam? Der Text beschäftigt sich mit systemtheoretischen Ansätzen, welche das Lernen neuer sozialer Regeln des Einwanderungslandes als eine dem Erlernen einer Fremdsprache gleichwertige Herausforderung diskutiert.

Inhalt

  1. 1 Einführung
  2. 2 Systemtheoretische Überlegungen zur Interaktion im Migrationsprozess
  3. 3 Forschungsschwerpunkte zur Transformation und Integration nach 1990 in den neuen Bundesländern
    1. 3.1 Forschungslage und Methode
    2. 3.2 Strategie des Bewahrens und Behauptens im Migrationsprozess
    3. 3.3 Die Strategie „Brücken abbrechen und neue Wege gehen“
    4. 3.4 Die Strategie des sukzessiven Rückzugs
    5. 3.5 Das Fehlen der Reziprozität als integratives Problem in Migrationsprozessen
  4. 4 Resümee
  5. 5 Literaturverzeichnis

Zusammenfassung

Der Beitrag befasst sich mit den sozialen Herausforderungen des Migrationsprozesses. Dabei wird anstelle der sprachlichen Herausforderungen das Erlernen sozialer Regeln fokussiert. In Anlehnung an Luhmanns Systemtheorie (Luhmann, 1997) werden Ergebnisse aus der Transformationsforschung in den Neuen Bundesländern (Kunz, 2022) interpretiert und im Sinne des aktuellen Migrationsgeschehens diskutiert.

1 Einführung

Seit spätestens 2015 ist Deutschland ein Einwanderungsland. Im Jahr 2023 laufen cirka 300.000 Asylanträge in Deutschland. (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2024) Die Menschen suchen hier Schutz und einen neuen Lebensmittelpunkt. Dabei gestaltet sich der Prozess der Integration von Menschen aus anderen Ländern und Kulturen zwar nicht grundsätzlich problematisch. Es bleibt jedoch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. (Esser, 2006)

Im Vordergrund des gesellschaftlichen Diskurses steht die Erwerbstätigkeit von Migrant*innen, die unseren an mangelnden Fachkräften leidenden Arbeitsmarkt entlasten. Neben bürokratischen Hürden der Berufsanerkennungsverfahren wird der Mangel an Sprachkenntnissen vordergründig problematisiert. Ohne die linguistische Herausforderung zu bagatellisieren, bleiben jedoch Aspekte des sozialen Lernens mitunter unberücksichtigt. Das Beherrschen von formalen und informellen Regeln des Einwanderungslandes kann eine erfolgreiche Integration in unsere Gesellschaft fördern. Der Artikel soll sich den Herausforderungen und Chancen sozialer Interaktion in Migrationsprozessen widmen. Der Migrationsprozess an sich hat in seinem Wesen transformative Elemente, die als innerer Prozess oft nicht sichtbar werden. Darum sollen Ergebnisse aus der Forschung zu Menschen aus den neuen Bundesländern im Transformationsprozess und deren Handlungsstrategien einfließen. (Kunz, 2022) Die Erkenntnisse daraus bieten Impulse, soziale Integrationsprozesse von Migrant*innen zu verstehen.

2 Systemtheoretische Überlegungen zur Interaktion im Migrationsprozess

Um die soziale Herausforderung von Migration zu identifizieren, bietet sich der systemtheoretische Ansatz von Niklas Luhmann (1997) an. In seiner Theoretisierung betrachtet er Systeme als in sich geschlossene Kommunikationsnetze, die ihren eigenen, nicht für andere Systeme gültigen Regeln folgen. Dabei wird eine Botschaft nur in dem System erkannt, wenn sie von den Adressat*innen auch verstanden wird. Akteure dieses Kontinuums wissen, wie man kommuniziert und interagiert, um zu gewünschten Ergebnissen zu kommen. Diese Strukturen bestimmen letztendlich unser Verhalten. Durch die Strukturen der Botschaften und des Verstehens derer entsteht eine Systemgewissheit, deren Regeln als normal oder richtig definiert werden. Abweichungen von dort gültigen Botschaften und oder deren Verstehen werden nicht wahrgenommen oder bestenfalls missinterpretiert. (Luhmann, 1997) Obwohl in viele einzelne Systemlogiken untergliedert, kann man von einer Gesellschaft als einem Gesamtsystem reden, welche eine Vielzahl von Kommunikationsregeln und Logiken hat. Sie werden von Menschen über Jahrzehnte erlernt. Wir nennen den Prozess Sozialisation. Das Erlernen der Regeln in Gesellschaftssystemen ist ein Prozess, der in der familiären Primärsozialisation beginnt. Eine gelungene Sozialisation schafft im evolutionistischen Sinn eine bessere Überlebenschance. (Kunz, 2022)

