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Soziale Arbeit und interprofessionelle Kooperation am Beispiel des Gesundheitswesens

Prof. Dr. Melanie Misamer

veröffentlicht am 29.04.2025


https://doi.org/10.60049/bs8zir10g

Die Rolle der Sozialen Arbeit in interprofessionellen Settings findet zwar in der Arbeitspraxis regelmäßig statt, wurde bisher aber zu wenig betrachtet. Anhand eines Vergleichs zwischen nationalen und internationalen Praxisbeispielen zeigt sich, dass interprofessionelle Kooperation im Gesundheitswesen in Deutschland zwar noch Potenzial nach oben hat, aber insgesamt – im Vergleich mit anderen Ländern – bereits gute Grundlagen vorhanden sind. Es gibt wirkungsvolle Methoden zur Identifikation, Initiierung und Festigung von Kooperationsmöglichkeiten, die für die interprofessionelle Zusammenarbeit gewinnbringend für alle Seiten genutzt werden können.

Inhalt

  1. 1 Begriffsbestimmung
  2. 2 Die Rolle der Sozialen Arbeit in interprofessionellen Settings und der Nutzen dieser Rolle für Adressierte
    1. 2.1 Nutzen für Adressierte und die Soziale Arbeit
    2. 2.2 Rollenkonfusionen als Herausforderung
  3. 3 Abgestimmte interprofessionelle Kooperation als Ansatz für eine adressat*innenzentrierte Gesundheitsversorgung
  4. 4 Identifizierung von interprofessionellen Kooperationsmöglichkeiten
  5. 5 Gute Praxis interprofessioneller Kooperation
    1. 5.1 Interprofessional Collaboration
    2. 5.2 Bedingungen für das Gelingen interprofessioneller Kooperation
    3. 5.3 Einigung über die Form der Zusammenarbeit
  6. 6 Initiierung interprofessioneller Kooperation unter Beachtung von Diversitäts- und Vielfaltsaspekten
  7. 7 Vergleich nationaler und internationaler interprofessioneller Praxis
  8. 8 Kritische Diskussion und Fazit
  9. 9 Literaturverzeichnis

Zusammenfassung

Der Beitrag nimmt die Rolle und Bedeutung interprofessioneller Kooperationen als Mittel zur Verbesserung einer adressat*innenzentrierten Sozialen Arbeit am Beispiel des Gesundheitswesens in den Blick. Die interprofessionelle Kooperation gilt als vielversprechender Ansatz, der durch die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen eine ganzheitliche und effektive Betreuung gewährleistet. Nach einer Einführung wird ein theoretischer Rahmen vorgestellt, der die Grundlagen interprofessioneller Zusammenarbeit im Gesundheitswesen beleuchtet und die Rolle Sozialer Arbeit in diesem Kontext definiert. Es werden aktuelle Befunde und Beispiele guter Praxis analysiert, um bestehende Ansätze interprofessioneller Kooperationen zu bewerten. Dabei werden sowohl nationale als auch internationale Praxisbeispiele verglichen, um ein umfassendes Bild der aktuellen Praktiken und deren Wirksamkeit zu zeichnen. Der Beitrag betrachtet zudem Methoden der fallbezogenen Erprobung interprofessioneller Kooperationen, die praktische Einblicke in die Umsetzung komplexer Teamdynamiken bieten. Abschließend werden in der Diskussion die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst und ein Fazit gezogen, das die Bedeutung und die zukünftigen Herausforderungen der interprofessionellen Zusammenarbeit im Kontext der Sozialen Arbeit herausstellt. Es werden Impulse für die Weiterentwicklung und nachhaltige Implementierung interprofessioneller Ansätze gegeben und diskutiert.

1 Begriffsbestimmung

Soziale Arbeit: Soziale Arbeit gilt als praxisorientierte Profession und akademische Disziplin, die gesellschaftliche Veränderung, soziale Entwicklung, den sozialen Zusammenhalt sowie die Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen fördert. Zentrale fachliche Grundlagen sind dabei die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, eine geteilte Verantwortung sowie die Achtung von Vielfalt (Vorstand der DGSA, 2024, o. S.).

Interprofessionelle Kooperation: In einer gemeinsamen interprofessionellen Erklärung, an der auch die DVSG beteiligt war, wird interprofessionelle Kooperation so definiert: Sie trägt dazu bei, dass Menschen mit komplexem Hilfebedarf die passgenauen Angebote verschiedener Professionen erhalten und diese Hilfeangebote aufeinander abgestimmt sind. Dies kann in unterschiedlichen Kontexten und Zusammensetzungen stattfinden und auch setting- und sektorenübergreifend erfolgen (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, 2024, S. 4).

Gesundheitswesen: Der Begriff Gesundheitswesen (Gesundheitssystem) umfasst alle Personen, Institutionen und Maßnahmen, die der Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung der Gesundheit der Bevölkerung sowie der Prävention von Krankheiten dienen. Dazu zählen auch die Institutionen, Prozesse und Strukturen, die an der Organisation, Regulierung, Überwachung, Finanzierung und Weiterentwicklung des Gesundheitssystems beteiligt sind (Stemler, 2024, o. S.).

2 Die Rolle der Sozialen Arbeit in interprofessionellen Settings und der Nutzen dieser Rolle für Adressierte

„Selten ist ein Berufsfeld so breit und interdisziplinär ausgerichtet wie die Soziale Arbeit. Überall ist Kooperation mit anderen Disziplinen notwendig, und immer wieder stellt sich im praktischen Alltag die Frage, wer wem was zu sagen hat, wer von wem was braucht, wer was mit welcher Legitimation fordert, wer was nimmt und wer was gibt“ (Wider & Mette, 2013, S. 11).

Die Anforderungen an die interprofessionelle Zusammenarbeit an den Schnittstellen des Gesundheits- und Sozialwesens sind vielfältig. Trotz der hohen Praxisrelevanz ist der Diskurs zur Interprofessionalität in der Sozialen Arbeit in der Lehre und der Wissenschaft noch wenig präsent (Bussmann, Strohmeier, Smith & Schaffert, 2021).

