Schlager in der Sozialen Arbeit – Empathietool oder Klischeeverstärker?
Inhalt
- 1 Einleitung: Schlager als unterschätztes soziales Phänomen
- 2 Der deutsche Schlager als multidimensionales Phänomen
- 3 Übertragung auf die Soziale Arbeit: Theoretische Grundlagen und praktische Anwendungen
- 4 Kritische Reflexion und Grenzen des Ansatzes
- 5 Fazit und Ausblick: Schlager als Ressource in der Sozialen Arbeit
- 6 Literaturverzeichnis
Zusammenfassung
Der Schlager fungiert als kulturelles Phänomen mit multiplen Wirkungsdimensionen, darunter emotional stabilisierende, erinnerungspolitische und sozial integrative Effekte. Die Untersuchung arbeitet diese Zusammenhänge unter historischen, sozialpsychologischen und soziologischen Gesichtspunkten auf und überführt sie in anwendungsbezogene Konzepte für die Soziale Arbeit. Besondere Praxisrelevanz ergibt sich im Kontext biografieorientierter Methoden sowie psychosozialer Beratungsansätze, theoretisch fundiert durch lebensweltorientierte und salutogenetische Prinzipien. Limitationen ergeben sich aus der Reproduktion tradierter Geschlechterstereotype sowie der eingeschränkten AdressatInnengruppe. Gleichwohl bietet der Schlager bei kritisch-reflexiver Nutzung ein relevantes Instrumentarium für professionelles Handeln.
1 Einleitung: Schlager als unterschätztes soziales Phänomen
Der Schlager nimmt in musik- und kulturwissenschaftlichen Diskursen eine paradoxe Stellung ein. Während seine massenkulturelle Verbreitung und Akzeptanz empirisch unstrittig sind (Statista), wird er im akademischen Feld häufig als ästhetisch minderwertiges Genre mit vermeintlich begrenztem kulturellem Kapital kategorisiert (Rhein 2016, S. 299). Diese wissenschaftliche Marginalisierung kontrastiert auffällig mit seiner tiefen Verankerung im Alltagsleben großer Bevölkerungsteile und seiner emotionalen Bedeutung als identitätsstiftendes Phänomen. Neuere Studien aus Musiksoziologie und Cultural Studies belegen, dass der Schlager keineswegs auf reinen Unterhaltungswert reduziert werden kann, sondern komplexe Funktionen im psychosozialen Haushalt seiner RezipientInnen erfüllt (Malamud 2017, 43 f.).
Für die Praxis der Sozialen Arbeit eröffnet dieser Befund relevante Perspektiven. Erstens zeigt sich der Schlager als potenziell wertvolles Medium im Kontext niedrigschwelliger Zugangsstrategien. Sein vertrauter Charakter und seine breite Akzeptanz könnten Brückenfunktionen zu Klientelgruppen übernehmen, die konventionelle Hilfeangebote häufig als stigmatisierend wahrnehmen (Sommerfeld et al. 2016, S. 240). Zweitens weisen Untersuchungen zur Salutogenese nach, dass kulturell eingebettete Ressourcen wesentlich zur Bewältigung biografischer Krisen beitragen (Faltermaier). Der Schlager kann hier als auditiver Speicher persönlicher und kollektiver Erinnerungen fungieren, dessen resilienzförderndes Potenzial in der sozialarbeiterischen Praxis bislang kaum systematisch genutzt wird. Drittens ermöglicht die genretypische Verarbeitung sozialer Realitäten spezifische Zugänge zu lebensweltlichen Deutungsmustern verschiedener Generationen (Reinberger).