Betrachtet man das menschliche autopoietische System als eine innere kategorisierende Einheit, die Erfahrungen in einem inneren Prozess verarbeitet und zuordnet, (Simon, 2006) werden soziale Regeln des Einwanderungslandes für Migrant*innen sehr komplex und bedürfen, ähnlich einer Sprachentwicklung, eines Lernprozesses. Je nach Herkunftskultur werden für Menschen bei Veränderungen durch die Erfahrung neuer gesellschaftlicher Regeln erhebliche Irritationen auftreten. „Um sich in den Systemen zurechtzufinden, müssen neue Codes erst entschlüsselt, verstanden und kategorisiert werden. Dies lässt jedoch einen innerpsychischen Prozess vermuten,“ (Kunz, 2022, S. 29) der Menschen vor Entscheidungen stellt, die im System wirkenden Bedingungen zu reflektieren und Strategien mit deren Umgang zu entwickeln. Zusammenfassend müssen sich Menschen den formalen und informellen Regeln eines Einwanderungslandes so anpassen, dass sie möglichst gute Existenzchancen haben. Die Grundlage dafür ist die Kommunikation. Dabei bleibt die Herausforderung, ihre bisherige kategoriale innere Grammatik der sozialen Interaktionen aus dem Herkunftsland so zu modifizieren, dass sie im Einwanderungsland verstanden wird.

3 Forschungsschwerpunkte zur Transformation und Integration nach 1990 in den neuen Bundesländern

Ein ergiebiges Untersuchungsfeld von strategischen Transformationsprozessen in einem neuen Gesellschaftssystem, ohne dabei die sprachliche Komponente berücksichtigen zu müssen, gab der Beitritt der Neuen Bundesländer aus dem damaligen Gebiet der DDR im Jahr 1990. Die Wiedervereinigung Deutschlands stellte für die Menschen in den Beitrittsgebieten eine transformative Herausforderung dar, die durchaus in Teilen mit der Problematik der Migrationsprozesse vergleichbar ist. Dabei sind das Fehlen des Erlernens einer Fremdsprache und das – bis auf einen Teil der Binnenmigration in die alten Bundesländer – Verbleiben in den Lebensumwelten als Limitationen zu betrachten.

Parallelen gibt es jedoch zu migrierten Menschen, die praktisch über Nacht mit einer völlig anderen Systemlogik konfrontiert werden. Die Menschen in den neuen Bundesländern waren, wie auch heutige Migrant*innen, herausgefordert sich den Logiken eines marktwirtschaftlichen, in demokratischen Selbstbestimmungen verorteten und über Jahrzehnte etablierten Systems einzufinden und sich strategisch darauf einzustellen. Die gewohnten Regeln der bekannten Systemordnung aus der sozialistischen hegemonialen Gesellschaft waren im wiedervereinigten Deutschland nicht mehr gültig. Migrant*innen, die vermehrt im letzten Jahrzehnt nach Deutschland kommen, erleben, dass die gewohnten Systemordnungen aus ihren Herkunftsländern nicht mehr gültig sind. Das Entfallen von erlernten Regeln, welche über Jahrzehnte sozialisiert wurden, fordert einen Prozess, in dem die gültigen Regeln des Einwanderungslandes erlernt werden können. Das Erlernen neuer gültiger Regeln erfolgt je nach gesellschaftlichen und persönlichen Präferenzen asynchron. So bleiben familiäre gültige Regeln aus den Herkunftsländern meistens stabil, wohingegen formale Bedingungen, wie Arbeitssuche oder Antragstellungen in Behörden, anderen Regeln folgen, also nicht mehr denen der Herkunftssozialisation entsprechen. So wurden auch in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung asynchrone Lernprozesse sichtbar. Auf der formalen Ebene wurden die Menschen durch die neuen Regeln des ersten Arbeitsmarktes schnell mit den jetzt gültigen Regeln der Bundesrepublik konfrontiert. Dagegen blieb die Privatheit, im engeren Sinn die Familie und unberührt. Zumindest für eine Zeit konnte die Privatheit eine Enklave des Herkunftssystems sein, in der die bekannten Systemlogiken weiterhin gültig bleiben konnten. (Kunz, 2022)