Soziale Arbeit zielt darauf ab, sozialen Problemen vorzubeugen, sie zu lindern und/oder zu lösen. Dabei interveniert Soziale Arbeit auf individueller Ebene, in Gruppen und auch auf gesellschaftlicher Ebene. Es geht darum, die Handlungsfähigkeit Adressierter zu fördern oder wiederherzustellen, oft auch in Zusammenarbeit mit anderen Professionen. Denn bei der Bewältigung sozialer Probleme stützen sich Fachkräfte Sozialer Arbeit nicht ausschließlich auf ihr fachspezifisches Wissen, sondern auch auf Wissen und Erkenntnisse aus Bezugswissenschaften. Je nach Situation integrieren sie Wissen aus Bereichen wie Ökonomie, Recht, Medizin, Ethnologie, Soziologie, Erziehungswissenschaften, Gesundheitswissenschaften, Psychologie und Psychiatrie, oder sie arbeiten direkt mit Fachkräften dieser Disziplinen zusammen. Dabei gehört die Fähigkeit, Ressourcen zu erschließen und Netzwerke zu knüpfen, zu den Kernkompetenzen der Sozialen Arbeit, die den Nutzen für Adressierte mitunter potenzieren kann. Diese interdisziplinäre Ausrichtung Sozialer Arbeit ermöglicht es ihr, eine „Brückenbauerfunktion“ einzunehmen. Damit ist sie in der Lage, zwischen verschiedenen Disziplinen zu vermitteln und Verbindungen herzustellen (Wider & Mette, 2013). Bereits jetzt übernimmt die Soziale Arbeit klinische Aufgaben, wann immer eine Mitwirkung an der Fallarbeit erforderlich ist, so zum Beispiel in Kriseninterventionseinrichtungen und Einrichtungen zum Schutz gegen physische und sexuelle Gewalt, in der ambulanten und stationären Suchtbehandlung, in Fach-, Reha- und Akutkrankenhäusern, in forensischen Einrichtungen des Maßregelvollzugs und der Resozialisierung, in der gerontologischen Arbeit einschließlich Geriatrie und Gerontopsychiatrie, in der Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Aufgaben an Schnittstellen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie wie auch zu Schulen und Einrichtungen des Kinderschutzes, in ambulanten Beratungseinrichtungen (z.B. Erziehungsberatung, Familienberatung) und in Bereichen stationärer, teilstationärer und ambulanter psychiatrisches Versorgung. Dabei wenden Sie Methoden an wie:

  • Psychosoziale Beratung: Hier wird sich mit persönlichen Schwierigkeiten von Adressierten auseinandergesetzt, wie zum Beispiel einer verminderten Leistungsfähigkeit nach einem Umfall und ggf. die Akzeptanz dessen.
  • Empowerment: Der Begriff ist geprägt durch Begriffe wie, Ermächtigung, Befähigung, und Selbstorganisation. Es stehen nicht nur die Defizit- oder Krankheitsperspektive im Vordergrund, sondern Ressourcen- und Kompetenzen. In der Empowerment-Methode herrscht der Glaube vor, dass die Betroffenen Lösungsstrategien für ihre Probleme besitzen, weshalb nicht mehr die Hilfsbedürftigkeit im Vordergrund steht, sondern die Selbstkompetenz.
  • Case Management: Nicht nur Soziale Arbeit verwendet den Begriff Case Management, sondern auch andere Berufsgruppen. So können zum Beispiel Hausärzt*innen die Untersuchungen und Behandlungen mittels der Methode des Case Managements überwachen, Krankenkassen und Versicherungen setzen die Methode ein, um für kostengünstige Versorgungen im Krankenhaus zu sorgen bzw. eine kontrollierte Leistungserbringung zu gewähren. Sozialarbeitende wenden das Case Management an, um während eines Krankenhausaufenthalts und bei der Austrittsplanung zwischen den verschiedenen Disziplinen intern und extern zu koordinieren. Case Management hat sich als gängige professionelle Methode im Arbeitsalltag der Sozialarbeit im Krankenhaus etabliert. Oftmals wird Sozialarbeit im Krankenhaus auf ein Austrittsmanagement reduziert, dabei fungiert sie als Schnittstelle von stationärer Behandlung und ambulanter Versorgung: Sie verbindet medizinische und soziale Behandlung und Beratung und ist bemüht darum, diese aufeinander abzustimmen (Stettler & Netzer, 2020).

2.1 Nutzen für Adressierte und die Soziale Arbeit

Expert*innen gehen nach Stettler und Netzer (2020) davon aus, dass die wirksamste und kosteneffizienteste Entwicklungsmaßnahme im Gesundheitswesen eine integrierende Optimierung der Versorgungssysteme wäre. Es gibt verschiedene Reviews, die sich mit der Wirksamkeit von Modellen einer integrierten Versorgung befassen, jedoch mehr mit Fokus auf Gesundheit als auf Gesamtversorgung. Vorteile integrierender Versorgung für die Soziale Arbeit lassen sich jedoch benennen:

  • Verbesserte Versorgung für Adressierte bzw. Patient*innen hinsichtlich erhöhter Lebensqualität und reduzierter Komplikationen
  • Verbesserte Kommunikation zwischen Ärzt*innen und Pflegenden sowie ein geringerer abnehmender administrativer Aufwand
  • Senkung der Kosten der Versorgung von Adressierten bzw. Patient*innen
  • Erhöhte Adressierten- bzw. Patient*innenzufriedenheit mit den Dienstleistungen
  • Rückgang der Inanspruchnahmerate von Leistungen mit Blick auf Alter- und Pflegeheime
  • Erhöhte Zufriedenheit des Pflegepersonals
  • Reduzierte Aufenthaltsdauer im Krankenhaus (ebd.)

