Sich kritisch widersetzende Care: eine ethisch-philosophische Reflexion
Inhalt
- 1 Einleitung
- 2 Sorge in der Gesellschaft: die strukturelle Care-Krise
- 3 Widerständig für Gemeinwohl und politische Anerkennung
- 4 Fazit: widerständig Sorgen und Sorge-Maßstäbe neu aushandeln
- 5 Literatur
Zusammenfassung
Der Artikel vertritt die These, dass die ethisch-philosophische Reflexion leitender Wertmaßstäbe für das Verständnis von Ursachen und Lösungen der Care-Krise zentral ist. Eine solche Reflexion, so wird gezeigt, liegt mit dem ethisch-philosophischen Ansatz von Michael Sandel vor.
Der erste Teil rekapituliert Daten, die die strukturelle Care-Krise in Deutschland belegen. Im zweiten Teil zeigt die Diskussion von Sandels Ansatz, inwiefern sich Wirtschaft und Gesellschaft ethisch-philosophisch betrachtet in zwei Paradigmen der Wertorientierung bewegen. Zum einen wertet das neo-liberale Narrativ Eigenverantwortung und Leistungsgerechtigkeit als maßgeblich, sieht wirtschaftlich profitable, Wachstum steigernde Tätigkeiten als legitimiert, andere nicht. Zum anderen geht es um Tätigkeiten als Beiträge der Zusammenführung der Menschen. Deren Ziel- und Zweckbestimmungen sind im Sinn von Beitragsgerechtigkeit und Gemeinwohl auszuhandeln.
Der Artikel zeigt, warum die beiden Wertparadigmen sich nicht zu einer Seite hin auflösen lassen. Zweitens wird verdeutlicht, inwiefern auch die kritische Aufklärung an das Spannungsfeld beider Paradigmen gebunden bleibt. Für Beitragsgerechtigkeit und Gemeinwohl einzutreten, das ist reflexiv und praktisch konkrete Aufgabe. Unter der gegenwärtigen Vorherrschaft neo-liberaler Wertungen ergibt sich drittens das Ergebnis, dass es gilt, sich konkret kritisch zu widersetzen.
Das Fazit lautet, dass der Ansatz zweier Paradigmen den krisenhaften Stellenwert von Care analysierbar macht und wegweisende Impulse für ein widerständiges Caring (Sorgen) bietet.
1 Einleitung
Sorgearbeit wird gegenwärtig unter Bedingungen, innerhalb von Grenzen geleistet, die sie insgesamt in eine grundsätzlich krisenhafte Verfassung drängen. Wenn es in Hinsicht auf Grundsätzliches eine dauerhaft kritische Situation gibt, müssen die implizit oder explizit zugrunde liegenden und insofern leitenden ethischen, philosophischen Maßstäbe, die normativen Orientierungen theoretischer Modelle und praktischer Strategien und Entscheidungen thematisiert und kritisch reflektiert werden.
Dieses Anliegen verfolgt mein Text. Dabei beschränke ich mich auf die Auseinandersetzung mit Michael Sandels aktueller philosophischer Kritik. Nach einem einleitenden Abschnitt, in dem ich die Krise der Sorge anhand ausgewählter Statistiken umreiße, zeige ich auf, welche grundlegenden kritischen Gesichtspunkte und Perspektiven sich anhand des Sandel’schen Ansatzes für die Care-Debatte ableiten lassen.
Doch zunächst vorab etwas zum Begriffsgebrauch: Selbstverständlich gibt es in den einzelnen Disziplinen für Sorge oder Sorgearbeit respektive für Care keine einheitliche fachliche Definition, sondern die Bestimmungen der Begriffe variieren – auch historisch – und sind veränderlich (vgl. Großmaß 2006, 330 ff.; Knobloch Kleinert 2023, 294 ff.).
Wiederkehrend finden sich Definitionen dahingehend, dass Care (Caring)/Sorgearbeit (Sorgen) Tätigkeiten im Kontext menschlichen Angewiesenseins, menschlicher Bedürftigkeit und Interrelationalität bezeichnet, also zum Beispiel Fürsorge, Pflege, Erziehung und Unterstützung. Diese finden sowohl zum einen im privaten als auch im zivilgesellschaftlichen und professionellen und institutionellen Kontext und zum anderen in Verbindung mit unterschiedlichen Herrschafts- und Machtstrukturen statt.
Ethisch-philosophisch argumentiere ich nicht als Care-Ethikerin, wenn dies bedeutet, dass ein bestimmtes Menschenbild, namentlich die menschliche Angewiesenheit als anthropologisches Faktum den Ausgangspunkt von Ethik darstellt (Knobloch Kleinert 2023, 310). Ich will die Diskussion über Care-Ethik und deren begriffliche Bestimmung in diesem Artikel nicht führen, sondern beschränke mich auf einige Hinweise.
