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Anthony Giddens, Christian Fleck u.a.: Soziologie

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 08.12.2010

Cover Anthony Giddens, Christian Fleck u.a.: Soziologie ISBN 978-3-901402-16-6

Anthony Giddens, Christian Fleck, Marianne Egger de Campo: Soziologie. Nausner & Nausner (Graz) 2009. 3. Auflage. 989 Seiten. ISBN 978-3-901402-16-6. 59,50 EUR.

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Thema

Lehrbücher der Soziologie folgen meistens einer historischen Ordnung. Sie setzen mit den Klassikern ein, seien dies Comte und Spencer, Marx oder auch erst Durkheim, Weber, Simmel und deren Zeitgenossen. Eine weit seltenere Gliederung soziologischer Grundlagenbücher ist jene in gesellschaftliche Themen. Diese Einteilung wurde von Anthony Giddens für sein Lehrbuch gewählt, das auf Deutsch in der dritten, wesentlich überarbeiteten Auflage (nach 1995 und 1999) erscheint, die der fünften englischen entspricht, jedoch für den deutschsprachigen Raum umfassend auf hiesige Verhältnisse angepasst worden ist. Christian Fleck und Marianne Egger de Campo erläutern in ihrem Vorwort, dass sie «überall dort, wo sich die mitteleuropäischen Verhältnisse von den britischen stark unterscheiden, die Institutionen, Lebensbedingungen und sozialen Dynamiken unserer Gesellschaften dargestellt und analysiert haben» (S. 21). Das betrifft besonders die vier Kapitel über Bildung, Migration, Städte und Politik. Dazu wurden die statistischen Daten angepasst und erweitert. Gegenüber dem englischen Original wurden jedoch aus Platzgründen auch zwei Kapitel fallengelassen, nämlich «Asking and Answering Sociological Questions» sowie «Theoretical Thinking in Sociology».

Herausgeber

  • Anthony Giddens ist emeritierter Professor der London School of Economics and Political Science.
  • Christian Fleck lehrt am Institut für Soziologie der Universität Graz.
  • Marianne Egger de Campo ist Professorin an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin.

Aufbau

Das Buch enthält zwanzig Kapitel zu den Themen

  1. Soziologie,
  2. Wandel,
  3. Interaktion,
  4. Lebenslauf,
  5. Geschlecht,
  6. Familie,
  7. Gesundheit,
  8. Devianz,
  9. Bildung,
  10. Migration,
  11. Schichtung,
  12. Armut,
  13. Religion,
  14. Medien,
  15. Organisation,
  16. Wirtschaft,
  17. Urbanität,
  18. Politik,
  19. Umwelt und
  20. globale Ungleichheit.

Alle Kapitel sind differenziert gegliedert, Marginalien erleichtern die Orientierung. Am Ende jedes Kapitels finden sich zudem eine kurze Zusammenfassung, ein Glossar mit jeweils rund zwanzig Begriffserläuterungen, die den Marginalien entsprechen, sowie Angaben zu weiterführender Literatur, themenspezifischen Filmen und geeigneten Internetquellen.

Das Literaturverzeichnis am Schluss umfasst 33 Seiten. Ihm folgt ein 25seitiges Personen-, Sach- und Abkürzungsregister.

Inhalt

Es erübrigt sich an dieser Stelle, umfassend die Inhalte wiederzugeben – es wäre schlicht unmöglich. Stellvertretend sei betrachtet, wie Giddens seine Frage «Was ist Soziologie?» im ersten Kapitel beantwortet. «Wie ist diese Welt entstanden? Warum sind unsere Lebensbedingungen so anders als die unserer Eltern und Grosseltern? In welche Richtungen werden sich zukünftige Wandlungsprozesse bewegen? Diese Fragen sind das zentrale Anliegen der Soziologie, einer Disziplin, der daher in der modernen intellektuellen Kultur eine grundlegende Rolle zukommt» (S. 24). Giddens fragt sich denn, «warum wir so sind, wie wir sind, und warum wir so handeln, wie wir handeln» (S. 24). Die «soziologische Denkweise» kann man gleich im Vollzug kennenlernen, Giddens beschreibt sie nicht abstrakt, sondern wendet sie konkret – und originell – am Beispiel Kaffee an. Er greift Mills‘ Ausdruck «persönliche Schwierigkeiten» auf, wendet sich direkt an die Leserin und den Leser, um darauf hinzuweisen, dass sich hinter eigenen Schwierigkeiten meist auch soziale Hintergründe verbergen. «Es ist die Aufgabe der Soziologie, die Zusammenhänge zwischen dem, was die Gesellschaft aus uns macht, und was wir aus uns selbst machen, zu untersuchen» (S. 27).