2.2 Rollenkonfusionen als Herausforderung

Im Rahmen interprofessioneller Kooperation können jedoch auch Rollenkonfusionen und Rollenkonflikte entstehen, die der Sozialen Arbeit bereit im Rahmen von Case Management bekannt sind. Hier gibt es nach Monzer (2020) verschiedene Rollen, die bewusst eingenommen werden können und die jeweils eine andere Funktion erfüllen: die Advocacy-Funktion, die Broker-Funktion, die Gate-Keeper-Funktion, die Social Support-Funktion, die Compliance-Funktion, die Organisationsentwicklungsfunktion und die Differenzierungsfunktion (ebd.). Fischer (2008) sagt in dem Zusammenhang: „Rollenvielfalt, Rollenüberschneidungen und unterschiedliche Rollenerwartungen sind geradezu ein Tummelfeld für Rollenkonfusionen“ (ebd., S. 58). Bei sozialarbeiterischen interprofessionellen Interventionen müssen daher im Blick behalten werden:

  1. Widersprüchliche Rollenerwartungen: Widersprüchliche Rollenerwartungen führen zu Konfusionen und können sowohl zwischen Träger und Interaktionspartner*innen als auch zwischen Adressierten und Sozialarbeiter*innen auftreten (Fischer, 2008)
  2. Rollengewichtungen und -überschneidungen: Eine Konfusionsgefahr besteht auch bei Überschneidung von verschiedenen Rollen (Fischer, 2008) und Zuständigkeiten
  3. Doppelmandate: Soziale Arbeit muss sich zum einen am Wohl und der Realität Adressierter orientieren; sie muss zum anderen aber auch im Auftrag des Staates bzw. der Gesellschaft handeln. Das kann zu Konflikten führen (Lutz, 2020, o.S.).

3 Abgestimmte interprofessionelle Kooperation als Ansatz für eine adressat*innenzentrierte Gesundheitsversorgung

Interprofessionelle Kooperation ist komplex; sie muss daher konkret ausgerichtet sein, damit sie die gewünschte Wirkung erzielt. Dementsprechend sollen zunächst Elemente der Teamarbeit beschrieben werden, um anschließend auf verschiedene Interdependenzen zwischen Leistungserbringern einzugehen, um einschätzen zu können, für welche Interaktion welche Art von Interaktion und interprofessioneller Kooperation für die jeweilige Situation bzw. den jeweiligen Fall sinnvoll und zielführend ist.

Seidlein (2022) beschreibt folgende Elemente der Teamarbeit nach Reeves. Für eine interprofessionelle Kooperation sollte eine gemeinsame Teamidentität sowie Integration geschaffen werden. Es sollten klare Ziele definiert und Verantwortungen aufgeteilt werden. Gegenseitige Abhängigkeiten sollten vorab transparent gemacht werden und Teamaufgaben geklärt werden (ebd.). Gemäß Careau, so der Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter (CURAVIVA, 2022 nach Gerber, Kraft & Bosshard, 2018), gibt es ein Kontinuum interprofessioneller Kooperation, innerhalb dessen sich vor der Kooperation klar begründet verortet werden muss. Hier wird nach drei Kriterien eingeschätzt:

  1. Situation: Wie einfach bzw. komplex sind die biopsychosozialen Bedürfnisse der Adressierten bzw. Angehörigen. Bei geringer Komplexität kann ein geringeres Maß, bei höherer Komplexität ein höheres Maß an interdisziplinärer Kooperation angezeigt sein.
  2. Intention: Je nach Intention, was das Ziel sein soll, wird eine geringer oder höher komplexe Partnerschaft mit Adressierten bzw. deren Angehörigen eingegangen. Das kann von einfachem informieren, über Informationen austauschen, das Festlegen von disziplinären Zielen oder aber geteilte Entscheidungsfindung und Interaktionen hinsichtlich des gemeinsamen Ziels sein.
  3. Interaktion: Interaktionen können weniger komplex auf eine durch unterschiedliche Gesundheitseinrichtungen jeweils unabhängige Versorgung hin abgestimmt sein. Oder aber auf eine parallele Versorgung zweier oder mehr Gesundheitseinrichtungen. Möglich ist auch eine aufeinander bezugnehmende Versorgung oder eine aufeinander abgestimmte Versorgung. Die komplexeste Variante mit höchster Interdependenz zwischen den Leistungserbringern ist die geteilte Gesundheitsversorgung (s. Abbildung 1: Kontinuum interprofessioneller Zusammenarbeit gemäß Careau des Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter (CURAVIVA, 2022, S. 5).
Abbildung 1
Abbildung 1: Kontinuum interprofessioneller Zusammenarbeit gemäß Careau (Gerber, Kraft & Bosshard, 2018, S. 1526)

Durch interprofessionelle Kooperation entstehen Veränderungen, die einen Kulturwandel und Veränderungen in der Praxis nach sich ziehen. Interprofessionelle Kooperation ist aus verschiedenen Gründen ein Ansatz für Adressat*innen-zentrierte Gesundheitsversorgung. Es kann die angebotene Versorgungsqualität positiv beeinflussen, wenn Fachkräfte aus unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens gut zusammenarbeiten. Wenn hierbei Schwierigkeiten in der Kommunikation und Interaktion untereinander auftreten, kann das jedoch auch zu Problemen in der Patient*innenversorgung führen (ebd.).

4 Identifizierung von interprofessionellen Kooperationsmöglichkeiten

Prescher, Wiesner und Weimann-Sandig (2021) identifizieren Kooperationsmöglichkeiten für interprofessionelle Teams entlang des 1) Nutzens für Adressierte bzw. Patient*innen, 2) wirtschaftlichen Nutzens und 3) Nutzens für die Berufsangehörigen selbst.