Abbildung 1
Abbildung 1: Die Familie als stabiles Element im Transformationsprozess (Kunz, 2021)

3.1 Forschungslage und Methode

In der Forschung von Kunz (2016-2019) wurden Strategien von Menschen aus den neuen Bundesländern dahingehend untersucht, wie mit den Herausforderungen der Systemlogik der Bundesrepublik umgegangen wurde und welche Handlungsoptionen und Lernprozesse sich im Umgang mit den Regeln einer neuen Gesellschaft etabliert haben. Im Sampling wurden Menschen aus drei neuen Bundesländern befragt, die zur Wiedervereinigung mit mindestens 40 Jahren alle Sozialisationsstufen des DDR-Systems erfahren und sich im Gesellschaftssystem des hegemonialen Sozialismus erfolgreich eingerichtet hatten. Sie sollten jedoch nicht zu alt gewesen sein, um sich den Herausforderungen des neuen Arbeitsmarktes durch einen Renteneintritt zu entziehen. Das Sampling hatte die Überlegung zur Folge, dass in der Primär- bis Tertiärsozialisation Regeln des Systems der DDR im öffentlichen und nichtöffentlichen Bereich verinnerlicht wurden. Nach 1990 gab es neue gesellschaftliche Kommunikationsregeln. Diese mussten neu erlernt werden. Als sehr prägend wurde im Bereich der Erwerbsarbeit das in der DDR geltende Privileg einer ständig verfügbaren Erwerbsarbeitsgarantie mit der Etablierung des bundesdeutschen Systems aufgehoben. (Diewald, Huinink, Solga, & Sorensen, 1995)

In den Ergebnissen der Forschung, die in qualitativ-biographischen narrativen Interviews erhoben und mit der Narrationsanalyse von Fritz Schütze (Schütze, 1987) (Küsters, 2009) ausgewertet wurden, stellten sich im Ergebnis drei Ausrichtungen dar, die als Strategien im Umgang mit den neuen Systemregeln identifiziert wurden. (Kunz, 2022)

Im damit aufgezeigten Feld wurden als Ergebnis der Studie drei strategische idealtypische Grundausrichtungen abgebildet und in Ankerfällen beschrieben. Im Anschluss sollen die ersten beiden Ausrichtungen kurz und die letzte Strategie etwas intensiver erläutert werden und zugleich auf Parallelen zur strategischen Bedeutung für die aktuelle Migrationsthematik beschrieben werden.

3.2 Strategie des Bewahrens und Behauptens im Migrationsprozess

Die strategische Ausrichtung „Bewahren und Behaupten“ beschreibt eine Kontinuität, die durch den Wechsel in ein anderes Gesellschaftssystem keinen biographischen Bruch erzeugt. Gesellschaftliche Veränderungen werden als nur ein Ereignis von vielen biographischen Herausforderungen gesehen. Die neue Gesellschaft wirkt weder bedrohlich noch begünstigend. Entscheidend dabei sind sehr stabile familiäre Bindungen. Erzählungen werden hier in eine Art Familiensaga eingebettet, die bedeutsamer zu sein scheint als die Auseinandersetzung mit den Regeln des neuen Gesellschaftssystems. In dieser Strategie vermischen sich berufliche und private Strukturen. Die tradierte Einbettung erzeugt eine Resilienz gegen gesellschaftliche Brüche. Zu bewahrende Privilegien sind der Familientradition gewidmet. Dabei wird erstaunlicherweise nicht das Klischee einer statischen, in sich geschlossenen Clanstruktur gelebt, sondern eine durchaus sich den gesellschaftlichen Herausforderungen stellende Gemeinschaft, die den gesellschaftlichen Umbruch in ihr Konzept integriert. (Kunz, 2022) Eine starke Identifizierung mit der Familie schirmt trotz einer Abgrenzung der Familie zur Umwelt nicht von Letzterer ab, sondern lässt bereitwillig die Umwelten an ihren Strukturen teilhaben. Es entsteht eine Durchlässigkeit für Veränderungen, die jedoch die inneren Strukturen nicht bedrohen.

