Wenn ihr nicht so werdet wie wir, seid ihr unsere Feinde!
Minarette als Raketen?
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
veröffentlicht am 19.12.2009
Zusammenfassung
Ethnozentriertes und rassistisches Denken und Handeln hat es in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben – und gibt es weiterhin! Ein Beitrag zur Mehrheitsentscheidung der Schweizer Bevölkerung vom 29. November 2009, den Bau von Minaretten an Moscheen in ihrem Land zu verbieten.
Stereotype, Vorurteile, ethnozentriertes und rassistisches Denken und Handeln hat es in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben – und gibt es weiterhin! Die Strategien der Verursacher basieren dabei immer auf Höherwertigkeitsvorstellungen der eigenen Person und der jeweiligen Gemeinschaft und damit der Minderwertung des Anderen, des Fremden. Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit sind dabei die Treibriemen im Geschlingere von Diskriminierung und Menschenverachtung. Das Beispiel der Mehrheitsentscheidung der Schweizer Bevölkerung vom 29. November 2009, den Bau von Minaretten an Moscheen in ihrem Land zu verbieten, wird äußerst kontrovers überall in der Welt diskutiert. Während die einen sich in ihrer Meinung bestätigt sehen, dass es so etwas wie eine „Leitkultur“ in einer Mehrheitsgesellschaft geben müsse, sehen die anderen einen neuen „Kampf der Kulturen“ in Europa heranbrechen. Der in Israel geborene und in Berlin lebende Schriftsteller und Publizist Rafael Seligmann hat im Hamburger Abendblatt vom 1. 12. 2009 darauf hingewiesen, dass die Antwort auf diese Entscheidung weder kämpferische Entrüstung noch mitleidiges Kopfschütteln ob der Schweizer religiösen Intoleranz sein könne. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass das Ergebnis der Volksabstimmung dem Geist der Freiheit widerspreche, der als Grundlage des abendländischen Denkens zum kulturellen und gemeinsamen Bestandteils in Europa angesehen werden muss. Gleichzeitig aber stellt er fest, dass dieses Votum alleine als ein „Schweizer Missgriff“ nicht abgetan werden könne, sondern eine diffuse Angst der Europäer vor dem Islam zum Ausdruck bringe. Seligmans Antwort: Es bedarf der Aufklärung auf beiden Seiten; sowohl seitens der Mehrheitsgesellschaften, die angeblich ihre kulturelle Identität in Frage gestellt sehen durch die Ansprüche von Minderheiten, ihre eigene kulturelle Identität leben zu können, als auch seitens der Muslime in Europa, ihre „Selbst-Ausgrenzung“ aufzugeben und die in ihrer Religion so hoch gehaltene Toleranz Andersgläubigen gegenüber tatsächlich auch zu leben; nicht zuletzt dadurch, dass die Zuwanderer bereit sein müssen, sich bei Beibehaltung ihrer Sitten und ihrer Religion gesellschaftlich in ihre Gastländer einzuordnen, also in gewisser Weise anzupassen. „Tun sie das nicht, dann werden sich die religiösen und sozialen Spannungen in Europa weiter verschärfen“.
Aufklärung, was ja bedeutet, Informationen und Wissen zu erwerben, um es für ein friedliches Miteinander in den lokalen und globalen Gesellschaften anzuwenden, muss dabei auf den Säulen des Rechts und der Empathie ruhen. In der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist in der Präambel die humane, globale Ethik formuliert, wenn es heißt, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden“. Und in Artikel 18 ist das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit für alle Menschen auf der Erde grundgelegt; dieses Recht „umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Unterricht, Ausübung, Gottesdienst und Beachtung religiöser Bräuche zu bekunden“. Und in Artikel 1 ist das Gebot der Menschlichkeit eindeutig ausgedrückt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“.