1. Geht es um den Nutzen für Adressierte bzw. Patient*innen, stehen insbesondere die Versorgungsqualität und -effektivität im Vordergrund der interprofessionellen Kooperation. Im Speziellen geht es dann um:

  • Die Schaffung einfacherer Übergänge zwischen stationären und ambulanten Bereichen des Gesundheitssystems
  • Die bessere Bewältigung von Krisensituationen
  • Einen Gewinn an Orientierung und ein sich ernstgenommen fühlen der Adressierten bzw. Patient*innen
  • Das ins Zentrum Stellen der Bedürfnisse der Adressierten bzw. Patient*innen sowie einen ganzheitlichen Blick auf die Versorgungslage
  • Die Steigerung der Lebensqualität der Adressierten bzw. Patient*innen
  • Die Entlastung der Angehörigen
  • Ein Sterben in Würde und Abschiednehmen
  • Die Prävention von bedrohlichen Situationen

2. Steht der wirtschaftliche Nutzen im Rahmen von primär-, sekundär und tertiärpräventiven Maßnahmen in Fokus, sind Effizienz, die Einsparung von Kosten und Synergieeffekte maßgeblich für die interprofessionelle Kooperation. Im Speziellen geht es hierbei um:

  • Die Erbringung umfassender Leistungen durch interne und externe interprofessionelle Zusammenarbeit
  • Die Konkretisierung des Arbeitsauftrags
  • Die Klärung von Positionen im Feld
  • Eine bessere Abstimmung von Angeboten, geringerer Leerlauf und weniger Drehtüreffekte
  • Weniger Hospitation, Krisenintervention und eine Verringerung sozialer Auffälligkeiten
  • Das Leisten eines Beitrags zu einem effektiven und effizienten Einsatz der verfügbaren Mittel
  • Eine mittelfristige Verringerung der Beanspruchung der Sozial- und Gesundheitsorganisationen

3. Soll der Nutzen für die Berufsangehörigen im Zentrum stehen, werden durch die interprofessionelle Kooperation insbesondere die Arbeitszufriedenheit und die Gesundheit der Beschäftigten in den Blick genommen. Hierbei geht es um:

  • Die Entwicklung eines besseren Fallverständnisses
  • Umfassendere und tragfähigere Hilfen
  • Eine verantwortungsvollere und interessantere Arbeit
  • Eine höhere Arbeitszufriedenheit sowie ein besseres Arbeitsklima
  • Eine zeitliche Entlastung der einzelnen Berufsgruppen
  • Breit abgestützte und fachlich fundierte Entscheidungen
  • Eine Entlastung und effiziente Aufgabenverteilung
  • Eine Prozessoptimierung und höhere Produktivität (ebd.)

5 Gute Praxis interprofessioneller Kooperation

5.1 Interprofessional Collaboration

Das Konzept der Interprofessional Collaboration (IPC) [1] beinhaltet praxisbasierte Maßnahmen der interprofessionellen Zusammenarbeit, die im Gesundheitswesen angewendet werden, um Interaktionen und Prozesse zwischen verschiedenen Gesundheitsfachkräften zu verbessern. Praxisbasierter IPC-Maßnahmen wie interprofessionelle Konferenzen führen zur Verbesserung der Patient*innenversorgung (Zwarenstein, Goldman & Reeves, 2009). Lapum et al. (2020) nehmen Bezug auf die Canadian Interprofessional Health Collaborative und beschreiben IPC aus dem Fokus der Pflege als grundlegenden Bestandteil, der eine effektive Zusammenarbeit und Teamarbeit fördert, damit die Patient*innen im Rahmen ihrer Versorgung vom Gesundheitssystem profitieren können. Bei IPC sind sechs Kompetenzbereiche relevant:

  1. Interprofessionelle Kommunikation: Die Beteiligten aus unterschiedlichen Berufen kommunizieren kooperativ, reaktionsschnell und verantwortungsbewusst miteinander
  2. Kontextaspekte: Kontextaspekte können einfach bis hochkomplex sein; sie sollen mit einbezogen werden
  3. Rollenklärung: Jede am Prozess beteiligte Person kennt ihre eigene Rolle und die der anderen beteiligten Personen und nutzt ihr Wissen angemessen, um die gesetzten Ziele für den/die Adressierte sowie deren involvierte Bezugspersonen zu erreichen
  4. Teamfunktion: Jede am Prozess beteiligte Person versteht Prinzipien von Teamdynamiken und Gruppenprozessen, um effektive interpersonale Zusammenarbeit zu fördern
  5. Interprofessionelle Konfliktlösung: Die beteiligten Personen setzen sich aktiv dafür ein, um eventuelle interprofessionelle Konflikte wirksam zu bewältigen
  6. Kooperation: Die beteiligten Personen arbeiten mit Adressierten sowie deren involvierten Bezugspersonen zusammen, um Gesundheitsleistungen zu formulieren, umzusetzen und zu bewerten, um die Gesundheit Adressierter zu verbessern

Ziel der interprofessionellen Zusammenarbeit ist es, eine Partnerschaft zwischen dem Team aus Gesundheitsdienstleistenden und Adressierten herzustellen, um im Rahmen eines partizipativen, kollaborativen und koordinierten Prozesses gemeinsam zu einer Entscheidungsfindung in gesundheitlichen und sozialen Fragen der Adressierten zu kommen (Lapum, St-Amant, Hughes & Garmaise-Yee, 2020).

5.2 Bedingungen für das Gelingen interprofessioneller Kooperation

Lauer (2022, aus einem logopädischen Fokus) formuliert Bedingungen für das Gelingen interprofessioneller Kooperation und unterteilt zunächst in strukturelle Faktoren, persönliche Faktoren, Rahmenbedingungen und Ausbildung. Strukturelle Faktoren beinhalten z.B. Teamsitzungen mit Moderation, die öfter wechseln sollte; Dokumentation, Hospitationen und Schulungen, um gegenseitig voneinander zu lernen und die Arbeitsbereiche anderer Dienste kennenzulernen. Unter die persönlichen Faktoren fallen gegenseitige Wertschätzung, Interesse, gegenseitiger Respekt und Akzeptanz sowie ein konstruktives Miteinander. Zu den Rahmenbedingungen zählen das Vorhandensein zeitlicher, personeller und räumlicher Ressourcen und die Klärung von Haftungsrechten. In der Ausbildung sollten interprofessionelle Kompetenzen entwickelt werden; es sollte gelernt werden, wie alle an einem Prozess beteiligten Professionen einbezogen werden können; außerdem sollte das Thema der interprofessionellen Kooperation fest in den Ausbildungscurricula verankert werden (ebd., S. 273).