2 Der deutsche Schlager als multidimensionales Phänomen
2.1 Historische und musikologische Grundlagen
Der terminologische Ursprung des Schlagers lässt sich auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, als sich die moderne Unterhaltungsindustrie zu formieren begann. In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnete der Begriff schlichtweg kommerziell erfolgreiche Musikstücke. Die etymologische Wurzel verweist auf den Moment des Einschlags – eine metaphorische Umschreibung, die die unmittelbare Wirkkraft dieser Musikform bereits antizipiert. Bemerkenswerterweise fand der Begriff parallel dazu Eingang in den österreichischen Handelsjargon, wo er preisgünstige Angebote charakterisierte (Kayser 1975, 2 f.). Im Verlauf seiner Entwicklung konstituierte sich der musikalische Schlager als eigenständiges Genre mit spezifischen Merkmalen. Die harmonische Struktur bewegt sich typischerweise in simplen, wiedererkennbaren Akkordprogressionen, die durch ihre Vorhersehbarkeit eine schnelle kognitive Verarbeitung ermöglichen. Die Melodiegestaltung folgt bewusst eingängigen Mustern mit repetitiven Elementen, die eine hohe Memorabilität gewährleisten und das Entstehen von Ohrwürmern begünstigen (Kramarz, 92 ff.).
Die textliche Ebene des Genres bedient sich überwiegend zeitloser Motive. Im Zentrum stehen dabei verschiedene Facetten zwischenmenschlicher Beziehungen, insbesondere die gesamte Bandbreite romantischer Erfahrungen von ersten Verliebtheitsgefühlen bis zu schmerzhaften Trennungsprozessen. Daneben finden sich thematische Schwerpunkte wie Heimatverbundenheit, die Suche nach Lebensfreude sowie die Bewältigung alltäglicher Herausforderungen (Kayser 1975, 63 f.). Die emotionale Ausgestaltung tendiert häufig zu stark sentimentalisierten Darstellungen, was dem Genre regelmäßig den Vorwurf der Realitätsflucht einbringt. Paradoxerweise scheint genau diese emotionale Unmittelbarkeit für die RezipientInnen einen zentralen Reiz darzustellen. Die historische Genese des Schlagers spiegelt wesentliche soziokulturelle Transformationsprozesse im deutschsprachigen Raum wider. In der Phase von 1950 bis 1970 etablierte er sich als massenkulturelles Phänomen der Nachkriegsära (Malamud 2017, S. 52), repräsentiert durch Ikonen wie u.a. Heino oder Roy Black. Die idyllisierenden Texte und harmonischen Kompositionen bildeten dabei einen bewussten Kontrapunkt zu den kollektiven Kriegstraumata (Mendívil 2008, S. 239). Die folgenden Jahrzehnte (1980-1990) waren durch eine zunehmende Kommerzialisierung geprägt, die sich in der Etablierung spezialisierter Fernsehformate manifestierte und den Schlager als festen Bestandteil der Familienunterhaltung verankerte (Mendívil 2008, S. 269).
Die gegenwärtige Renaissance des Genres, verkörpert durch SängerInnen wie Helene Fischer, demonstriert eine symbiotische Verbindung traditioneller Schlager-Elemente mit moderner Eventkultur (Hindrichs 2019, 384 f.). Charakteristisch ist hier die gezielte Ansprache jüngerer Zielgruppen durch die Integration popkultureller Stilelemente und aufwendiger Bühnenspektakel. Diese Entwicklung unterstreicht die grundsätzliche Adaptionsfähigkeit des Schlagers an sich wandelnde kulturelle Kontexte.
2.2 Psychologische und neurologische Wirkmechanismen
Die besondere emotionale Wirkung von Schlagermusik auf ihre RezipientInnen lässt sich durch interdisziplinäre Forschungsergebnisse aus Musikpsychologie und Neurowissenschaft fundiert erklären. Aktuelle Studien mit bildgebenden Verfahren belegen, dass musikalische Reize generell eine starke Aktivierung des limbischen Systems bewirken, jener phylogenetisch alten Hirnregion, die als Zentrum der emotionalen Verarbeitung fungiert (Rötter 2016, 5 f.). Im Falle des Schlagers zeigt sich diese Aktivierung besonders ausgeprägt, was auf drei charakteristische Merkmale zurückgeführt werden kann.