Diese Strategie läuft konträr zur Alltagsauffassung, dass starke familiäre Verbindungen von Migrant*innen nicht in die bestehende Gesellschaft integrierbar sind. Gerade solche tradierten starken Strukturen können unterstützend sein. Voraussetzung ist dabei jedoch eine Passung in die Gesellschaftsstruktur des Einwanderungslandes. Soll eine solche Kompatibilität gelingen, muss die Bindung als Möglichkeit einer ganzheitlichen Integration gesehen werden. Zumindest ist die Herkunftsfamilie gesellschaftlich anzuerkennen, indem sie überhaupt im Sinne der Kommunikationslogik sichtbar gemacht wird. Das bedeutet, dass starke familiäre tradierte Strukturen grundsätzlich eine Möglichkeit geben, an die gesellschaftlichen Strukturen des Einwanderungslandes anzuknüpfen, wenn eine bedingte Kompatibilität besteht.

3.3 Die Strategie „Brücken abbrechen und neue Wege gehen“

Die Ausrichtung „Brücken abbrechen, neue Wege gehen“ beschreibt eine Strategie des kompromisslosen Neuanfangs. Dabei wird die Lebensleistung im Herkunftssystem durch die Akteure aktiv entwertet. In den Narrationen wird die Lebensgeschichte aus dem Herkunftssystem, in diesen Fällen die DDR, stark komprimiert und in die Bedeutungslosigkeit verschoben. Auffällig bleibt im Erzählstil der Wechsel einer passiven Handlungsstrategie vor der Wiedervereinigung in eine aktive nach der Wiedervereinigung. In letztgenannter Handlungsstrategie wird der biographische Abschnitt überhöht und detailliert beschrieben. Zudem bleibt die Erzählung über die Privatheit unterentwickelt. Der Fokus liegt auf der beruflichen Karriere in der neuen Gesellschaft. Den Akteuren ist es wichtig, einen privilegierten Platz in der Gesellschaft zu bekommen und diesen durch Anerkennung aus der etablierten Gesellschaft zu beweisen. (Kunz, 2022)

Diese Strategie findet sich häufig in Einwanderungsbiographien wieder. Die starke Etablierung in die Gesellschaft bringt deren Anerkennung und Respekt. Dies geschieht jedoch auf Kosten der Herkunftsbiographie. Der selbst erzeugte Bruch mit der Herkunftsbiographie ist der Preis für die Etablierung im neuen Gesellschaftssystem. Das Leben beginnt faktisch erst mit der Einwanderung. Hinter dem Start im Einwanderungsland verblasst die Lebenszeit aus dem Herkunftssystem. (Kubiak, 2019) (Quent, 2015) (Roth & Roth, 2008) Eine biographische Gesamtheit scheint diese Strategie auszuschließen. Zu beachten ist, dass dadurch wertvolle Ressourcen verloren gehen. Diese Strategie führt keinen biographischen Bruch herbei, sondern eine zweigeteilte Lebensgeschichte, in der die eine komprimiert passiv erzählt und die andere detailliert aktiv dargestellt wird. Im luhmannschen Sinn wählen die Akteure bewusst die gültigen Kommunikationsregeln des Einwanderungslandes, um so eine bessere Etablierung in diesem zu erreichen. Ein Versuch, bestehende biographische Erfahrung in das neue Schema zu übersetzen, wird nicht unternommen. Somit handelt es sich hier immer um eine zweigeteilte Biographie, die sich in der Darbietung an den Normen des Einwanderungslandes orientiert. Die Ressourcen aus dem Herkunftssystem können, kaum abgerufen werden.

3.4 Die Strategie des sukzessiven Rückzugs

Die dritte Strategie soll etwas ausführlicher dargestellt werden, da nach Meinung des Autors bedeutende problematisierte Parallelen zu Menschen im Migrationsprozess zu finden sind.