Ich verwende den Begriff der Sorge und Sorgearbeit (respektive Care) in diesem Text mit der Voraussetzung, dass die Tätigkeiten der Sorge in concreto Formen menschlichen Handelns sind, welches sich durch freie, persönlich selbst bestimmte Ziel- und Zweckbestimmung auszeichnet. Die Ziel- und Zweckbestimmungen sind freilich historisch, gesellschaftlich vermittelt (vgl. Schmidt-Wiborg 2011). In dieser Hinsicht erfolgt die konkrete Bestimmung sorgender Tätigkeiten im Bruch und unter den Bedingungen unterschiedlicher Praktiken der Zuschreibung von Bedeutungen. Das auf Sorgetätigkeiten bezogene kritisch-philosophische Hinterfragen und Reflektieren erfolgt nicht von einem universalen Standpunkt aus, sondern vermittels begrenzter theoretischer Vernunft in deren konkreter historischer Situiertheit (vgl. z.B. Dungs 2006).
Mein Ziel ist nicht eine ethisch-moralische Reflexion von Care, welche Care-Normen theoretisch allgemein begründen und in dieser Weise legitimieren will. Man kann die Stoßrichtung aus Sicht von einzelnen Wissenschaften mit Care-Ethik-Bezug (Sozialarbeitswissenschaft, Pflegewissenschaft u.a.) folgendermaßen formulieren: Es geht um Reflexion im Sinn einer grundlegenderen Auseinandersetzung auch mit Möglichkeiten und Grenzen historisch-gesellschaftlich gewordener vernünftiger Bestimmung menschlicher Verhältnisse. Inwiefern diese vernünftige Bestimmung konkrete Widersprüche und Pathologien aufweist, welche nur mittels Kritik aufgeklärt werden und dergestalt für die Zukunft bearbeitbar gemacht können, das kann man im und am Care-Bereich in besonders deutlicher Form zeigen, zugespitzt beispielsweise mit Nancy Fraser zu prinzipieller politisch-ökonomischer Kapitalismuskritik. Kurzum, die konkrete ethisch-philosophische Reflexion bleibt verstrickt, erfolgt selbst im Bruch und unter den Bedingungen etablierter bzw. aktuell bestehender Praktiken der Zuschreibung von Werten und Normen, von Ziel- und Zweckbestimmungen.
2 Sorge in der Gesellschaft: die strukturelle Care-Krise
Inwiefern Sorge und Sorgearbeit seit längerem kritisch verfasst sind, will ich im Folgenden anhand ausgewählter Daten in Erinnerung rufen. Ich beschränke mich dabei auf Deutschland.
Was den Umfang von Care-Arbeit anbetrifft, gibt es Schätzungen, dass Sorgearbeit sich in Deutschland auf zwei Drittel der gesamten Arbeitsstunden summiert (Winker 2021, 10). Einbezogen werden ebenso Tätigkeiten im privaten, familialen, freundschaftlichen und nachbarschaftlichen Zusammenhang wie im beruflichen Bereich – also ebenso bezahlte wie unbezahlte Tätigkeiten.
In Bezug auf bezahlte professionelle Sorgetätigkeiten wird über alle Felder hinweg ein großer Mangel an qualifiziertem Personal beklagt. Dieser betrifft grundsätzlich am meisten die Bereiche Betreuung und Erziehung von Kindern, Soziale Arbeit, viele gesundheitsbezogene Berufe und Pflege. Hier sind offiziell anerkannte Engpassberufe zu verzeichnen (Bundesagentur für Arbeit 2023; Tiedemann et al. 2024).
Durch den notorischen Mangel an Kolleg*innen treten in der Folge Negativspiralen von Arbeitsverdichtung, innerbetriebliche Konflikte, Vereinbarkeitsprobleme zwischen Berufs- und Privatleben, gesundheitliche Risiken, Arbeitszeitreduktion bis hin zu Einkommensverlusten auf. Für viele Beschäftigte führt dies dann in der Folge in ein armutsgefährdetes oder von Armut gekennzeichnetes Leben, insbesondere auch im Alter. Insofern der Frauenanteil in Bereichen bezahlter Care-Arbeit besonders hoch ist, sind deutlich mehr Frauen von der Care-Krise betroffen (BMFSFJ 2023).
Ein Zwischenfazit muss daher lauten, dass Sorgearbeit in einer strukturellen Krise steckt. Bezahlte Care-Arbeit findet in einer Gesamtsituation statt, in der sie immer weniger erbracht werden kann (care gap), in der sie immer weniger gut erbracht werden kann – mit nachteiligen Folgen für professionelle Tätige und diejenigen, die Sorge empfangen sollen.
Wichtig ist aber vor allem die Ausweitung der Analyse auf die unbezahlte Sorge und Sorgearbeit. Gut die Hälfte der Bevölkerung leistet informelle Unterstützung im eigenen Umfeld (WZB Datenreport 2021).
Die jüngsten Zahlen zur Zeitverwendung für 2022 weisen einmal mehr und eindeutig auf, wie sehr unbezahlte Sorgearbeit ungleich verteilt ist: Es sind 44,3 Prozent mehr an Zeit, welche Frauen im Vergleich zu Männern mit Sorgearbeit verwenden (Statistisches Bundesamt 2024).
In einzelnen Bereichen der Sorgearbeit ist der „Gender Care Gap“ sogar noch größer. Mit klassischer Hausarbeit wie Kochen, Putzen und Wäsche waschen ebenso wie mit der Betreuung, Pflege und Unterstützung von Kindern und Erwachsenen des Haushalts verbringen Frauen fast doppelt so viel Zeit wie Männer.