5.3 Einigung über die Form der Zusammenarbeit

Wider und Mette (2013) sagen, dass sich die Zusammenarbeitenden sich zunächst darüber einig werden sollten, ob sie eine multi-, inter- oder transdisziplinäre Zusammenarbeit anstreben. Der Ansatz ähnelt ein wenig dem Kontinuum interprofessioneller Zusammenarbeit gemäß Careau, bezieht sich jedoch konkret auf Soziale Arbeit, weshalb er hier vorgestellt werden soll. Je nach ausgewählter Variante resultieren andere Erwartungen oder Bedarfe nach zeitlichen Ressourcen oder anderen Erfordernissen. Je nach Kontext oder Ziel sollte daher vorab überlegt und entschieden werden, welche Zusammenarbeitsform am für den jeweiligen Fall am zweckdienlichsten ist. Denn Transdisziplinarität – also die komplexeste Variante – ist nicht in jedem Fall anzustreben. In der Praxis kommen die Disziplinaritätsarten meistens in vermischter Form vor (ebd., s. Abbildung 2: Multi-, Inter- und Transdisziplinarität von Wider & Mette, 2013, S. 11).

Abbildung 2
Abbildung 2: Multi-, Inter- und Transdisziplinarität (Wider & Mette, 2013, S. 11)

Während in der multidisziplinären Arbeit zwar derselbe Gegenstand bearbeitet wird – sich also beispielsweise um die gleiche adressierte Person gekümmert wird – ist es doch ein nebeneinander Arbeiten, bei dem die verschiedenen Disziplinen Ergebnisse untereinander austauschen und die Disziplingrenzen erhalten bleiben. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bezieht sich ebenfalls auf denselben Gegenstand, bildet hier jedoch eine gemeinsame Synthese und verknüpft Ergebnisse. Das bedeutet ein verknüpftes Miteinander in der Zusammenarbeit, bei der sich die Disziplingrenzen überschneiden. Bei der transdisziplinären Zusammenarbeit werden neue theoretische Strukturen gebildet, indem ein gemeinsamer und neuer Bezugsrahmen geschaffen wird. Hierbei werden Disziplingrenzen aufgehoben und Ergebnisse über die Disziplinen hinweg quer integriert. Diese Formen mehr oder weniger verknüpfter Zusammenarbeit baut auf den Disziplinen auf. Die Beteiligten müssen dabei jedoch auch über ein fachliches Wissen verfügen, das sie im Austausch mit anderen Disziplinen mit Gewinn einbringen können. Neben dem Fachwissen als zentralem Aspekt und der Berücksichtigung von gruppendynamischen Prozessen, müssen für eine solche Zusammenarbeit verschiedene weitere Bedingungen erfüllt sein, so Wider und Mette (2013). Ähnlich wie beim IPC-Mdell verweisen die Autor*innen auf strukturelle, individuelle und interpersonelle Bedingungen.

6 Initiierung interprofessioneller Kooperation unter Beachtung von Diversitäts- und Vielfaltsaspekten

An interprofessionellen Kooperationen nehmen nicht nur unterschiedliche Professionen teil, auch Menschen an sich sind divers. Wie kann interprofessionelle Kooperation vor solch komplexen Hintergründen gelingen? Weiss, Tilin und Morgan (2019) sagen, dass in dem Zusammenhang u.a. folgende Aspekte im Blick behalten werden sollten:

  • Soziale Identität (wie Geschlecht oder Religiöse Hintergründe)
  • Wissen und Fähigkeiten (wie funktionelles Wissen und Bildungshintergrund)
  • Werte und Überzeugungen (wie der kulturelle Hintergrund)
  • Persönlichkeit (wie der kognitive Stil oder andere Persönlichkeitseigenschaften)
  • Unternehmens- und Gemeinschaftszugehörigkeit (wie der Status in der Hierarchie des Unternehmens oder den Respekt, den die Berufssparte durch die Gesellschaft erfährt)
  • Soziale Netzwerke (wie private und arbeitsbezogene Netzwerke)

Weiss, Tilin und Morgan entwickeln Leitlinien für den Umgang mit Diversität und Vielfalt in interprofessionellen Teams, die im Folgenden vorgestellt werden sollen:

  • Moderate Machtdynamiken: z.B. Sicherstellen, dass jede teilnehmende Person eine Stimme hat, rotierende Moderation der interprofessionellen Besprechungen
  • Fokus auf gemeinsame berufliche Werte und Ziele: z.B. Schaffung einer gemeinsamen Teamidentität, besprechen, wofür das Team stehen soll, was dem Team wichtig ist und welche gemeinsamen oder unterschiedlichen Werte und Ziele es im Team gibt
  • Vorab aushandeln, wie welche Entscheidungen getroffen werden: Das Treffen von Entscheidungen ist abhängig von der jeweiligen Aufgabe; bei einigen Aufgaben müssen die jeweiligen Expert*innen, bei anderen Aufgaben das gesamte Team entscheiden
  • Schaffung einer sicheren und transparenten Arbeitsumgebung: Gemeinsames Kennenlernen innerhalb und auch außerhalb der professionellen Rolle sowie Bestimmung von Regeln für Besprechungen und Interaktionen und sich daran halten
  • Benennen des Werts hinter Äußerungen und gut geführte Konfliktgespräche: Erkennen lernen, welches Prinzip hinter einer Position steht, z.B. mit Fragen wie „Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung?“ statt Positionen zu verteidigen, um Feedback bitten und Fragen stellen
  • Erkennen und belohnen von Erfolg: Gelegenheiten schaffen, um den eigenen Teamerfolg zu benennen und zu feiern (ebd., vgl. S. 154)

7 Vergleich nationaler und internationaler interprofessioneller Praxis

Interprofessionelle Kooperation ist eine wichtige und oft gewinnbringende Interaktion zwischen verschiedenen Bereichen, Professionen oder Teilnehmenden, um ein gemeinsames Ziel, besser als alleine, erreichen zu können. Wie sieht aber nun der Vergleich nationaler und internationaler Praxisbeispiele bezüglich interprofessioneller Kooperation aus? Und können wir hier etwas von anderen Ländern lernen? Das soll in diesem Abschnitt betrachtet werden.