Die bewusst einfach gehaltenen harmonischen Progressionen und repetitiven melodischen Strukturen erstens ermöglichen eine einfache neuronale Verarbeitung (Thoma et al. 2013). Diese musikalische Beschaffenheit führt zweitens zu einer raschen Dekodierung, die geringe kognitive Ressourcen beansprucht (Koelsch 2014, 170 ff.). Drittens legt die kongruente Verbindung von Musik und Text eine klare emotionale Lesart nahe (Koelsch 2014, 170 ff.). Insgesamt bewirken diese Eigenschaften, dass der Schlager bei vielen Menschen ein intensives Gefühl von Geborgenheit und Vertrautheit hervorruft. Dieser Effekt kann insbesondere in unsicheren Lebenslagen als emotionaler Halt dienen.
Ein zentraler Wirkfaktor der Schlagermusik liegt im Phänomen der Nostalgie, das in der psychologischen Forschung zunehmend als relevante Ressource für die emotionale Stabilität anerkannt wird. Neuere Studien belegen, dass nostalgische Empfindungen insbesondere in Lebensphasen der Verunsicherung oder des Umbruchs eine psychologische Stabilisierungsfunktion erfüllen. Durch die Aktivierung biografisch verankerter Erinnerungen tragen sie zur Aufrechterhaltung eines kohärenten Selbstbildes bei und stiften Kontinuität in veränderungsstarken Zeiten (Wildschut und Sedikides 2024, 54 ff.). Dieser Mechanismus erklärt, warum Menschen in Krisensituationen häufig intuitiv auf musikalische Begleiter ihrer Lebensgeschichte zurückgreifen – darunter auch Schlagermusik. Die vertrauten Klänge fungieren dabei als emotionaler Resonanzraum, der mit positiven Erinnerungen verknüpft ist und somit trostspendende Qualitäten entfaltet.
Besonders hervorzuheben sind in diesem Kontext die Ergebnisse zur stressreduzierenden Wirkung vertrauter Musik. Eine Untersuchung von Thoma et al. (2013) zeigt, dass das Hören persönlich wichtiger Musik – wozu in vielen Fällen auch Schlager zählt – die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol signifikant verringern kann. Relevant erscheinen in diesem Zusammenhang neuere Erkenntnisse zur physiologischen Stressreduktion durch vertraute Musik. Die Forschungsarbeit konnte nachweisen, dass das Hören persönlich bedeutsamer Musik – zu der für viele Menschen der Schlager gehört – eine signifikante Verringerung der Cortisolausschüttung bewirkt. Die WissenschaftlerInnen führen diesen Effekt auf ein Zusammenspiel verschiedener psychologischer Mechanismen zurück:
- Die Reaktivierung positiver autobiografischer Erinnerungen wirkt affektregulierend
- Die akustische Vertrautheit unterbricht kreisende negative Gedankenmuster
- Der Wiedererkennungseffekt löst ein tiefes Gefühl der Geborgenheit aus.
Diese Erkenntnisse sind von unmittelbarer Bedeutung für die Soziale Arbeit und werden in den folgenden Kapiteln noch ausführlicher behandelt. Die therapeutischen Potenziale dieses Ansatzes werden in den folgenden Abschnitten detaillierter untersucht, wobei insbesondere die Integration in lebensweltorientierte Konzepte der Sozialen Arbeit im Fokus stehen wird.
2.3 Soziale Funktionen und Gemeinschaftsbildung
Neben seiner individuellen emotionalen Wirkung entfaltet Schlagermusik bedeutsame kollektive Effekte, die für sozialarbeiterische Praxisansätze durchaus Potenzial bergen. Schlagerveranstaltungen – vom geselligen Singabend im lokalen Wirtshaus bis hin zu Großevents wie dem Schlagerboom – stellen in unserer fragmentierten Gesellschaft wichtige Räume gemeinschaftlicher Erfahrung dar (Wickel 2018, S. 76). Das kollektive Musikerleben, manifestiert im gemeinsamen Singen und Tanzen zu bekannten Melodien, generiert ein starkes Zugehörigkeitsgefühl. Für Personen mit Erfahrungen sozialer Isolation oder Interaktionsängsten kann dieses Phänomen von existentieller Bedeutung sein, da es niedrigschwellige Partizipationsmöglichkeiten eröffnet (Wickel 2018, S. 122).