Der sukzessive Rückzug beschreibt eine Handlungsstrategie des Vermeidens mit den Herausforderungen der neuen Systemanforderungen. Es kommt zum Ausweichverhalten und zu einem Beharren auf den Privilegien des Herkunftssystems. In einem exemplarisch beschriebenen Ankerfall wurde eine Ingenieurin mit den neuen Arbeitsmarktregeln und Bedarfen nach 1990 konfrontiert. Da ihre Expertise nicht mehr gebraucht wurde, verlor sie ihre Arbeit. Ihre Versuche, auf dem Arbeitsmarkt mit ihren erlernten Kompetenzen weiterhin den Ingenieursberuf auszuüben, gelangen durch die neuen Bedarfe am Arbeitsmarkt nicht. Das Beharren auf einer ständig verfügbaren Arbeitsmöglichkeit auf ihrem Qualifikationsniveau wurde von den Akteuren des neuen Arbeitsmarktsystems ignoriert bzw. nicht mehr kommuniziert. (Kunz, 2022) Um eine Vergleichbarkeit der Qualifikationen ostdeutscher Menschen im bundesrepublikanischen System zu erreichen, wurden deren primäre Berufsabschlüsse an das bundesrepublikanische Systems angelegt. (Huinink, 1995) Dabei galten die im bundesdeutschen System geltenden Berufsabschlüsse als normal und die Berufsabschlüsse der Menschen in den neuen Bundesländern als mitunter nicht kompatibel. Diese mussten daher in die Logik der geltenden Berufsabschlüsse integriert werden. Es waren primär nicht die mitgebrachten Kompetenzen ausschlaggebend, sondern die Bedarfe des Arbeitsmarktes. Das Labeln auf eine etablierte Berufsgruppeneinteilung verhinderte eine kompetenzbasierte Öffnung der Gesellschaft und reduzierte die Berufsbiographien in Ostdeutschland auf ihre beruflichen Abschlüsse. Dadurch kam es häufig zu einer Entwertung der bisherigen beruflichen Lebensleistung und Handlungskompetenzen. (Diewald, Huinink, Solga, & Sorensen, 1995)

Diese eindimensionale Vereinfachung wurde von Menschen dieser Strategie mit Rückzug beantwortet. Da alte Privilegien in dem neuen Kontext nun nicht mehr gültig und kommunizierbar waren, blieb als scheinbarer Ausweg nur der Rückzug in Rudimente der Herkunftssozialisation. In der Analyse der Fälle dieser Handlungsstrategie ging es vornehmlich nicht nur um einen Rückzug vom Arbeitsmarkt. Die Berufsarbeit hatte in der DDR einen besonderen Status. Sie war mit Ausnahmen der einzige Ort der Öffentlichkeitswirksamkeit, welcher relativ sanktionsfrei gelebt werden konnte (Kunz, 2022) (Alheit, Bast-Haider, & Drauschke, 2004) Es handelte sich damit nicht nur um einen Rückzug vom Arbeitsleben, sondern auch um einen Verlust der gesellschaftlichen Teilhabe. Mit dem Rückzug nach 1990 gewann jedoch der Kontext der Privatheit an Bedeutung. Hier galten zum großen Teil noch die gewohnten systemischen Rahmenbedingungen. Die Privatheit bot eine Möglichkeit, gewohnte Sozialisationsnormen aufrecht zu erhalten und der gesellschaftlichen Entwertung im Öffentlichkeitsbereich durch das neue System zu entkommen. Hier entstanden Enklaven, in denen die Regeln und Werte des Herkunftssystems noch gültig waren. Doch trotz des Rückzugs in die Privatheit brachen sich auf lange Zeit auch hier die neuen systemischen Regeln ihre Bahn. Der Rückzug war somit zeitlich begrenzt und konnte nur mit großer Anstrengung gegen die hereinbrechende Realität gehalten werden. Nur mit Widerstand gegen das gültige und dominante Gesellschaftssystem, das die Privilegien und Spielregeln des Herkunftssystems ignorierte, konnte der Status aus dem Herkunftssystem temporär weiter existieren. Mit einer Mischung von nostalgischer Erinnerung und trotzigem Beharren auf alten Privilegien wurde der Kränkung der Entwertung der bisherigen Lebensleistung begegnetEin Versuchder Teilhabe an dem neuen gesellschaftlichen System wurde im Grunde über eine negative und ablehnende Konnotation geführt. Dabei blieb die allgemeine Systemkritik undifferenziert. Die Menschen identifizierten sich mit einem Gesellschaftssystem, welches nicht mehr existent war. Ein Rückzug in die Privatheit blieb vordergründig als Ausweg, einen biographischen Bruch zu heilen.