Im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs darüber, wie in einer Gesellschaft Eingewanderte aufgenommen und mit Rechts- und humanitären Titeln versehen werden, stehen die Begriffe „Integration“ und „Assimilation“ im Mittelpunkt. Im folgenden soll auf ausgewählte Literatur hingewiesen werden, die im Rezensionsdienst von socialnet im Laufe der letzten 12 Monate vom Autor vorgestellt wurden. Das sind zum einen die Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept, wie sie von Jutta Aumüller in ihrem Buch „Assimilation“ (transcript Verlag, Bielefeld 2009, 274 S.) thematisiert werden. Dabei weist die Autorin darauf hin, dass Assimilation, wie sie im gesellschaftlichen Diskurs als Erwartungshaltung der (absoluten) Anpassung wahrgenommen wird, ein problematisches, diskursives Konzept sei; vor allem deshalb, weil es als Ausgrenzung derjenigen wirkt, die sich nicht assimilieren sollen und wollen.
Mit den für Einwanderungsgesellschaften kontroversen Auffassungen von „Macht – Kultur – Bildung“ in Integrationsprozessen setzt sich der Erziehungswissenschaftler und Soziologe Georg Auernheimer seit Jahrzehnten auseinander. Lisa Rosen und Schahrzad Farrokhzad versammeln als SchülerInnen und MitarbeiterInnen Auernheimers in einer Festschrift anlässlich seiner Emeritierung die vielfältigen Aspekte zur Integrationspädagogik, -politik und –wirklichkeit (Lisa Rosen / Schahrzad Farrokhzad, Hrsg., Macht – Kultur – Bildung. Festschrift für Georg Auernheimer, Waxmann Verlag, Münster 2008, 332 S.).
Als Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie formulieren VertreterInnen der IPÖ kontroverse Positionen zu den globalen Entwicklungen und stellen mit ihrer Kapitalismus- und Hegemonie-Kritik neue Formen für ein Zusammenleben der Menschen in einer gerechteren Welt zur Diskussion (Eva Hartmann / Caren Kunze / Ulrich Brand, Hrsg., Globalisierung, Macht und Hegemonie, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2009, 271 S.).
Ebenfalls kapitalismuskritische Töne kommen von einer Richtung, die sich als „Kritischer Bewegungsdiskurs“ (KBD) bezeichnet und Veränderungsvorstellungen propagieren, die sich als „soziale Bewegungen“ aus der gesellschaftlichen Praxis heraus entwickeln (Roland Klautke /Brigitte Oehrlein, Hrsg., Globale Soziale Rechte. Zur emanzipatorischen Aneignung universaler Menschenrechte, VSA-Verlag, Hamburg 2008, 218 S.).
Nationale und transnationale Willenskundgebungen bestimmen das Bild und die Vorstellungen von einer Gesellschaft, die sich zwischen Partikularismus und Universalismus bewegt. Was sind die Bedingungen, unter denen in einer globalisierten Welt politische Entscheidungen getroffen werden? (Claas Christophersen, Kritik der transnationalen Gewalt. Souveränität, Menschenrechte und Demokratie im Übergang zur Weltgesellschaft; transcript Verlag, Bielefeld 2009, 279 S.
Interkulturalität als theoretisches Konzept in einer globalisierten Welt und als praktischer Lebensentwurf fallen nicht vom Himmel. Wie Interkulturelle Kommunikation als Kompetenz vermittelt werden, und wie sie sich im gesellschaftlichen Miteinander bewähren kann, darüber informieren Jürgen Beneke und Francis Jarmann als Herausgeber des Sammelbandes: „Interkulturalität in Wissenschaft und Praxis“, Universität Hildesheim, 2005, 273 S.
Die Suche danach, wie die Menschheit in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen) Welt sich human weiter entwickeln kann, wird von Jörn Rüsen und Henner Laass (Hrsg.) reflektiert: Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Wochenschau Verlag, 2009, 366 S.
Das Spannungsverhältnis zwischen Integration und Segregation diskutieren Georg Hansen und Martin Spetsmann-Kunkel in dem Band des Waxmann-Verlags, Münster 2008, 162 S.