Ein erster Anklang an seine Theorie der Strukturierung findet sich in folgender Einsicht: «Menschliche Gesellschaften befinden sich ständig im Prozess der Strukturierung, womit gemeint ist, dass die sozialen Strukturen, an denen wir unser tägliches Handeln orientieren müssen, zugleich auch von uns hervorgebracht werden» (S. 27). Giddens verweist dabei allerdings umgehend auf Bernard Mandeville, der bereits vor drei Jahrhunderten darauf hinwies, dass absichtsvolles Handeln neben den beabsichtigten auch viele unbeabsichtigte Folgen haben kann.

Giddens äussert sich sodann zum Verhältnis von Theorie und Empirie, die er als «Tatsachen» charakterisiert. «Theorien führen zu abstrakten Interpretationen, die dafür verwendet werde können, eine grosse Zahl von unterschiedlichen empirischen Situationen zu erklären» (S. 30). Warum bestimmte Dinge geschehen, zeigen «erklärende Theorien». Und Theorien helfen, für empirische Untersuchungen einen Ansatzpunkt zu finden und untersuchte Tatsachen richtig zu deuten, denn diese sprechen nicht für sich selbst. Immer da, wo sich «allgemeine Fragen» in Bezug auf menschliches Zusammenleben stellen, sieht er Theorie notwendig werden.

Die soziologische Theoriearbeit lässt Giddens in seinem historischen Überblick einsetzen, wo die religiöse Deutungshoheit nach und nach schwindet. Er beschreibt in der gegebenen Kürze Auguste Comte, Émile Durkheim, Karl Marx, Max Weber, den Funktionalismus von Talcott Parsons und Robert K. Merton, Konflikttheorien und den Symbolischen Interaktionismus. Er versäumt es mit einiger Gendersensibilität auch nicht, eine Soziologin zu porträtieren. Seine Wahl fällt auf Käthe Leichter.

Giddens unterscheidet in der Folge «theoretische Zugänge», die er auch als «Meta-Theorien» bezeichnet, und «Theorien» im engeren Sinne. Letztere erklären bestimmte soziale Bedingungen oder Typen von Ereignissen, meist unterstützt durch empirische Forschung, und sind grundsätzlich widerlegbar. Gerade dies sind erstere nicht; er umschreibt sie als sehr allgemeine Sichtweisen. Geschätzt wird von ihm die theoretische Vielfalt, denn sie bewahre vor «dogmatischer Verknöcherung».

Schliesslich erkennt Giddens auch einen praktischen Nutzen der Soziologie. Sie lehrt, das Zusammenleben auf vielfältige Art und Weise zu betrachten, lässt Ergebnisse politischer Initiativen erkunden und hilft gesellschaftlichen Gruppierungen bei ihrer Selbstaufklärung. Darüber hinaus sind Soziologinnen und Soziologen in vielen unterschiedlichen Berufsfeldern tätig. «Es wäre merkwürdig, wenn [Soziologinnen und] Soziologen in praktischen Fragen keine Stellung bezögen» (S. 54) – zu denken ist dabei auch an politische Zusammenhänge.

Diskussion

Giddens ermöglicht Einblicke in unglaublich viele Bereiche menschlichen Zusammenlebens. Das inhaltlich breit gefächerte Buch versammelt eine enorme Fülle relevanter Materialien und bereitet diese meist anschaulich auf. Gewiss hätte man sich zu einigen Themen noch eigene Kapitel gewünscht, beispielsweise zu Recht, Mobilität oder Krieg. Die Besprechung sozialer Probleme ist auf verschiedene Kapitel aufgeteilt, hier könnte man sich (darüber hinaus) auch ein zusammenfassendes, überblickendes vorstellen, das die Entstehung, den Diskurs und die Behandlung dieser Probleme theoretisch erörtert. Solche Kritikpunkte muten freilich angesichts der Fülle der dargelegten Bezüge recht kleinlich an, denn Giddens durchstreift mit seiner Auswahl doch fast alle Bereiche der Gesellschaft und beleuchtet sie mit beeindruckend vielfältigen theoretischen und empirischen Bezügen.

In der Sozialen Arbeit beginnt sich seit wenigen Jahren unter dem Etikett «Agency» auch ein Ansatz zu etablieren, der sich ausdrücklich auf die Werke Giddens‘ bezieht (siehe z.B. die Arbeiten im Umfeld von Hans Günther Homfeldt oder der Beitrag von Husi in Bernard Wandeler (Hg.), Soziokulturelle Animation, Verlag Interact, Luzern 2010). Für solche Anknüpfungsversuche ist es natürlich interessant, zu untersuchen, inwiefern Giddens‘ Theorie der Strukturierung, die er vor allem in den 1970er Jahren erarbeitet hat, in seinem grundlegenden Lehrbuch aufscheint und welche Entsprechungen, Ergänzungen und Abweichungen sich finden lassen. Schade ist aus dieser Perspektive allerdings, dass die zwei eingangs genannten Kapitel nicht von der englischen Ausgabe in die deutsche übernommen worden sind. Wer es also auf Deutsch haben will, greift nochmals auf die zweite Auflage von 1999 zurück, ansonsten empfiehlt sich ein Blick in die aktuelle englische Ausgabe.