Dies geht auch damit einher, dass sie ihre Erwerbstätigkeit deutlich häufiger und länger als Männer umwillen von Care-Tätigkeiten im privaten Bereich unterbrechen. Daher verdienen sie in der Gesamtbetrachtung des Lebensverlaufs und der Erwerbsbiografie branchenübergreifend deutlich weniger, ihr Einkommen bleibt „dauerhaft ungleich“ (Boll et al. 2016). Dies zieht geringeres Einkommen in der Rentenzeit nach sich.
An dieser Stelle ziehe ich das weitere Zwischenfazit, dass vor allem unbezahlt sorgende Frauen durch die vorherrschende Verteilung der Sorgetätigkeiten diskriminiert werden. Ich führe dazu abschließend das folgende Zitat an: „Wäre die unbezahlte Sorgearbeit weniger geschlechtsspezifisch verteilt, hätten Frauen im Vergleich zu Männern weniger Nachteile in der Erwerbsarbeit, dem Lebenseinkommen und der Alterssicherung.“ (Prognos 2024, 3)
Zusammen betrachtet mit den oben genannten Daten zur bezahlten Care-Arbeit lautet mein Fazit erstens: In der Perspektive all derjenigen, die in Care-Verhältnisse involviert sind, ergibt sich für Sorge und Sorgearbeit insgesamt der Befund einer strukturellen Krise. Unter den herrschenden Bedingungen und deren Folgen leiden in erster Linie diejenigen, die Sorge geben und empfangen. Ob bezahlt oder unbezahlt sind in der überwiegenden Mehrheit Frauen, die Sorge geben, betroffen.
Nicht von ungefähr ergibt ein historischer Rückblick auf das Spektrum der Wissenschaften, die Sorge und Sorgearbeit analysieren und interpretieren, dass beides zunächst Spezialthemen vor allem der Frauen-, Gender- und Familienforschung waren. Aber: Sie wurden bald zu Themen der gesellschaftlichen und ökonomischen Analysen, durch die bestätigt wird, dass Care strukturell kritisch verfasst ist (z.B. Aulenbacher 2014, 5; Knobloch Kleinert 2023, 298; Winker 2021).
In Bezug auf die Krise muss man meines Erachtens aber auch festhalten, dass weit über Wissenschaft und Forschung hinaus mittlerweile in der Gesellschaft die Krise wohlbekannt ist und dass dies auch öffentlich zum Ausdruck gebracht wird. In jüngerer Zeit gab es z.B. punktuell den vielfach wahrgenommenen Applaus für systemrelevante Tätigkeiten während Corona (vgl. Villa 2020). Die Care-Krise wird freilich auch organisiert (z.B. Netzwerk Care Revolution) und regelmäßig öffentlich thematisiert. Dabei schließen sich betroffene Personen sowie Initiativen, Verbände und Akteur*innen aus Wissenschaft, Arbeitswelt und Institutionen mit Care-Bezug zusammen. Dies bezeugt für die jüngere Zeit beispielsweise die Initiative Equal Care. Deren jährlicher Aktionstag „Equal Care Day“ soll die Sichtbarkeit von Care-Bedingungen erhöhen und die Solidarität für Care stärken (vgl. Homepage Initiative Equal Care). Verbandlich organisieren sich Frauen, um Diskriminierungen zu thematisieren und ihre Interessen zu vertreten – etwa Gruppen von Frauen mit Flucht- und Migrationshintergrund, die häufig besonders von der Care-Krise betroffen sind (vgl. Dachverband der Migrantinnenorganisationen 2018). Die Einschätzung ist, dass die strukturelle Krise so tiefgreifend ist, dass soziologisch ausgedrückt etwa die Funktionsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft bedroht ist, dass mit anderen Worten Veränderungen zum Besseren von gesamtgesellschaftlichem Interesse sind.
Vor diesem Hintergrund ziehe ich das zweite Fazit: Erkenntnisse über Veränderungsbedarfe stehen zur Verfügung und ebenso grundsätzlich kritische Bewertungen mitsamt Vorschlägen zu besseren Bedingungen, und zwar nicht nur aus Forschung und Wissenschaft, sondern ebenso aus außerwissenschaftlichen Analysen und Erfahrungen verschiedener Akteur*innen.
3 Widerständig für Gemeinwohl und politische Anerkennung
Im ersten Teil habe ich anhand einiger ausgewählter offizieller Statistiken und wissenschaftlicher Ergebnisse aufgezeigt, wieso man von der strukturellen Krise der Sorge und Sorgearbeit sprechen muss. Für die ethisch-philosophische Reflexion von Bewertungskriterien und von Maßstäben der Begrenzung des Sorgens werde ich in diesem Teil auf aktuelle Überlegungen des amerikanischen sozialphilosophischen und politischen Philosophen Michael Sandel zurückgreifen. Sie gehören meiner Meinung nach zu den wegweisenden Ansätzen in der Kritik der anhaltenden Gesamtsituation.
