Rebecca Bretschneider: Einmal arm - immer arm
Rezensiert von Prof. Dr. Hans-Peter Michels, 03.11.2010

Rebecca Bretschneider: Einmal arm - immer arm. Bewältigungsstrategien von Menschen in Armutslebenslagen und unterstützende Beratungsmodelle. VDM Verlag Dr. Müller (Saarbrücken) 2010. 80 Seiten. ISBN 978-3-639-27108-9. 49,00 EUR.
Thema
Die Beratung von armen Menschen ist ein Gebiet, das entschieden stärkerer Aufmerksamkeit bedarf: Beratungskonzepte müssen weiter ausgearbeitet werden, die Methodenentwicklung sollte auf spezifische Problemlagen armer Menschen zugeschnitten werden (z.B. Arbeitslosigkeit, Schulden, Überschuldung, Krankheit), die Beziehung Berater – Klient muss spezifischer betrachtet werden (die vorhandenen Konzepte sind noch zu allgemein und werden dem Kontext der Beratung, der Interaktion sowie der Gestaltung der Beziehung nicht gerecht). Auch sollten die „Makroebenen“ (u.a. die ökonomischen, politischen und institutionellen Bedingungen) in ihrer Bedeutung für die Beratung erfasst werden.
Entstehungshintergrund
Rebecca Bretschneider hat hier ihre Bachelorthesis voröffentlicht.
Aufbau und Inhalt
Bretschneider stellt zu Beginn verschiedene Definitionen von absoluter und relativer Armut vor. Dabei favorisiert sie das mehrdimensionale Lebenslagenkonzept, welches den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung zugrunde liegt. Außerdem geht sie noch kurz auf die dynamische Armutsforschung ein.
Interessant ist das 3. Kapitel, da sie hier „Innenansichten“ von Personen, die arm sind, referiert. Sie fasst dabei die Untersuchung von „Claudia Schulz (2007). Ausgegrenzt und abgefunden? Innenansichten der Armut: eine empirische Studie“ zusammen.
Die Autorin erörtert die Grundlagen der Beratung: die Kompetenzen des Beraters, die Beziehung sowie die Rahmenbedingungen. Anschließend greift sie auf zwei moderne Beratungskonzepte zurück: die ressourcen- und die lösungsorientierte Beratung. Sie versucht - ausgehend von diesen Ansätzen - mögliche Interventionen bei Armen zu entwickeln.
Bretschneider zeigt durch ihre Arbeit, dass die Beratung von Armen noch stark entwicklungsbedürftig ist. Sie hat sich dazu auf Theorien, Beratungsmodelle und Gesprächsführungsansätze bezogen, die an vielen Fachbereichen für Soziale Arbeit noch immer gelehrt werden.
Die gesprächspsychotherapeutischen Aspekte nach Carl Rogers werden beschrieben. Teils werden Bezüge auf psychoanalytische Konzepte vorgenommen. Ausgehend von den Lerninhalten ihres Studiums, dienen ihr diese Ansätze dazu, um Leitlinien für die Berater-Klient-Beziehung darzustellen. Ob die Ansätze, die eigentlich das Beziehungsgeschehen in einer langen heilkundlich orientierten Psychotherapie zu charakterisieren versuchen, zur Erfassung der Beziehung in der Beratung taugen, ist diskussionswürdig. Es müsste eine umfassendere Auseinandersetzung mit dem Kontext stattfinden, in dem sich die Beratung von Armen heute vollzieht.
Diskussion
Unabdingbar in der Ausbildung von Sozialarbeitern, die mit armen Menschen arbeiten, sind Kenntnisse der ökonomischen Veränderungen in unserer Gesellschaft, um die Ursachen von Armut und Arbeitslosigkeit zu erfassen. Des weiteren sollten Sozialarbeiter die sozialpolitischen Regulationen der letzten Jahre studiert haben, um den Umbau des Wohlfahrtsstaates in einen aktivierenden Sozialstaat und die Bedeutung für die eigene Arbeit ermessen zu können. Außerdem sollten sie die neueren staatlichen Steuerungsinstrumente und ihre Folgen für die Soziale Arbeit kennen.
Heute formen diese Faktoren, die auch Eingang in die Sozialgesetzgebung gefunden haben, die Berater-Klient-Beziehung. Das Machtgefüge hat sich in der aktivierenden Beratung extrem zuungunsten des Klienten verschoben, da Fremdbestimmung per Zielvereinbarung verbunden wird mit weitgehenden Kontroll- und Sanktionsfunktionen des Beraters.
In der Beratung von Armen sollten neue Wege beschritten werden. D.h. ausgehend von Analysen zu den ökonomischen und politischen Bedingungen, zur Situation der Armen, zum Kräfteverhältnis in der Beratung und zum Eingebundenseins des Sozialarbeiters in Machtnetze sollten in der Beratung gemeinsam mit dem Klienten erweiterte Handlungsmöglichkeiten erarbeitet werden.
Dabei wird man nicht immer bei individuellen Bewältigungsstrategien stehen bleiben können, sondern erkennen müssen, dass Verbesserungen vielfach nur gemeinsam mit anderen Betroffenen möglich sind.
Auch der Berater wird erkennen können, dass eine weitere Fortbildung in Gesprächstechniken, lösungsorientierter Beratung oder systemischen Methoden kaum etwas zur Verbesserung der Beratungssituation beiträgt. Wenn er professionelle Beratungsarbeit machen möchte und gewisse Standards aufrechterhalten will, sollte er ebenso kollektive Veränderungsinterventionen in Erwägung ziehen.
Fazit
Bretschneider hat einen Konzeptualisierungsversuch der Beratung von Armen vorgelegt, der als „Gegenentwurf“ zu einer aktivierenden Beratung mit ihren Sanktions-, Kontroll- und Disziplinierungstechniken einzustufen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Hans-Peter Michels
Dipl.-Psychol.
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