Studienergebnisse zur Schlagerkultur verweisen auf den charakteristischen ritualisierten Charakter dieser Veranstaltungen (Mendívil 2008, S. 90). Die stark strukturierten Abläufe – vom Programm über die Liedauswahl bis zu den erwarteten Reaktionsmustern (Mitsingen, rhythmisches Klatschen, Paartanzen) – schaffen einen klar vorhersehbaren sozialen Rahmen. Im Gegensatz zu unstrukturierten sozialen Situationen, die häufig Verunsicherung auslösen, bietet dieses Setting psychologische Sicherheit. Speziell für Menschen mit psychosozialen Belastungen oder eingeschränkter sozialer Kompetenz wirkt diese Form der ritualisierten Interaktion häufig entlastend und ermöglicht positive Gruppenerfahrungen.
Gleichzeitig sei an dieser Stelle aber bereits darauf verwiesen, dass insbesondere die textliche Dimension einer kritischen Diskussion bedarf, vorrangig mit Blick auf potenzielle Exklusionsmechanismen. Die in den Liedern transportierten Botschaften, die oftmals bestimmte Normen und Rollenbilder vermitteln, könnten dazu beitragen, soziale Grenzen zu verstärken oder marginalisierte Gruppen auszuschließen. In Kapitel 4 wird dieser Aspekt vertieft.
3 Übertragung auf die Soziale Arbeit: Theoretische Grundlagen und praktische Anwendungen
3.1 Theoretische Verortung: Lebensweltorientierung und Salutogenese
Die beschriebenen Wirkungsweisen des Schlagers lassen sich theoretisch fundiert in zentrale Konzepte der Sozialen Arbeit einbetten. Im Speziellen der lebensweltorientierte Ansatz nach Thiersch bietet hierfür einen geeigneten analytischen Rahmen (Grunwald und Thiersch 2018). Dieser theoretische Zugang postuliert, dass professionelle Hilfesysteme nur dann nachhaltige Wirkung entfalten können, wenn sie sich konsequent an den alltäglichen Erfahrungswelten und kulturellen Praktiken der AdressatInnen orientieren. Im Gegensatz zu standardisierten Interventionsmustern, die häufig als fremd und artifiziell wahrgenommen werden, setzt dieser Ansatz bewusst an vorhandenen kulturellen Ressourcen (Grunwald und Thiersch 2018, S. 906). Der Schlager als tief in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen verankertes Phänomen stellt dabei einen besonders authentischen Zugang dar, der weniger Widerstände hervorruft als viele konventionelle Hilfeformen (Ehrhardt 2010, S. 52).
Einen weiteren wesentlichen Bezugsrahmen bildet das salutogenetische Modell Antonovskys. Dessen zentrales Konstrukt des Kohärenzgefühls – bestehend aus den Dimensionen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit – erweist sich als besonders relevant für das Verständnis der psychosozialen Wirkmechanismen von Schlagermusik: Verstehbarkeit wird durch die klaren musikalischen Strukturen und leicht nachvollziehbaren Texte gefördert, die eine geordnete, überschaubare Welt abbilden. Handhabbarkeit entsteht durch die niedrigschwelligen Partizipationsmöglichkeiten (Mitsingen, rhythmisches Begleiten), die ein Gefühl von Selbstwirksamkeit vermitteln. Sinnhaftigkeit entwickelt sich aus den gemeinschaftsstiftenden Aspekten und der emotionalen Bedeutsamkeit der geteilten Erfahrung.
Empirische Untersuchungen bestätigen, dass diese drei Komponenten in Kombination wesentlich zur Stressbewältigung und Krisenresistenz beitragen. Gerade für psychisch belastete oder sozial benachteiligte Personengruppen kann die Arbeit mit schlagerbezogenen Angeboten daher besondere Wirkung entfalten. Die spezifische Ausgestaltung solcher Interventionen sowie ihre empirische Fundierung werden in den folgenden Abschnitten vertieft analysiert (Antonovsky 1997, 34 ff.).