Sandel stellt die Frage nach den korrekturbedürftigen Bewertungsmaßstäben von Caretätigkeiten als Frage nach dem Gemeinwohl. Er öffnet den Zugang zur Gemeinwohlperspektive mit Hilfe geschichtlich verankerter Analysen von Arbeit. Dabei setzt er bei der mangelnden Würde der Arbeit an und bei bezahlten „Arbeitern“ im Sinne von Produzenten dessen, „was andere brauchen und schätzen“ (Sandel 2021, 06). Historisch greift Sandel gleichzeitig darauf zurück, dass die Arbeiter – ihrer eigenen Wahrnehmung nach – nicht die entsprechende Anerkennung für ihre Arbeit erhielten.
Diese Selbsteinschätzung mag manchem vielleicht subjektiv erscheinen und in dieser Hinsicht kein Argument für den Mangel an Anerkennung. Sandel verobjektiviert sie, indem er sie theoretisch in weitergehende Zusammenhänge einordnet.
Genauer gesprochen zeigt sein historischer Rückblick auf die US-amerikanischen Entwicklungen, in welcher Weise Arbeit, die bedürfnisbezogen produziert, politisch zunehmend weniger bzw. keine Anerkennung erfuhr.
Einerseits versprachen beide großen amerikanischen Parteien im Fahrwasser wirtschaftsliberaler Politik immer wieder, den stetig wachsenden allgemeinen Wohlstand für alle zu verteilen und stellten in Aussicht, dass sie die fairere Verteilung von Einkommen und Vermögen angehen würden.
Andererseits wurde faktisch nach mehreren Regierungswechseln dieses Versprechen für große Teil der US-amerikanischen Arbeiter- und Mittelschicht „nie wirklich umgesetzt“ (Sandel 2021, 06). Im Gegenteil: Es sorgten beide Parteien für noch mehr Deregulierung der Wall Street (Sandel 2024). Objektiv gab es so steigendes Wachstum, jedoch erhielten Arbeiter- und Mittelschicht davon geringe Anteile.
Der Mangel an Anerkennung kommt in sozio-ökonomisch negativen, nachteiligen Entwicklungen für die Arbeiter- und Mittelschicht zum Ausdruck. Aber er geht darüber hinaus. Der Mangel an Anerkennung betrifft die soziale Anerkennung und, in deren Folge, die politische Anerkennung als Mitglieder ein und derselben Gesellschaft.
Dies analysiert Sandel in Verbindung damit, wie gesellschaftliche Gruppen, die über akademische Distinktionsmerkmale und dank sozio-ökonomischer Statusvorteile über bessere Chancen auf höhere Bildungsabschlüsse und Einkommen verfügen, Arbeiter*innen, die nicht akademisch qualifiziert sind, sozial nicht prinzipiell als gleichrangig anerkennen, sondern (in Teilen) sogar verachten.
Angesichts des von „den arbeitenden Menschen“ wahrgenommenen Verlusts an Wertschätzung und Anerkennung, angesichts ihres „herabgesetzten Status als Produzenten“ lautet Sandels Forderung: Es handelt sich um eine „Ungerechtigkeit“, welche die politische Agenda anerkennen sollte mit dem Ziel, „die Würde der Arbeit wiederherzustellen“ (Sandel. 2021, 07).
Außerdem plädiert er dafür, dass Arbeit, welche Bedürfnisse befriedigt, derart Anerkennung verdient, dass über ihren Wert nicht rein wirtschaftlich zwischen Produzenten und Konsumenten verhandelt wird, also etwa im Sinne von Löhnen. Insofern es um Arbeit für grundlegende Bedürfnisse geht, geht es um das, was alle angeht, was im Interesse aller ist: das Gemeinwohl (vgl. Sandel 2020). Arbeit, die Bedürfnisse befriedigt, dabei aber ggf. direkt eher wenig zum wirtschaftlichen Wohlstand beiträgt, ist in Rücksicht auf grundsätzlich nicht rein wirtschaftlich definiertes Gemeinwohl als maßgeblicher Beitrag für Individuen und Gesellschaft zu werten und anzuerkennen.
An dieser Stelle wird drittens deutlich, wie Sandel die Diskussion im Horizont von Verteilungsgerechtigkeit (contributive justice) sowie von Beitragsgerechtigkeit führt.
Sandel schlägt von Seiten der Theorie her allgemeine politische Ziele vor: Es gilt, politisch und gesellschaftlich über die Würde der Arbeit und ihren Wert wieder konkret im Namen eines nicht auf materielles Wachstum und Wohlstand beschränkten Gemeinwohls zu verhandeln. Er legt also mehr als eine theoretisch-philosophische Analyse vor, gestützt auf seine Argumentationszusammenhänge engagiert er sich.
Konkretere politische Vorschläge finden sich in Schriften für die breite Öffentlichkeit. Dazu zählen die effektivere Besteuerung insbesondere der US-amerikanischen Finanzmarkt-Akteure, bessere Löhne für nichtakademische Beschäftigte und die Verringerung des Bildungsgefälles (Sandel 2024; vgl. Sandel 2020). Öffentlich befürwortete er die politischen Gesetzesvorhaben, welche Präsident Biden in seiner Amtszeit vollendet hat, namentlich die Stärkung kollektiver Mitbestimmungsrechte, die Stärkung des Kartellrechts und massive öffentliche Investitionsprogramme für „grüne Wirtschaft“ und Infrastruktur.