Es sind die wirtschaftlichen Diffusionsprozesse, die im globalen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext die theoretischen Auseinandersetzungen über lokale und globale Entwicklungsperspektiven bestimmen (Wolfgang Mayrhofer / Alexander Iellatchitch, Hrsg., Globalisierung und Diffusion, IKO-Verlag, Frankfurt/M. 2005, 224 S.).
In der globalisierten Welt bedarf es einer Modifizierung und Transformation von gesellschaftlichen Kategorien, wie Identität, Raum, Sprache, Literatur und Kultur. Mit der Frage „Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur?“ greift Willi Jasper als Herausgeber eines Sammelbandes (Verlag Dr. Köster, Berlin 2009, 250 S.) in den kontroversen, lokalen und globalen Diskurs ein.
Es ist „der Stoff, aus dem Konflikte sind“. Am Beispiel der Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden die Auseinandersetzungen als das Zusammenspiel der jeweiligen Staatsbürgerschaftsregime und Integrationspolitiken, der Kirche-Staat-Beziehungen, der Genderregime, Antidiskriminierungsmaßnahmen und der gesellschaftlich-politisch-ökonomischen Situationen dargestellt (Sabine Berghahn / Petra Rostock, Hg., Der Stoff, aus dem Konflikte sind; transcript-Verlag, Bielefeld 2007, 522 S.).
Wie auf Migrationsbewegungen politisch Einfluss genommen werden kann und welche staatlichen und administrativen Maßnahmen dabei wirksam werden, darüber gibt es unterschiedliche Modelle und Vorstellungen (Stefan Luft, Staat und Migration. Zur Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration, Campus Verlag, Frankfurt/M., 2009, 400 S.).
Nur noch von den Ewiggestrigen wird angezweifelt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, wie übrigens die meisten westeuropäischen Länder. Als Fatalität, als Menetekel oder als ein natürliches Ereignis des Entstehens und Vergehens von Gesellschaften und Völkern wird die Tatsache betrachtet, dass vielen westlichen Ländern die Menschen ausgehen und Einwanderung ein Mittel sein kann, um diese Entwicklung zumindest hinaus zu zögern – dafür plädiert der nordrhein-westfälische Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration, Armin Laschet (CDU) in seinem Buch: Die Aufsteiger-Republik. Zuwanderung als Chance, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, 291 S.
Die Forderungen insbesondere an Muslime, dass sie in der Diaspora, in der sie leben und arbeiten und zu den Mehrheitsgesellschaften sie gehören wollen, Integrationswillen und Anpassungsleistung vollbringen müssen, sind meist die Grundlage für Missverständnisse und Konflikte; Missverständnisse, weil den Muslimen von vorn herein und pauschal die Bereitschaft und Fähigkeit zur Eingliederung in die jeweilige Mehrheitsgesellschaft abgesprochen wird; und Konflikte, weil Stereotype und Vorurteile dies im öffentlichen Diskurs befördern. Dass sich auch in islamischen Gesellschaften und im religiösen Diskurs ein Wandel vollzieht, wird von den Verteidigern der (festgemauerten?) abendländisch-christlichen Werte und Normen geflissentlich übersehen (Kai Hafez, Heiliger Krieg und Demokratie. Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich, transcript Verlag, Bielefeld 2009, 279 S.).
„Weil ich dich negativ wahrnehme, fühle ich mich gut“ – diese paradoxe Auffassung ist, wie nicht zuletzt die Entscheidung der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung gegen religiöse Gleichberechtigung in ihrem Land zeigt, so aktuell wie eh und je. Gegen diese fremdenfeindliche und rassistische Einstellung haben sich bereits 1947 Wissenschaftler und Schriftsteller gewendet und die Interdisziplinäre Studiengesellschaft (ISG) gegründet, mit dem Ziel, einen interdisziplinären Dialog zwischen der akademischen Welt und der praktischen Lebenswelt zu führen und in der öffentlichen Meinungsbildung das Engagement für Toleranz, Pluralität und Humanität zu fördern (Dieter Korczak, Hrsg., Das Fremde, das Eigene und die Toleranz, Asanger Verlag, 2009, 165 S.).