Deutschland

Modellprojekte zur Erprobung von Kooperationen lieferten in Deutschland, so Ewers, Paradis und Herinek (2019), bislang eher durchschnittliche Fortschritte. Der Diskurs interprofessioneller Zusammenarbeit wird u.a. durch die Modernisierung der medizinischen Grundausbildung und die Einführung des „Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin“ angeregt. Eine hier beschriebene Rolle ist die des „Collaborators“ (Teammitglied). Diese Rolle erfordert – mit Bezug auf den medizinischen Bereich – von (angehenden) Ärzt*innen, dass sie sich mit den anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen auseinandersetzen, deren Kompetenzen anerkennen, diese gezielt nutzen, ergebnisorientiert mit ihnen zusammenarbeiten und miteinander, voneinander und übereinander zu lernen. Darüber hinaus gibt es das Förderprogramm „Operation Team“, das Interprofessionalität fördern und den Diskurs zwischen den einzelnen Gesundheitsprofessionen voranbringen soll. Gleichzeitig werden Anstrengungen zur Einführung multiprofessioneller Versorgungsmodelle in der Primärversorgung nach internationalen Vorbildern unterstützt, z.B. durch die Förderinitiative PORT. Darüber hinaus werden hochschulische Qualifizierungs- und Forschungsprojekte gefördert, wie zum Beispiel das Graduiertenkolleg zur „Interprofessionellen Lehre in den Gesundheitsberufen“. Den dargestellten Initiativen, so Ewers, Paradis und Herinek, mangelt es noch an einheitlichen Perspektiven und konsequenter politischer Rückendeckung (s. zus. Ewers et al., 2019). Ein weiteres positives Beispiel für multiprofessionelle Versorgung und interprofessionelles Lernen und Arbeiten ist der Gesundheitscampus Göttingen. Hier lernen die Professionen Pflege, Hebammen, Soziale Arbeit, Therapiewissenschaften und Medizintechnik im Rahmen des interprofessionellen Mantelcurriculum (IPC) Grundlagen der Interprofessional Collaboration und interprofessionelle Kompetenzen wie den Umgang miteinander oder die gemeinsame Analyse von Fällen mit Simulationspatient*innen und praktische Übungen in den Skills Labs (HAWK, 2022). Wird der Pflege-Report (2023) betrachtet, lässt sich ergänzen, dass in Deutschland noch einiger Bedarf besteht, was den Ausbau interprofessioneller Zusammenarbeit angeht. Ferner sollten die Anforderungen zur Verständigung in den verschiedenen Berufsgruppen noch weiter vorangebracht werden. Am besten funktioniert die interprofessionelle Kooperation bislang in den Bereichen der Rehabilitation, Geriatrie und der Palliativversorgung. Hier ließen sich bereits teambasierte Kooperationen von Behandlung (Medizin) und Betreuung (Pflege, Therapie) über die Kulturgrenzen hinaus umsetzen. Allerdings würden hier Pflege und Therapie in Bezug auf die Reformanstrengungen für das ärztliche Handeln noch vernachlässigt (ebd.).

Schweiz

Bussmann, Strohmeier, Smith und Schaffert (2021) liefern für die Schweiz ein Beispiel dafür wie das Gesundheitswesen und Soziale Arbeit interprofessionell kooperieren und wie diese Zusammenarbeit besser gefördert werden kann. Hierbei sind die Rahmenbedingungen nicht zu unterschätzen: Zum einen gibt es das Gesundheitswesen, das zwischen Staat und Markt agiert und zum anderen gibt es das Schweizer Sozialwesen mit seinen Sozialversicherungen, den privaten und öffentlichen Diensten und einer aktiven Zivilgesellschaft. Durch die jeweils unterschiedlichen Regulierungen und Finanzierungen gestaltet sich die Zusammenarbeit der Systeme komplex. Dennoch spielt die Soziale Arbeit an Schnittstellen zum Gesundheitswesen eine wichtige Rolle. In der Akut- und Übergangspflege zum Beispiel, indem ältere Adressierte bzw. Patient*innen von Sozialarbeitenden nach einem Spitalaufenthalt darin begleitet werden, möglichst zu ihrem Wohnort zurückzukehren. Diese begleitenden Sozialarbeitenden werden „Fallmanager*innen“ genannt und sind überbetrieblich bei der Stadt Zürich angestellt. Eine Zusammenarbeit findet mit der Pflege, der medizinischen Therapie, der Medizin und der Sozialen Arbeit statt. Auch ist Soziale Arbeit an Schnittstellen des Gesundheitswesens sowohl in aufsuchende Settings wie auch in Dienstleistungsangebote eingebunden. Der Tätigkeitsbereich bezieht sich hier auf soziale Dimensionen von Erkrankungen und Beeinträchtigungen sowie auf Teilhabefördern am möglichst selbstbestimmten Leben. Aufgabenverschiebungen in der interprofessionellen Arbeit können hierbei jedoch vorkommen und sind oft die Folge aktueller Krisen. Jedoch ermöglicht das auch neue Chancen, die interprofessionelle Zusammenarbeit weiter auszubauen. In der Schweiz wurde, aufgrund u.a. der Professionalisierungsdebatte, die interprofessionelle Ausbildung sowie die Entwicklung interprofessioneller Kompetenzen fester Bestandteil der Curricula. Beispiele für diese Kompetenzen sind das Funktionieren in Teams, interprofessionelle Konfliktlösung, Rollenklarheit oder das kollaborative Führen. Der Diskurs in der Sozialen Arbeit muss, nach Ansicht der Autor*innen, dennoch weiter verstärkt werden (ebd.). Das Bundesamt für Gesundheit (2020) gab eine Studie über interprofessionelle Zusammenarbeit in der Schweiz in Auftrag, deren Ergebnisse zeigten, dass interprofessionelle Kooperation insbesondere für eine erfolgreiche kontinuierliche Zusammenarbeit entscheidend ist. Darüber hinaus zeigten sich u.a. eine positive politische Haltung gegenüber der Sozialhilfe und interprofessioneller Kooperation, Organisationen, die kooperative Arbeitskulturen fördern, die Integration der Zusammenarbeit in politische Strategien, gesetzliche Rahmenbedingungen, die das Modell stützen, ausreichende Ressourcen, die Unterstützung durch Führungskräfte, etablierte persönliche Beziehungen und personelle Kontinuität sowie eine aktive Kommunikation über die Vorteile der Zusammenarbeit als wichtige Aspekte für das Gelingen interprofessioneller Kooperation (ebd.). Ferner hat die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften. (2020) die „Charta 2.0 Interprofessionelle Zusammenarbeit im Gesundheitswesen“ ins Leben gerufen und dezidiert formuliert, wie ‒ neben einem Grundverständnis und Prinzipien interprofessioneller Kooperation ‒ interprofessionelle Kooperation von der Haltung, über den gegenseitigen Umgang miteinander bis zum qualitativen Output einer guten Gesundheitsversorgung für Adressierte bzw. Patient*innen gelingen kann.