Bidens Vorhaben, so Sandel, „recalled the muscular role of government during the New Deal“, Biden „broke with the era of neoliberal globalization reasserting government’s role in regulating markets for the common good”. In diesem Zusammenhang fordert Sandel öffentliche Investitionen für Kinderbetreuung und bessere Bezahlung und bessere Rahmenbedingungen für „care-giver“ (Sandel 2024).
Bei allen Unterschieden zwischen den politischen und wirtschaftlichen Systemen der USA und Deutschlands ist für die Diskussion in Deutschland meiner Meinung nach ein entscheidender Punkt klar erkenntlich: Im Sinn eines öffentlichen Gutes, eines Teils des Gemeinwohls, ist Care ein eigenständiger Zielbereich – und von diesem her, von Arbeit, die grundlegende Bedürfnisse befriedigt, ausgehend argumentiert Sandel, dass es politische Aufgabe ist und in der Hand staatlicher Verantwortung liegt, Märkte so zu regulieren, dass das nicht rein wirtschaftlich verstandene Gemeinwohl, also auch Care, gestärkt wird und die Würde der Arbeit wiederhergestellt wird.
Sandel bezieht seine Argumentation, warum die Würde der Arbeit und die Anerkennung für Arbeit historisch betrachtet geringer geworden ist bzw. für Teile der Bevölkerung gänzlich verloren gegangen ist, auf eine neo-liberale Globalisierung, darauf, dass das neo-liberale Narrativ und dessen Werte in den vergangenen Jahrzehnten wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch leitend und prägend waren.
Bekanntlich bezieht sich das Schlagwort des Neo-Liberalismus auf ein Gefüge gesamtgesellschaftsbezogener (Vor-)Urteile für unterschiedliche Lebensbereiche, aber jeweils mit ähnlichen wertenden Grundsätzen. Im Zentrum stehen auf der einen Seite individuelle Eigenverantwortung, Entscheidungsfreiheit und Leistungsfähigkeit, auf der anderen Seite liegt der wirtschaftspolitische Fokus darauf, dass jeder Mensch primär orientiert am individuellen Nutzen, Vorteilen für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche handelt und dass dafür den Einzelnen möglichst weitreichend Freiheit zuzugestehen ist, so dass jeder eigenverantwortlich seines Glückes Schmied sein kann. Umgekehrt sollten einschränkende Maßnahmen, Eingriffe des Staates in Bezug auf das private und gesellschaftliche Leben, auf Arbeit und Wirtschaft möglichst gering sein.
Im Rahmen dieses neoliberalen Narrativs ist als normal anzusehen, dass sich mit den unterschiedlichen Ergebnissen insgesamt, die sich durch Eigenverantwortung und Leistungsfähigkeit entwickeln, gesellschaftliche Statusunterschiede und sozio-ökonomische Ungleichheiten entwickeln. Letztere sind gerechtfertigt.
Das impliziert: Die ungleichen Bedingungen, unter denen der Mensch in die Welt kommt bzw. unter denen er lebt und unter denen seine Bedürfnisse Befriedigung finden, seine Entwicklung Gestalt annehmen kann, sind ebenfalls in erster Linie als Bedingungen zu werten, mit denen die Einzelnen sich in eigener Verantwortung, mit Hilfe eigener Ressourcen, auseinanderzusetzen haben.
Im Rahmen des neoliberalen Narrativs wird Ungleichheit als Element einer allgemeinen wirtschaftlichen Wachstumsdynamik verstanden. Sehr vereinfacht gesagt, bezeichnet dies die wirtschaftspolitische Idee, dass die möglichst wenig regulierten, freien Märkte, die mit den mehr oder weniger egoistischen wirtschaftlichen Aktivitäten der Einzelnen einhergehen, unterm Strich zu immer mehr Wachstum und allgemeinem Wohlstand führen. Denn mit der Freiheit der Einzelnen, sich um die Steigerung der Möglichkeiten eigener Bedürfnisbefriedigung zu kümmern, zu bereichern, bringen im Ergebnis die wirtschaftlichen Märkte wie mit „unsichtbarer Hand“ allgemeines Wachstum hervor, eine kontinuierliche Steigerung allgemeinen Reichtums und wirtschaftlichen Wohlstands, an welcher die Bevölkerungsgruppen in ungleicher Weise beteiligt sind.
Dieses Wertemodell hat historisch dazu geführt, dass wirtschaftspolitische Entscheidungskriterien, aber auch gesellschaftliche Anerkennungskriterien eng verknüpft waren mit wirtschaftlichen Steigerungsmöglichkeiten. Auf dieser Linie erfolgte etwa die globale Ausdehnung von Informationstechnologie in alle Märkte und die zunehmende Bedeutung von Finanzmärkten als Instrumenten der kontinuierlichen Steigerung. Dabei war und ist es neoliberal betrachtet legitim, wenn wirtschaftliches Tätigsein per se an Wachstumssteigerung und Gewinn orientiert ist und sich dazu der Ressourcen aus anderen Tätigkeiten, etwa des Sorgens, bedient.