Über Forschung erfahren deutschsprachige Leserinnen und Leser denn wenig. Freilich enthielt bereits die Ausgabe von 1999 nicht viel darüber, wie sich Giddens die, wie er es nennt. «Epoché» vorstellt, also die Einnahme einer Forschungsperspektive unter Ausklammerung der anderen, das heisst der strukturbezogenen einerseits und praxisbezogenen andererseits. Hier nimmt man immer noch sein Buch «Die Konstitution der Gesellschaft» in die Hand.

Wenn man sich die neun Porträts in Erinnerung ruft, die Claudia Honegger und Theresa Wobbe in ihrem Buch «Frauen in der Soziologie» (1998) versammelt haben, nämlich zu Harriet Martineau (1802–1876), Jenny P. d„Héricourt (1809–1875), Beatrice Webb (1858–1943), Jane Addams (1860–1935), Marianne Weber (1870–1954), Mathilde Vaerting (1884–1977), Frieda Wunderlich (1884–1965), Dorothy Swaine Thomas (1899–1977) sowie Marie Jahoda (geb. 1907), dann fällt auf, dass nur gerade letztere zweimal erwähnt wird – und dies auf fast tausend Seiten! So scheint es der vermuteten Gendersensibilität dann doch an der letzten Konsequenz zu mangeln.

Der Koautorin und dem Koautor verdanken wir zunächst die Anpassungsleistung, die das Buch für mitteleuropäische Zwecke erst richtig interessant zu machen verspricht. Allerdings macht sich bei der Lektüre zunehmend Ärger breit, letztlich erscheint die Angabe, man habe die Inhalte für die Verhältnisse in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufbereitet, als Augenwischerei. Betrachtet man zum Beispiel die Kapitel vier bis sechs zu Lebenslauf, Geschlecht, Familie, fällt auf, wie beliebig die empirischen Daten ergänzt worden sind. Sorgfältige Aufbereitungen fehlen gänzlich. Wenn überhaupt, werden – wohl der Herkunft der Koautorin und des Koautors geschuldet – Daten aus Deutschland oder Österreich nachgereicht, solche aus der Schweiz fehlen. Dies liegt mitunter daran, dass die Daten aus EU-Quellen stammen. Hier wurde eine grosse Chance vertan, denn solche Daten wären meist ohne grösseren Aufwand verfügbar gewesen und hätten interessante Drei-Länder-Vergleiche ermöglicht. Auf kosmetische Änderungen wäre besser verzichtet worden, zum Beispiel, wenn ein Unterkapitel über türkische Migrantenfamilien mit dem Satz beginnt: «Das Familienleben in Deutschland, Österreich und der Schweiz ist heute von grosser Vielfalt geprägt» (S. 247). Es folgt die für Schweizer Verhältnisse völlig falsche Angabe, der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung betrage rund zehn Prozent – und dann folgt für die Schweiz rein gar nichts mehr!

Wer vermutet hätte, dieser Mangel werde wenigstens bei den empfohlenen Filmen und Internetquellen am Kapitelende wettgemacht, sieht sich enttäuscht. Die Filmempfehlungen folgen meist dem amerikanischen Mainstream, man hat sie zumeist schon gesehen, immerhin sind die aufgeführten Filme tatsächlich sehenswert. Jedoch ausgewählt eben, als gäbe es kein deutsches, österreichisches oder schweizerisches Filmschaffen. Sparsamer gar noch gingen Koautorin und Koautor auf der Suche nach geeigneten Internetquellen vor.

Fazit

Das fast tausendseitige Werk kann bei aller Kritik, die zuweilen von Ärger begleitet ist, dennoch zur Lektüre oder auch nur zum Schmökern sehr empfohlen werden. Aufgrund der differenzierten Gliederung und hilfreichen formalen Durchgestaltung können die Leserin und der Leser gezielt auf das zugreifen, was sie besonders interessiert, und sich zudem zu ab- und ausschweifenden Lektüren verführen lassen. Hierbei kommt Giddens‘ beeindruckend umfassender Horizont voll zum Tragen. Dieser positive Eindruck wird kaum dadurch geschmälert, dass die Inhalte zuweilen etwas eklektisch zusammengetragen erscheinen.

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Es gibt 41 Rezensionen von Gregor Husi.

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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 08.12.2010 zu: Anthony Giddens, Christian Fleck, Marianne Egger de Campo: Soziologie. Nausner & Nausner (Graz) 2009. 3. Auflage. ISBN 978-3-901402-16-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10016.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.


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