3.2 Praktische Anwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Handlungsfeldern
3.2.1 Biografiearbeit und Erinnerungspflege
Aktuelle Studien belegen den besonderen Stellenwert von Popularmusik als wirksames Instrument biografieorientierter Interventionen bei Menschen mit Demenzerkrankungen (Avino 2023). Die besondere Eignung des Genres erklärt sich aus seiner charakteristischen Verankerung in prägenden Lebensphasen – insbesondere der Jugend und dem frühen Erwachsenenalter (Avino 2023). Neuropsychologische Forschungsergebnisse zeigen, dass musikalische Gedächtnisspuren bei DemenzpatientInnen eine bemerkenswerte Persistenz aufweisen. Oft bleiben sie über lange Krankheitsverläufe hinweg abrufbar, selbst wenn andere kognitive Funktionen bereits deutlich beeinträchtigt sind. (Schall et al. 2025, 53 f.)
In der praktischen Umsetzung haben sich sogenannte Musikbiografien als vielversprechender Ansatz erwiesen. Bei dieser Methode werden durch biografische Interviews persönliche Musikpräferenzen der Betroffenen systematisch erfasst und mit wichtigen Lebensereignissen verknüpft. Die daraus entwickelten individuellen Musikprofile erfüllen eine doppelte Funktion (Fischer 2011, 65 ff.). Die daraus entwickelten individuellen Musikprofile erfüllen eine doppelte Funktion: Für die Erkrankten selbst stellen sie ein wirkungsvolles Instrument zur Reaktivierung des autobiografischen Gedächtnisses dar und unterstützen so die Aufrechterhaltung der Identitätskontinuität. Für Angehörige und professionell Pflegende bieten sie wertvolle Zugänge zum Erleben der Betroffenen und ermöglichen eine stärker personenzentrierte Betreuung. Konkrete Umsetzungsformen reichen von der Erstellung persönlicher Audio-Collagen bis hin zur Gestaltung biografischer Ausstellungen in Pflegeeinrichtungen. Ergänzend haben sich regelmäßige Singkreise, in denen vertraute Schlager gemeinsam musiziert werden, bewährt. Gruppenbasierte Angebote fördern nicht nur die kognitive Aktivierung, sondern schaffen auch wichtige soziale Interaktionsmöglichkeiten (Retla e.V. 2021).
3.2.2 Psychosoziale Beratung und klinische Sozialarbeit
Im Kontext psychosozialer Beratung und klinischer Sozialarbeit erweist sich Schlagermusik als aussichtsreiches Instrument für emotionsregulative und krisenbewältigende Interventionen. Vertraute Musik vermag nachweislich Stressreaktionen zu reduzieren und positive Affekte zu aktivieren (Thoma et al. 2013). Professionelle HelferInnen können diese Wirkung gezielt nutzen, indem sie KlientInnen anleiten, persönlich bedeutsame Schlagerstücke als selbstregulative Ressource in belastenden Situationen einzusetzen. Besonders in der Trauerbegleitung zeigt sich das Genre als wertvolles Medium. Viele Schlager behandeln Abschiedsthematiken in einer Weise, die Trauernden hilft, eigene Emotionen zu strukturieren und zu externalisieren. Methodisch lässt sich dies etwa durch folgende Ansätze umsetzen: Erstellung individueller Musik-Collagen als Verarbeitungshilfe, Textanalysen als Einstieg in therapeutische Dialoge und musikalische Begleitung von Trauerritualen.
Die zunehmende Rezeption populärer Musik in kirchlichen Kontexten unterstreicht diese Entwicklung. Exemplarisch zeigt sich dies an der Integration von Andreas Gabaliers Amoi seg' ma uns wieder in Trauerfeiern, dessen einfühlsame Thematisierung von Abschied und Hoffnung viele Hinterbliebene emotional anspricht. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie populäre Musik traditionelle Rituale ergänzen und sich in diese inkulturieren kann. In gruppentherapeutischen Settings – etwa bei der Arbeit mit depressiven oder ängstlichen KlientInnen – bietet gemeinsames Musizieren mehrere Vorteile: Stärkung des Gruppenzusammenhalts, Förderung emotionaler Expressivität und Schaffung niedrigschwelliger Partizipationsmöglichkeiten.