In Summe ergibt sich, neoliberal argumentiert, erstens ein Zusammenhang der Rechtfertigung für den primären Wert von individueller Eigenverantwortung und Leistungsfähigkeit sowie individuellem Nutzen und Vorteil auf der einen und für die primäre Orientierung an einer Steigerung von wirtschaftlichem Wachstum, Reichtum und Konsummöglichkeiten auf der anderen Seite. Und zweitens ergibt sich ein Zusammenhang der Rechtfertigung von Ungleichheit; mehr zählen, mehr verdienen im wörtlichen, materiellen Sinn und im übertragenen Sinn von gesellschaftlichem Status und Anerkennung die, die in eigener Verantwortung und aus eigener Kraft und Leistungsfähigkeit ihr Leben meistern – und ihnen stehen insofern zu Recht größere Anteile an Reichtum zu (vgl. Sandel 2020).
Ein Drittes kommt hinzu. Es „führte“, so Sandel, „die neo-liberale Globalisierung dazu, dass die Ungleichheit ungebremst zunahm“, „die Eliten versäumten es nicht nur, die […] generierte Ungleichheit anzugehen; sie versäumten es auch, ihre zersetzende Wirkung auf die Würde der Arbeit anzuerkennen“ (Sandel 2021, 06 f.). Dieses Argument verdeutlicht, inwiefern das wirkmächtige neoliberale Wertgerüst eine bestimmte Selbstdeutung der hier so genannten Eliten impliziert, und zwar, dass sie die Folgen ihres Lebensstils und ihrer neoliberalen Ausgestaltung unterschiedlicher Lebensbereiche nicht anerkennen. Unter dem Vorzeichen der Eigenverantwortung und Leistungsgerechtigkeit spalten sie die Verantwortung für die Konsequenzen, die sich für andere ergeben, von sich ab.
Der Argumentationsbogen von der Nicht-Anerkennung von Arbeit bis hin zu Auswirkungen und Folgen des neo-liberalen Paradigmas und der global machtvollen „politischen Ökonomie des Wirtschaftswachstums“ (Sandel 2021, 08) ist konsistent. Deutlich wird, warum die schwindende Würde und Anerkennung insbesondere auch von (privat geleisteter) Arbeit, die keine akademische Qualifikation erfordert, gesellschaftspolitisch einherging und einhergeht mit einer Stärkung von Populismus und demokratiegefährdenden Entwicklungen und gerechtigkeitstheoretisch mit einer Abnahme an Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit. Am Ende geht es hier um die Debatte, ob dies die Gesellschaft ist, die wir auch für die Zukunft wollen.
Im Sinn eines Zwischenfazits halte ich an dieser Stelle fest: Dieser ethisch-philosophische Argumentationsbogen Sandels ist wegweisend für die Care-Debatte, auch wenn er sich vielfach auf US-amerikanische Verhältnisse bezieht und sich nicht ausführlich mit bereichsspezifischen Krisen wie der im Care-Bereich auseinandersetzt.
Wenn die Befriedigung eigener Bedürfnisse der Einzelnen auf Basis von eigenen Ressourcen und Anstrengungen ein höherer Wert, im Sinn des Leistungsprinzips sogar der höchste Wert zugeschrieben wird, dann ist abhängige Lohnarbeit, unbezahlte Arbeit weniger oder nichts wert und wird nicht anerkannt.
Wenn Steigerung der Möglichkeiten, mit mehr Produkten mehr Bedürfnisse zu befriedigen, permanent zu wachsen und reicher zu werden, primär ist, dann steht die Befriedigung der Bedürfnisse von Seiten derer, die sich die Produkte nicht leisten können, keinen Zugang haben oder in anderen Produktionskontexten tätig sind, zurück. Sekundär ist ein füreinander Dasein und Eintreten, welches nicht zu wirtschaftlichem Wachstum beiträgt.
Im Folgenden will ich zeigen, inwiefern Sandels Ansatz auch deshalb wegweisend ist, weil seine kritische Analyse methodisch-systematisch gesehen doppelgleisig strukturiert ist.
Sandel argumentiert für ein neues Verständnis von Wirtschaft, ein Umdenken und eine Neuerfindung der Leitplanken von Wirtschaftspolitik (s.o. „reimagening economy“). Der argumentative Anfang dafür liegt in einer „zivilgesellschaftliche(n) Konzeption“: „dem zivilgesellschaftlichen Ideal zufolge geht es beim Gemeinwohl nicht darum, die Vorlieben zu addieren und das Wohlbefinden der Verbraucher zu maximieren, sondern vielmehr darum, kritisch über unsere Vorlieben nachzudenken – idealerweise, um sie höherzuhängen und zu verbessern –, damit wir ein lohnendes und erfülltes Leben führen können. Das lässt sich nicht allein mit wirtschaftlichen Aktivitäten erreichen. (…) Der Wert unseres Beitrags hängt vielmehr von der moralischen und zivilgesellschaftlichen Bedeutung der Ziele ab, denen unsere Bemühungen dienen.“ (Sandel 2021, 07 f.)
Sandel vertritt in diesem Zusammenhang ein anderes Verständnis von Arbeit als beitragende Tätigkeiten. Sie führt Menschen zusammen in einer Struktur von Beiträgen und gegenseitiger Anerkennung bis hin zu freier Arbeit und selbst verwalteten Tätigkeiten der Menschen (Sandel 2021, 08).