Der Orientalist und Philosoph Edward W. Said hat in seinen zahlreichen Werken und Plädoyers für Toleranz und Friedfertigkeit unter den Menschen immer wieder darauf hingewiesen, dass eine der Ursachen für interkulturelle Konflikte ist, dass Menschen ihre eigene (kulturelle) Identität über die der anderen Menschen stellen und nicht bereit und in der Lage sind, über den eigenen kulturellen Gartenzaun hinaus zu schauen und den Versuch zu unternehmen, sich auf das Identitäts-Terrain anderer Menschen zu begeben. Dann nämlich würden sie erleben, dass es zum friedlichen Zusammenleben der Menschen auf der Erde hilfreich ist, die Identität anderer zu kennen, zu verstehen und empathisch zu akzeptieren; vielleicht sogar Elemente der (fremden) Identität in seine eigene aufzunehmen (vgl. dazu: Christoph Burgmer, Hg., Rassismus in der Diskussion, Berlin 1999, 172 S.).
Die Empörungen über die Schweizer Abstimmung gegen den Bau von Minaretts in ihrem Land sind verständlich und zeigen, dass die Mehrheit der (Welt)Bevölkerung gegen ethnische und religiöse Intoleranz ist. Proteste dagegen sind aber nicht ausreichend, weil sich mit dem Schweizer Volksentscheid ein Problem verdeutlicht, das nicht auf die Schweiz beschränkt ist; es sind dumpfe und irrationale Stimmungen, die sich auch in vielen anderen Ländern und Gesellschaften zeigen, nämlich nach Sündenböcken zu suchen, wenn es zu schwierig oder zu aufwändig ist, hinter Konflikten nach den Ursachen zu suchen. Der in Istanbul geborene, seit 25 Jahren in Deutschland lebende Muslim, der Hildesheimer Diplom-Betriebswirt Emin Tuncay, der sich in der islamischen Gemeinde für Verständnis und Verständigung zwischen Muslimen und Christen einsetzt und beim Hildesheimer Abrahams Runden Tisch mitarbeitet, nennt eine der Ursachen für solche fatalen Entscheidungen: „Das, was man nicht kennt, schürt Ängste und Befürchtungen. Für Begegnungen und gegenseitiges Kennenlernen sind aber repräsentative Räume notwendig, in denen wir uns wohlfühlen. Deshalb wollen wir Muslime raus aus den Hinterhöfen. Mit oder ohne Minarett“.
Es sind also nicht Verbote und Schuldzuweisungen angezeigt, sondern es ist ein ehrlicher Wille gefragt, den anderen in seinem Anderssein zu erkennen, zu akzeptieren und mit ihm friedlich in einer gerechten Einen Welt zusammen zu leben. Deshalb ist die Schweizer Volksabstimmung ein falsches und fehlgeleitetes Signal. Alle diejenigen, die auch nur ansatzweise Verständnis für die Entscheidung der Schweizer Mehrheitsbevölkerung zeigen, sollten sich bewusst sein, dass dahinter die Ideologen, Nationalisten, Brandstifter und politischen Profiteure stecken, die mit großem Aufwand und Kapital in ihren Giftküchen ihr eigenes rassistisches Süppchen kochen! Es wäre fatal, würde es in anderen Ländern ähnliche Aktivitäten geben. Dagegen gefeit ist nur der Verstand, den es bei den Menschen zu befördern gilt – nicht zuletzt mit Diskussions- und Forschungsargumenten.
Dr. Jos Schnurer, Hildesheim
Verfasst von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Schnurer, Jos, 2009.
Wenn ihr nicht so werdet wie wir, seid ihr unsere Feinde! [online]. socialnet Materialien.
Bonn: socialnet, 19.12.2009 [Zugriff am: 11.12.2023].
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