Die charakteristische Einfachheit des Schlagers erweist sich hier als besonderer Vorteil: Durch klare Strukturen und leicht zugängliche Melodien ermöglicht er eine inklusive Teilhabe unabhängig von musikalischen Vorkenntnissen (Wickel 2018, S. 122). Für die Praxis ergeben sich daraus vielversprechende Anwendungsmöglichkeiten, die von individuellen Beratungssettings bis hin zu gruppenpädagogischen Angeboten reichen. Entscheidend ist dabei stets die Orientierung an den biografischen Bezügen und musikalischen Präferenzen der jeweiligen Klientel.
4 Kritische Reflexion und Grenzen des Ansatzes
Trotz der dargestellten Potenziale bedarf der Einsatz von Schlagermusik in der Sozialen Arbeit einer differenzierten Betrachtung, die sowohl seine Reichweite als auch inhaltliche Implikationen kritisch hinterfragt. Zunächst zeigt sich eine signifikante Begrenzung in der gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit des Genres. Empirische Untersuchungen zur Musikkonsumforschung belegen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen – insbesondere jüngere Kohorten, Personen mit Migrationsbiografien oder queere Menschen – dem Schlager häufig distanziert gegenüberstehen (Statista).
Obgleich die thematische Ausrichtung allgemeine Lebenserfahrungen thematisiert, richtet sie sich vor allem an Menschen, die bereits über mehrere Generationen im deutschsprachigen Raum leben. Universelle Themen wie Liebe, Verlust oder Freude sind eng mit den sozialen und kulturellen Prägungen verbunden, die über längere Zeitspannen in einem spezifischen Gesellschaftskontext gewachsen sind. Für bestimmte Personengruppen, wie zum Beispiel Menschen mit Migrationsgeschichte, können diese Themen hingegen weniger zugänglich oder sogar ausschließend wirken, da sie nicht immer auch die spezifischen Lebensrealitäten und Erfahrungen dieser Gruppen widerspiegeln. Zusätzlich lässt sich bei einigen Ausprägungen des Schlagers auch ein Lokalpatriotismus beobachten, der regionale Identitäten ins Zentrum stellt. KünstlerInnen wie Andreas Gabalier, Melissa Naschenweng oder Formationen wie die Klostertaler thematisieren gezielt alpenländische Traditionen. Solche Subgenres stärken einerseits das Zugehörigkeitsgefühl innerhalb dieser regionalen Gruppen, reproduzieren andererseits aber auch Differenzkategorien zwischen den Regionen und sozialen Milieus.
Gleichzeitig zeigen moderne Schlagerformate im Fernsehen einen Wandel, indem sie eine zunehmend diverse Auswahl an InterpretInnen mit verschiedenen Soundausprägungen, Herkünften, sexuellen Identitäten und Altersstrukturen einbinden (Dombrowski 2024). Dieser Trend reflektiert den Versuch, den Schlager für ein breiteres, vielfältigeres Publikum zugänglich zu machen und auch die marginalisierten Stimmen innerhalb des Genres zu stärken.
Diese Beobachtung verweist auf die Notwendigkeit einer präzisen AdressatInnenanalyse und gegebenenfalls komplementärer musikalischer Angebote, um den inklusiven Anspruch sozialarbeiterischer Interventionen nicht zu konterkarieren.
Ein weiterer zentraler Diskussionspunkt betrifft die in vielen Schlagertexten transportierten normativen Konzepte. Inhaltliche Analysen zeigen eine häufige Reproduktion traditioneller Geschlechterstereotypen (z.B. männlicher Beschützerinstinkt vs. weibliche Fürsorgeorientierung), heteronormativer Beziehungsmodelle und unkritischer Heimatnarrative. Diese impliziten Wertungen stehen in einem Spannungsverhältnis zu den emanzipatorischen Leitprinzipien der Sozialen Arbeit. Besonders problematisch erscheint dabei die mögliche unbewusste Verstärkung solcher Normen durch den professionellen Einsatz entsprechender Musikstücke.