Bzgl. seiner eigenen Theorie spricht er von einer „am Produzenten orientierten Ethik“ (2021, 10). Er versteht Produktion des Menschen als das den Menschen als solchen auszeichnende Charakteristikum, seine Fähigkeiten auszuüben, um der menschlichen Bedürftigkeit zu entsprechen. Dabei werden ökonomisch messbare Arbeit und wirtschaftliches Wachstum in die Perspektive gestellt, weitere Fähigkeiten auszuüben und zu kultivieren und die demokratisch-bürgerliche Selbstverwaltung zu verwirklichen.
Die Dualität von Produktion und Konsumtion lässt sich freilich weder theoretisch noch praktisch aufheben. Denn unabhängig von neoliberalen Deutungen ist dem Menschen zuzuschreiben, frei und in eigener Bestimmung seiner Absichten, mithin mit persönlicher Verantwortung, zu handeln und im Zusammenhang mit anderen die eigenen Fähigkeiten auszuüben.
Theoretisch erfolgt die Reflexion auf Produktion und Konsumtion in Rückbindung an deren Relation. Entsprechend lässt sich die „am Konsumenten und am Wachstum orientierte Ethik“ prinzipiell nicht widerlegen oder überwinden. Vielmehr formiert und bestimmt sie sich in Relation zu ethischen Ansätzen, welche Bedürfnisse und Fähigkeiten in Bezug zu Steigerung, Maximierung und Konsumtion reflektieren. Die Vorgehensweise ist sachlich wie methodisch doppelgleisig oder doppelgesichtig.
Dabei ist nun als wichtigster Punkt einzubeziehen, dass Sandel seinen eigenen Ansatz einer zivilgesellschaftlichen Ethik in Bezug auf die historische Situation der Dominanz des neoliberalen Narrativs und der an Konsumtion orientierten Ethik reflektiert, und zwar als eine im Verlauf der Zeit immer wieder (individuell wie kollektiv) zu erneuerndes, zu initiierendes und zu verwirklichendes, Sich-Widersetzen:
„Marktgetriebene Gesellschaften sind ständig in Versuchung, den materiellen Erfolg als Verdienste zu deuten. Dieser Versuchung müssen wir uns immer wieder neu widersetzen. Das ist zum Beispiel dadurch möglich, dass wir Maßnahmen diskutieren und durchführen, die uns dazu bringen, gezielt und demokratisch darüber nachzudenken, was als wahrhaft wertvoller Beitrag zum Gemeinwohl gilt und wo die Urteile der Märkte das Ziel verfehlen.“ (2021, 11, Hervorheb. von Verfasserin)
Sich widersetzen – das ist zusammenfassend gesagt, die der springende Punkt dieser Ethik des guten Lebens, dieser Ethik der Verwirklichung menschlicher Fähigkeiten. Dabei darf man die Bezugnahme auf das Sich-Widersetzen nicht so verstehen, wie wenn sich eine vom Neo-Liberalismus absetzende Ethik wie die Sandel’sche aus der Defensive heraus als Widerstand positionieren müsste. Diese Deutung ist falsch. Denn Sich-Widersetzen setzt voraus, sich „gezielt und demokratisch“ an die Aushandlung von Wertbestimmungen zu machen. So orientiert, gehört zum Sich-Widersetzen Kritik im wörtlichen Sinn, ein kritisches Unterscheiden auszuüben zwischen dem, „was als wahrhaft wertvoller Beitrag zum Gemeinwohl gilt“ gegenüber verfehlten, rein wirtschaftlich über Märkte generierten Bestimmungen.
4 Fazit: widerständig Sorgen und Sorge-Maßstäbe neu aushandeln
Ordnet man die Care-Krise gemäß dem hier rekonstruierten ethisch-philosophischen Ansatz ein, gewinnt man aus meiner Sicht einen maßgeblichen Impuls für die Diskurse über deren Ursachen und Lösungen.
Care gehört dann in das Spannungsfeld von Bedürftigkeit und Bedürfnisbefriedigung und in ein Spannungsfeld prinzipieller Auseinandersetzung um konkurrierende Zielbestimmungen, von materiellen Wachstumszielen und deren möglicher Priorisierung auf der einen Seite und weiteren Zielen der Menschen und deren möglichen Stellenwert auf der anderen Seite, insbesondere das Ziel, ihre Fähigkeiten in die Gesellschaft einbringen zu können, beispielsweise über Arbeit in Sorgebeziehungen, über Empfangen und Leisten von Sorge.
Die im ersten Abschnitt beschriebene strukturelle Care-Krise aber ist entlang der Überlegungen Sandels Folge gezielt ausgeübter und verbreiteter neoliberaler Wertbestimmungen zugunsten von wirtschaftlichem Wachstum. Es handelt sich um Bestimmungen, welche Personengruppen festlegen und allgemein durchzusetzen suchen, die vom erzielten Wachstum selbst in jedem Fall mehr, wenn nicht sogar am meisten profitieren. Ethisch-philosophisch reflektiert liegt die Legitimation in den Prinzipien der Eigenverantwortung und Leistungsgerechtigkeit.