Die Verantwortung zur Auseinandersetzung mit den Systembedingungen wurde zudem auf die nächste Generation übertragen. Eine Aufforderung an die Kinder und Enkel, der eigenen empfundenen Ungerechtigkeit zu begegnen, wurde zum intragenerationellen Vermächtnis. „Die Welt, in der die Menschen dieses hier stellvertretend stehenden Ankerfalls leben, ist für sie nicht mehr aktiv gestaltbar. Sie bleiben Fremde im eigenen Land, die zwar die Vorzüge der neuen Gesellschaft genießen können, jedoch nicht in der Lage sind, diese auch zu gestalten.“ (Kunz, 2022, S. 106)

Der Rückzug in private Enklaven, den wir auch in migrantischen Subkulturen sehen, scheint ein Ausweg für die Betroffen zu sein, einem biographischen Bruch zu begegnen und zumindest in ihrer privaten Welt die gesamte biographische Identität zu retten. (Kunz, 2022)

Rückführend auf die Forschungsergebnisse zielt der Fokus im Umgang mit Migration darauf, Menschen mit ihren Fähigkeiten und Kompetenzen möglichst schnell in geeignete, zumindest ressourcenorientierte Arbeit zu bringen, um Rückzugstendenzen in die Privatheit zu begegnen. Um den sozialen Lernprozess äquivalent zum Erlernen einer Fremdsprache zu fördern, ist ein frühzeitiger Zugang zur Arbeit für die Integration förderlich. Das Prinzip der sozialen Versorgung durch das Abdecken der Grundsicherung (Diewald, Huinink, Solga, & Sorensen, 1995) entwertet die Lebensleistung der Menschen aus dem Herkunftssystem. Die erworbenen Handlungskompetenzen und erlernten Strategien im beruflichen und privaten Sinn werden durch die Kommunikationslogik des etablierten Systems des Einwanderungslandes, wenn sie nicht in deren Kategorien integrierbar schienen, ungültig oder nicht verstanden. Damit wird ein erheblicher Teil der biographischen Identität entwertet und geht als möglicher Gewinn für die Gesellschaft verloren.

3.5 Das Fehlen der Reziprozität als integratives Problem in Migrationsprozessen

Reziprozität beschreibt eine Balance in sozialen Kontexten, die ein ausgeglichenes Verhältnis von Geben und Nehmen definiert. (Stegbauer, 2002) In der Auseinandersetzung mit der Rückzugsstrategie erscheint das Fehlen einer Reziprozität relevant. In der Logik des bundesdeutschen Arbeitsmarktsystems war man in den 1990er-Jahren bemüht den Arbeitsmarkt in Gesamtdeutschland zu entlasten. Dabei wurde auf das Mittel der Frührente zurückgegriffen. (Alheit, Bast-Haider, & Drauschke, 2004) Die Menschen waren vordergründig materiell versorgt und ihre Existenz gesichert. Der Arbeitsmarkt wurde kurzzeitig entlastet. Die Menschen in den Neuen Bundesländern, die sich durch die Sozialisation aus dem Herkunftsland stark mit der Erwerbsarbeit identifizierten, waren zur Untätigkeit „privilegiert“. Sie wurden zu Empfänger*innen, die durch den Ausschluss aus der Öffentlichkeitwirksamkeit im Arbeitsprozess endgültig keine Möglichkeit mehr hatten, der Gesellschaft im Sinne der Reziprozität etwas zurückzugeben. Die Teilhabe an der Gesellschaft durch Leistung wurde ihnen verwehrt. Was vordergründig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Lösungsansatz gedacht war, erwies sich als Fehler. Die Menschen fühlten sich hilflos, da sie dem System nichts zurückgeben konnten. Die erzwungene, nicht unbedingt beabsichtigte Hilflosigkeit führte über kurz oder lang zur Deprivation. Eine Einseitigkeit auf der Seite des Gebens rief bei den Empfänger*innen Unterlegenheitsgefühle hervor und untergrub zusätzlich das Selbstwertgefühl. Die vermeintliche Wohltat der Versorgung führte zu Erwartungshaltungen und zur Unzufriedenheit. (Kardorff von & Meschnig, 2009) Die Menschen fühlten sich nicht zu Unrecht als Bürger*innen zweiter Klasse, die nichts der neuen Gesellschaft zurückgeben konnten. Auch hier sehen wir Parallelen zum heutigen Migrationsgeschehen.

4 Resümee

Die Forschungsergebnisse von Kunz 2002 lassen Rückschlüsse auf den Umgang mit Menschen im Migrationsprozess zu.