Für die Praxis ergeben sich daraus folgende Handlungsimplikationen:
- Kritische Materialauswahl: gezielte Nutzung von Liedern mit progressiven Inhalten
- Reflexive Bearbeitung: Thematisierung problematischer Textstellen in begleiteten Gruppendiskursen
- Kontextsensitive Anwendung: zielgruppenspezifische Abwägung von Nutzen und möglichen Nebenwirkungen
Diese differenzierte Herangehensweise ermöglicht es, das vorhandene Potenzial des Schlagers verantwortungsvoll zu nutzen, ohne kritiklos seine inhärenten Begrenzungen zu übergehen. Entscheidend bleibt dabei die professionelle Reflexionsfähigkeit der Handelnden, die sowohl die musikalischen Präferenzen ihrer Klientel berücksichtigen als auch die normativen Implikationen des Materials kritisch einordnen müssen. Nur so kann verhindert werden, dass ein unreflektierter Methodenoptimismus zu ungewollten Reproduktionen gesellschaftlicher Machtverhältnisse führt.
5 Fazit und Ausblick: Schlager als Ressource in der Sozialen Arbeit
Der vorliegende Aufsatz macht deutlich, dass der Schlager mehr ist als ein bloßes Unterhaltungsphänomen. Seine besondere Fähigkeit, emotionale Regulation zu unterstützen, Nostalgiegefühle zu wecken und Gemeinschaftserleben zu fördern, eröffnet der Sozialen Arbeit innovative Handlungsmöglichkeiten. Besonders in der Arbeit mit älteren Menschen, psychisch belasteten Personen oder sozial isolierten Gruppen könnten schlagerbasierte Interventionen neue Zugänge schaffen und bisher ungenutzte Ressourcen aktivieren. Theoretisch betrachtet fügen sich schlagerzentrierte Methoden nahtlos in bewährte Konzepte der Sozialen Arbeit ein, insbesondere in den lebensweltorientierten Ansatz. Indem sie an vorhandene kulturelle Muster anknüpfen und vorhandene Ressourcen in den Mittelpunkt stellen, folgen sie grundlegenden Prinzipien professioneller Hilfeleistung. Gleichzeitig wirft diese Erkenntnis wichtige Fragen für die weitere Forschung auf. Es bedarf systematischer empirischer Studien, die sowohl die subjektiven Erfahrungen der Beteiligten erfassen als auch mögliche Wirkungen auf psychosoziale Indikatoren wie Lebenszufriedenheit oder Depressivität messen.
Eine besondere Herausforderung besteht in der kritischen Auseinandersetzung mit den normativen Dimensionen des Schlagers. Die Soziale Arbeit steht vor der Aufgabe, die positiven Aspekte des Genres zu nutzen, ohne dabei problematische Rollenbilder oder Weltanschauungen unreflektiert zu reproduzieren. Dies erfordert die Entwicklung von Reflexionsmethoden, die in die praktische Arbeit integriert werden können. Zudem sollte der Schlager nicht isoliert betrachtet, sondern als Teil eines breiteren Spektrums kunstbasierter Methoden verstanden werden. Eine flexible, zielgruppenorientierte Kombination verschiedener musikalischer Stile und künstlerischer Ausdrucksformen verspricht nachhaltigere Ergebnisse.
Insgesamt zeigt sich, dass die tröstende, Mut spendende und verbindende Kraft der Schlagermusik ein bislang unterschätztes Potenzial für die Soziale Arbeit darstellt. Ihre verantwortungsvolle und differenzierte Nutzung – unter steter Berücksichtigung der beschriebenen Grenzen – könnte den professionellen Umgang mit schwer erreichbaren Zielgruppen entscheidend verbessern. Die weitere Forschung ist aufgefordert, diese Erkenntnisse zu vertiefen und in konkrete, praxistaugliche Konzepte zu überführen, die sowohl den Bedürfnissen der AdressatInnen als auch dem professionellen Ethos der Sozialen Arbeit gerecht werden.
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Verfasst von
Thomas Schober
Beamter an der Technischen Hochschule Rosenheim im Berufungsmanagement; externer Promovend Vinzenz Pallotti University
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ORCID: https://orcid.org/0000-0002-5422-0127
Es gibt 1 Materialie von Thomas Schober.
Zitiervorschlag
Schober, Thomas, 2025.
Schlager in der Sozialen Arbeit – Empathietool oder Klischeeverstärker? [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 30.04.2025 [Zugriff am: 19.05.2025].
https://doi.org/10.60049/sanhz6nb
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