Österreich

Österreich zeigt, so Ewers, Paradis und Herinek (2019), im Vergleich mit Deutschland und insbesondere der Schweiz, die geringsten Aktivitäten zur interprofessionellen Zusammenarbeit. Allerdings kam es in Österreich zu einer Änderung verschiedener Berufs- und Ausbildungsgesetze. Das hatte zur Folge, dass Maßnahmen zur interprofessionellen Zusammenarbeit neu angestoßen wurden, wie zum Beispiel bei der Drei-Länder-Tagung zu dem Thema „Gesundheitsberufe – Wege in die Zukunft“. Diese Neuausrichtung ist wichtig und wird auch vorangetrieben (ebd.).

Schweden

Sottas, Mentrup und Meyer (2016) stellen das Pioniermodell Linköping vor: In Linköping wurde anstelle einer professionsorientierten Pflegeausbildung ein Konzept entwickelt, das sich auf die Prinzipien interprofessioneller Ausbildung und problembasiertem Lernen stützt. Dabei werden Teile der Ausbildungen mit Studierenden anderer Fachrichtungen durchlaufen. Ziel ist es, sowohl ein Konzept, aber auch eine gemeinsame Sprache zu entwickeln und so eine Grundlage für einen Austausch der Studierenden zu ermöglichen. 1996 wurden die ersten „interprofessional education student training wards“ als Erweiterung eingeführt. Hier sollen Studierende in einem Zeitraum von zwei Wochen eine Abteilung mit Patient*innen interprofessionell anleiten, wobei die Sicherstellung der Pflege und Behandlung der Patient*innen oberste Priorität behält. Die interprofessionellen Teams bestehen aus den Bereichen Medizin, Pflegewissenschaften, Physiotherapie, Ergotherapie, Soziale Arbeit und Labormedizin. Das Team soll sich, unabhängig von der Profession, um die Grundbedürfnisse der Patient*innen kümmern. Für spezifische Maßnahmen sind die jeweiligen Professionen zuständig. Neben dem Kennenlernen der eigenen Rolle, sollen auch die anderen Rollen und Disziplinen genauer reflektiert und deren Potenziale und Grenzen kennengelernt werden. Unterstützt werden sie durch Supervisor*innen. Das Pioniermodell Linköping wurde, so Sottas, Mentrup und Meyer, ein Vorbildmodell sowohl für Schweden als auch weltweit (ebd.).

Großbritannien

Bezüglich interprofessioneller Informationsübermittlung gibt es in Großbritannien ‒ analog zum gelben Untersuchungsheft in Deutschland ‒ das „red book“. Hier werden die „The Ages and Stages Questionnaire (ASQ-3)“ im Alter von 9 Monaten und 2 Jahren erfasst. Mittlerweile liegt es auch in elektronischer Version vor und nennt sich „eRedbook“ (Erdmann, 2022). Der erste Kompetenzrahmen zur interprofessionellen Zusammenarbeit fand sich in Großbritannien mit dem Ziel einen integrierten und patient*innenzentrierten Ansatz zu entwickeln, um die Modernisierung der Ausbildung zukünftiger Professionen im Gesundheitswesen zu fördern. Inhaltlich geht es hier – neben der interprofessionellen Kooperation ‒ um ethische Praxis und eine Reflexion der Lernprozesse (Schmitz & Ortloff, 2024). Ferner ist das Leicester Modell zur (ins Studium integrierten) interprofessionellen Ausbildung im Gesundheitswesen zu erwähnen, das in der multikulturellen mittelenglischen Stadt Leicester entwickelt wurde. Die Stadt weist soziale Brennpunkte und Bevölkerungsteile mit hoher chronischer Krankheitslast auf. Ziel des Leicester Modells ist es, einen besonderen Fokus auf die Patient*innenorientierung zu legen und sie ‒ insbesondere wenn sie aus sozial oder kulturell anderen Gruppen als das Gesundheitspersonal kommen ‒ besser in Versorgungsprozesse zu integrieren. Hierfür führen Studierende aller Gesundheits- und Sozialberufe Interviews mit ausgesuchten Adressierten bzw. Patient*innen durch und reflektieren diese anschließend hinsichtlich eines möglichst optimalen Versorgungsprozesses. Hierdurch sollen die Studierenden früh im Studium Einblick in die Komplexität gesundheitlicher Problemstellungen in Bezug auf soziale Ungleichheiten erhalten. Durch die Befragung der Interviewpartner*innen, notieren sich die Studierenden Stärken und Schwächen des Versorgungsprozesses und stellen dar, wie ein Idealzustand aussehen könnte. Zum Abschluss des Moduls werden die Ergebnisse von den Studierenden in einer Fallstudie zusammengefasst (Sottas, Kissmann & Brügger, 2016).