Neben der Teilhabe an der Gesellschaft durch die Ermöglichung der Aufnahme einer Arbeit ist es nötig, ein bewusstes Einlassen auf die bisherigen Biographien und Lebensleistungen der Migrant*innen in ihren Herkunftsländern zu ermöglichen. Hierbei gilt es zum einen durch eine Würdigung einem biographischen Bruch, entgegenzuhandeln. Zum anderen geht es darum, verdeckte Ressourcen aufzuzeigen und nutzbar, integrierfähig zu machen. Das Einlassen auf Aspekte des Herkunftssystems hat keinen eindimensionalen Nutzen, sondern kann hilfreich sein, um eine nötige gesellschaftliche Teilhabe zu begünstigen. Das kluge Einlassen auf die erworbenen und mitgebrachten Kompetenzen aus den Herkunftsbiographien ermöglicht es, nötige Ressourcen neben der gültigen systemischen Kommunikationslogik für das Einwanderungsland zu generieren.

Der Integrationsprozess hat dabei zwei Richtungen. Zum einen lernen Migrant*innen die systemischen Regeln des Einwanderungslandes. Sie sind angehalten diese zu inkarnieren, um somit bessere Entwicklungschancen zu haben. Zum anderen bringt jede*r Migrant*in durch die eigene Biographie auch Elemente des Herkunftssystems mit, welche entgegen der etablierten Gesellschaftslogik über kurz oder lang in das System wirken. (siehe Abb.2) Bei einer starken Migrationsbewegung, wie sie mit der Wiedervereinigung stattfand, ist diese Wirkung nachhaltig. Obwohl die Neigung zu extremen politischen Tendenzen ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt und dem Autor bewusst ist, dass dies nur ein Segment aus verschiedenen Ursachen sein kann, scheint das Ignorieren der Lebensleistung aus dem Herkunftssystem in den Neuen Bundesländern Wirkung zu zeigen. Durch die Studie nachgewiesen ist, dass gerade durch den vermehrten Rückzug in die Privatheit mit seinen gültigen Regeln aus dem Herkunftssystem auf nachfolgende Generationen wirkt. (Kunz, 2022)

Obwohl die starke Systemverdrossenheit in den neuen Bundesländern vielfältig beschrieben werden sollte, liegt hier ein Grund, der seine Ursache nicht in der DDR-Sozialisation hat, sondern vielmehr als Strategie einer Bevölkerung gesehen werden muss, mit Ihren Transformationsbemühungen auf keine Resonanz gestoßen zu sein. Was im produktiven Sinn für die ganze Gesellschaft progressive Entwicklungen zur Folge gehabt haben könnte, wird nun von einem Teil der ostdeutschen Bevölkerung in einem Widerstand gegen das System zelebriert. Dabei geht es hier schon lange nicht mehr darum, autoritäre Strukturen, wie sie in der DDR-Diktatur herrschten, zurückzubekommen. Die Zukunft wird nebulös und im Sinne eines planmäßigen Verstehens nicht eindeutig. Die weiteren Unsicherheiten durch die Globalisierung bleiben im Kontinuum einer Transformationserfahrung, die neue Unwägbarkeiten ahnen lässt.

Daher ist es sinnvoll, sich auf die mitgebrachten Kompetenzen von Migrant*innen einzustellen und diese bewusst im Sinne des lebensweltlichen Ansatzes zu erforschen. Sie sollten als Schwerpunkt in der Migrationsforschung mehr proaktive Hinweise geben. Zudem braucht es dringend Gelegenheiten für Migrant*innen, der großzügigen Aufnahme in die Gesellschaft etwas zurückzugeben. Diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist nötig, um massenhafte Rückzugstendenzen zu vermeiden. Menschen brauchen die Gewissheit der Teilhabe an der Gesellschaft im Rahmen des Mitwirkens und Einbringens. Ein Bürokratieabbau wäre hier nötig.

Auch die Thematik der Tradierung, die in vielen Familien mit migrantischem Hintergrund eine wichtige Rolle spielt, ist im Sinne einer Möglichkeit, diese Milieus an unser Gesellschaftssystem anzubinden, im positiven Sinn zu nutzen und zu integrieren. Hier ist eine weitere Forschung nötig, die untersucht, welche Resilienzen und tradierte Strukturen es ermöglichen, biographische Verlaufskurven durch Migration zu verhindern.