Der wegweisende Impuls für die Lösung der Care-Krise wiederum liegt darin, dass gemäß dem Ansatz Sandels widerständig gesamtgesellschaftliche und -wirtschaftliche Umorientierungen erstritten werden sollten. Es zählt ein Umdenken mit Bezug auf Verteilungs- und Beitragsgerechtigkeit, es kommt auf gezielte und demokratische Auseinandersetzungen über das Gemeinwohl an, das heißt darüber, welchen Zielen unsere Gesellschaft welchen Wert zumessen will und welchen Wert Beiträge des Sorgens haben sollen. Diese Auseinandersetzung erfolgt zwar seit längerer Zeit unter neoliberalen Vorzeichen. Doch dies ist kein menschliches Schicksal. In Anknüpfung an Sandel kann man von der Voraussetzung ausgehen, dass Menschen fähig sind, sich zu widersetzen, performativ in Auseinandersetzung zu gehen, über wahre Werte demokratisch zu streiten und Ziele neu auszuhandeln.
Dieser ethisch-philosophische Kerngedanke widerständigen Sorgens zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht disziplinär, im Sinne der Bereichs- oder Berufsethik, entwickelt wird. Die Philosophie widerständigen Sorgens ist damit geeignet, spezifische Ethiken etwa der Sozialen Arbeit und (Sozial-)Pädagogik, der Pflege und der Gesundheit in eine gemeinsame Auseinandersetzung über geteilte Ansätze zur Lösung der Care-Krise und ihrer Folgen für Institutionen, Professionen und deren Zielgruppen zu bringen (bzgl. Gesundheit vgl. Schmidt-Wiborg 2024). Und dies erscheint angesichts der strukturellen Probleme mehr als dringlich.
Auseinandersetzungen um die Verortung und Bewertung, um die Praxis, die Organisation und die Institutionalisierung von Sorgearbeit bewegen sich in dem oben umrissenen Spannungsfeld. Die Forderung einer fundierten Anerkennung und neuen Institutionalisierung von Care ist in vielfältiger Weise theoretische wie praktische Aufgabe. Anders gesagt liegt der Lösungsansatz für die Care-Krise darin, sich angesichts des faktisch herrschenden neoliberalen Narrativs und einer politischen Ökonomie der Wachstumssteigerung zu widersetzen und sich initiativ und aktiv in die Aushandlung über die Werte und Ziele unserer Gesellschaft zu begeben.
Auf welchen Ebenen dieses, wie ich es nennen will, widerständige Sorgen, geschieht, das kann sehr unterschiedlich sein. Potenziell kommen alle Ebenen, von individuellen privaten oder beruflichen respektive berufspolitischen und care-wissenschaftlichen Diskursen und theoretischen und praktischen Entwicklungen besserer Modelle der Care-Arbeit über organisationale bzw. institutionelle Initiativen, Diskurse, Verhandlungen bis hin zu Bürgerdialogen, Interessenvertretung, Gremienarbeit und politischem Engagement in Frage.
In jedem Fall ist widerständiges Sorgen zu verstehen als Teil der Tätigkeiten, mit denen in concreto darüber verhandelt wird, welche Ziele die Gesellschaft als relevant, verdienstvoll und wert der sozialen und ökonomischen Anerkennung beurteilt und in welcher Weise welche menschlichen Fähigkeiten Ressourcen und Raum zu ihrer Verwirklichung erhalten sollen und worin das gute Leben bestehen soll.
5 Literatur
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Dachverband der Migrantinnenorganisationen DaMigra e.V. (2018): Dokumentation der Jahreskonferenz 2018. Online (Zugriff am 1.3.25): https://www.damigra.de/wp-content/​uploads/​DaMigra_Jahreskonferenz_2018-1.pdf
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Großmaß Ruth (2006): Die Bedeutung der Care-Ethik für die Soziale Arbeit. In: Dungs Susanne, Gerber Uwe, Schmidt Heinz, Zitt Renate (Hrsg.): Soziale Arbeit und Ethik im 21. Jahrhundert. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 319–338
Initiative Equal Care: https://equalcareday.org
Knobloch Ulrike, Kleinert Ann-Christin (2022): Sorge-Glossar. In: Knobloch Ulrike, Theobald Hildegard, Dengler Corinna, Kleinert Ann-Christin, Gnadt Christopher, Lehner Heidi (Hrsg.): Caring Societies – Sorgende Gesellschaften. Neue Abhängigkeiten oder mehr Gerechtigkeit? Weinheim Basel: Beltz Juventa, 294–322
Netzwerk Care Revolution: https://care-revolution.org/
Prognos (2024): Der unsichtbare Wert von Sorgearbeit. Paper 27.2.24. Online (Zugriff am 1.3.25): https://www.prognos.com/de/meldung/​unsichtbarer-wert-sorgearbeit
Sandel Michael J. (2024): How Kamela Harris can win. In: New York Times digital 27.7.24
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Dr. Petra Schmidt-Wiborg
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Zitiervorschlag
Schmidt-Wiborg, Petra, 2025.
Sich kritisch widersetzende Care: eine ethisch-philosophische Reflexion [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 10.03.2025 [Zugriff am: 18.04.2025].
https://doi.org/10.60049/kfqbm57f
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