Kanada

In Kanada, so Klapper (2017), gab es drei Wellen im Bereich der interprofessionellen Kooperation, genauer der „Interprofessional Education (IPE)“. Die erste Welle (1959-1979) steht im Zusammenhang mit einer verstärkten Ausrichtung auf die Primärversorgung des kanadischen Gesundheitssystems. Die zweite Welle (1994-1999) wurde durch die Annahme ausgelöst, dass ein Mangel an Wissen der Grund für die begrenzte Fähigkeit zur interprofessionellen Kooperation der Gesundheitsberufe sei. Und die dritte Welle ab Ende der 1990er-Jahre hatte das Ziel mit Hilfe von interprofessioneller Zusammenarbeit Versorgungsfehler zu unterbinden, Patient*innenoutcomes und ihre Zufriedenheit zu verbessern sowie die Gesundheitsberufe auf die vielfältigen Bedarfe älter werdender Bevölkerungsgruppen einzustellen. (ebd.).

USA

Im Rahmen einer US-amerikanischen Studie fand eine Förderung von Mitarbeitenden aus den Berufen Medizin, Pflege, Pharmazie und der Sozialen Arbeit in den Bereichen interaktives Lernen und klinisch relevantes Problemlösen statt. Ziel dieser Förderung war eine qualitativ hochwertige patient*innenorientierte Versorgung. Hierfür wurden von den Berufsgruppen gemeinsamen interprofessionelle Workshops ausgearbeitet, die anschließende Anwendung in der Praxis fanden. Das erweiterte eigene Wissen, das Vertrauens in die Leistung der eigenen Qualifikation und das Engagement im Team, Veränderungen anzuregen, um die Gesundheit und Sicherheit älterer Erwachsener zu fördern. Es zeigte sich, dass interprofessionelle Zusammenarbeit durch gemeinsames Lernen unterstützt werden kann und dass dementsprechend angepasste Trainings zur Verbesserung des Pflegeprozesses beitragen können (Klauber, Schwinger, Greß, Kuhlmey & Jacobs, 2020).

8 Kritische Diskussion und Fazit

Der Vergleich internationaler Praxisbeispiele zeigt, dass Deutschland im Bereich der interprofessionellen Zusammenarbeit Fortschritte gemacht hat, aber noch Potenzial zur Verbesserung besteht. Und das insbesondere, wenn man „Vorreiter“ wie die Schweiz oder Schweden betrachtet.

Insgesamt lässt sich für die interprofessionelle Kooperation festhalten, dass sie für das Sozial- und Gesundheitswesen eine wichtige Rolle einnimmt, aber noch nicht an allen Stellen so ausgebaut ist und umgesetzt wird, wie es wünschenswert wäre. Die Darstellung nationaler und internationaler Ansätze zeigt aber das hohe Entwicklungspotenzial interprofessioneller Kooperation. Der Beitrag hat die Rolle der Sozialen Arbeit in interprofessionellen Settings, insbesondere im Gesundheitswesen dargestellt und Beispiele für die Arbeit in verschiedenen Kontexten gegeben. Darunter fallen die Krisenintervention, die Suchtbehandlung oder die geriatrische Versorgung, in denen mit Methoden wie Empowerment, Case Management oder psychosoziale Beratung gearbeitet wird. Hier kann Soziale Arbeit durch ihre interdisziplinäre Ausrichtung eine Brückenbauerfunktion einnehmen und dazu beitragen, eine effektive, ganzheitliche und adressiertenzentrierte Sozial- und Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Eine starke interprofessionelle Kooperation sollte durch ihre positiven (Synergie-)Effekte die Qualität der Gesundheitsversorgung maßgeblich verbessern können.

Wird das Thema der interprofessionellen Kooperation und deren Relevanz für die Zukunft Sozialer Arbeit resümiert, kann Braßler (2020) herangezogen werden: Interdisziplinäres Arbeiten ist mit großen Chancen verbunden. Sich auf andere Fachdisziplinen einzulassen und über den Tellerrand der eigenen Disziplin zu schauen, eröffnet viele neue Fragen und Perspektiven:

  • Welche Themen beschäftigen die anderen Disziplinen?
  • Wie gehen die anderen Disziplinen an (wissenschaftliche) Probleme heran?
  • Und was passiert, wenn man über die Fächergrenzen zusammenarbeitet?

Antworten findet man nur in der interdisziplinären Begegnung. Neben den Chancen interdisziplinären Arbeitens und Lernens gibt es auch diverse Herausforderungen, die es gemeinsam zu meistern gilt:

  • Disziplinbasierte Fachsprachen
  • Fachspezifische Philosophien
  • Unterschiedliche Blickwinkel auf ein Thema
  • Unterschiedliche (wissenschaftliche) Herangehensweisen
  • Und vieles mehr

Um die Brücke zwischen den Disziplinen erfolgreich zu schlagen, braucht es Mut und Inspiration (Braßler, 2020).

9 Literaturverzeichnis

Braßler, M. (2020). Praxishandbuch Interdisziplinäres Lehren und Lernen. Weinheim, Basel: Beltz.

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[1] Der interprofessionelle Konzeptrahmen der Interprofessional Collaboration wurde von der Canadian Interprofessional Health Collaborative entwickelt (Lapum et al., 2020).

Verfasst von
Prof. Dr. Melanie Misamer
Professorin für Methoden und Konzepte Sozialer Arbeit in der Gesundheitsförderung
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ORCID: https://orcid.org/0000-0002-8811-7451

Es gibt 3 Materialien von Melanie Misamer.

Zitiervorschlag
Misamer, Melanie, 2025. Soziale Arbeit und interprofessionelle Kooperation am Beispiel des Gesundheitswesens [online]. socialnet Materialien. Bonn: socialnet, 29.04.2025 [Zugriff am: 19.05.2025]. https://doi.org/10.60049/bs8zir10g

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