Abbildung 2
Abbildung 2: Die bipolare Wirkung von Migration auf die Systemlogik des Einwanderungslandes (eigene Darstellung)

5 Literaturverzeichnis

Alheit, P., Bast-Haider, K., & Drauschke, P. (2004). Die zögernde Ankunft im Westen. Biographien und Mentalitäten in Ostdeutschland. Frankfurt a. Main: Campus Verlag.

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. (17. 07 2024). Asylgeschäftsstatistik (01-12/23). Von https://www.bamf.de/SharedDocs/​Anlagen/DE/Statistik/​Asylgeschaeftsstatistik/​hkl-antrags-entscheidungs-bestandsstatistikl-kumuliert-2023.html abgerufen

Diewald, M., Huinink, J., Solga, H., & Sorensen, A. (1995). Umbrüche und Kontinuitäten- Lebrnsläufe und die Veränderung von Lebensbedingungen seit 1989. In J. Huinink, & U. K. Mayer, Kollektiv und eigensinn. Lebensläufe in der DDR und danach (S. 307–348). Berlin: Akademie Verlags GmbH. doi:https://doi.org/10.1524/9783050071497.25

Esser, H. (2006). Migration, Sprache und Integration, AKI Forschungsbilanz 4. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Huinink, J. (1995). Individuum und Gesellschaft in der DDR- theoretische Ausgangspunkte einer Rekonstruktion der DDR Gesellschaft in den Lebensverläufen ihrer Bürger. In J. Huinink, & K. U. Meyer, Kollektiv und Eigensinn. Lebensläufe in der DDR und danach (S. 25–44). Berlin: Akademie Verlag. doi:https://doi.org/10.1524/9783050071497.25

Kardorff von, E., & Meschnig, A. (2009). Sebständige Lebensführung. In V. Garms-Homolova et al, Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Pflegebedarf (S. 61–89). Frankfurt am Main: Mabuse.

Kubiak, D. (2019). Abwertung als Katalysator der Identitätsbildung- Analogien zwischen Ostdeutschen und muslimischen Migrant*innen. In N. Burzan (Hrsg.), Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018. Göttingen: o.V.

Kunz, H. (2022). Retten, behaupten, neue Wege gehen: Menschen in den neuen Bundesländern und deren Handlungsstrategien im Transformationsprozess. Dresden: SLUB Hochschulschriften TU-Dresden.

Küsters, I. (2009). Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen (2 Ausg.). Berlin: VS Verfag für Sozialwissenschaften. doi:https://doi.org/10.1007/978-3-531-91440-4

Luhmann, N. (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/Main.: Suhrkamp.

Quent, M. (2015). Sonderfall Ost- Normalfall West? In G. D. Frindte Wolfgang (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund„: Interdisziplinäre Debatten, Befunde und Bilanzen (S. 99–117). Wiesbaden: Springer VS. doi:http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-09997-8

Roth, K. S., & Roth, K. S. (2008). Der Westen als 'Normal- Null“ Zur Diskurssemantik von „ostdeutsch“ und „westdeutsch“. In K. S. Roth, & M. Wienen (Hrsg.), Diskursmauern. Aktuelle Aspekte der sprachlichen Verhältnisse zwischen Ost und West (S. 69–89). Bremen: Hempen Verlag. doi:https://doi.org/10.1515/ZGL.2008.008

Schütze, F. (1987). Das narrative Interview. Interaktionsfeldstudien: Erzähltheoretische Grundlagen. Teil I: Merkmale von Alltagserzählungen und was wir mit ihrer Hilfe er-kennen können. Hagen: Fernuniversität Hagen.

Simon, F. (2006). Einführung in die Systemtheorie und Konstruktivismus. Heidelberg: Auer Systemeverlag.

Stegbauer, C. (2002). Reziprozität. Einführung in die soziale Form der Gegenseitigkeit. Opladen: Westdeutscher Verlag. doi:https://doi.org/10.1007/978-3-531-92612-4

Verfasst von
Prof. Dr. Harald Kunz-Rogalla
Professur Pflegewissenschaft
Mailformular

Es gibt 1 Materialie von Harald Kunz-Rogalla.

Zitiervorschlag
Kunz-Rogalla, Harald, 2024. Migration im Kontext sozialer Interaktion und Transformation [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 22.11.2024 [Zugriff am: 09.12.2024]. https://doi.org/10.60049/ay1qx16q

Urheberrecht
Dieser Beitrag ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, helfen wir Ihnen gerne weiter. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Materialien für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.