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Hilmar Schäfer, Sophia Prinz et al. (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften

Rezensiert von Prof. Dr. em. Christel Hafke, 14.07.2011

Cover Hilmar Schäfer, Sophia Prinz et al. (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften ISBN 978-3-86764-280-4

Hilmar Schäfer, Sophia Prinz, Daniel Šuber (Hrsg.): Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften. Zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2010. 364 Seiten. ISBN 978-3-86764-280-4. D: 44,00 EUR, A: 45,30 EUR, CH: 58,90 sFr.
Reihe: Theorie und Methode - 59.

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Entstehungshintergrund

Der vorliegende Sammelband geht auf eine gemeinsame Initiative und Kooperation zwischen Konstanzer Soziologen, dem Konstanzer Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ sowie der kulturwissenschaftlichen Abteilung der Universität St. Gallen zurück. Eine an beiden Orten gezeigte Fotoausstellung „Zeugnisse der Entwurzelung - Pierre Bourdieu in Algerien“, die rahmenden wissenschaftlichen Begleitveranstaltungen, weitere Tagungen und zusätzliche Autorenbeiträge bilden Ausgangs- und Bezugspunkt dieses Bandes. Die hier versammelten Beiträge repräsentieren entsprechend unterschiedliche Perspektiven.

Absicht und Thema

Die Herausgeber konstatieren in der Einleitung eine „verstärkte disziplinübergreifende Auseinandersetzung mit Bourdieu“ (13) (v. a. eine stärker kulturwissenschaftlich orientierte Lesart, vermutlich durch seine Forschungen zu Feldern kultureller Produktion angeregt) sowie eine neue Rezeptionslinie innerhalb der Soziologie mit neuen Forschungsfeldern. Betont wird von den Herausgebern die praxeologische Ausrichtung der Bourdieu´schen Sozialtheorie, die eine „genuine Wandelbarkeit, Inkonsistenz und Instabilität von sozialen Strukturen, kulturellen Bedeutungsregimen und Machtverhältnissen betont.“ (13) So will der vorliegende Band eine „theoretische Rekonstruktion und empirische Vertiefung“ (13) einzelner Aspekte der Theorie Bourdieus angehen, die bislang in der Soziologie wenig beachtet wurden.

Wo Grenzen von Bourdieus Theorie und Methoden ausgemacht werden, scheinen Perspektiven der Ergänzung und Erweiterung auf. Hierfür sind poststrukturalistische Ansätze, aber auch körper- und artefakttheoretische sowie ethnografische und bildanalytische Methoden hilfreich.

Ein zweiter Schwerpunkt des Buches widmet sich praxis- und wissenskonstitutiven Äußerungen „symbolischer Macht“ (14), die sich u.a. in der Verschränkung von Geschlecht und Klasse, Postkolonialismus und Globalisierung, medialen und visuellen Repräsentationsformen ausmachen lassen.

Im letzten Abschnitt des Buches wird von zwei Autoren Bourdieus Positionierung gegenüber den Geistes- und Kulturwissenschaften reflektiert.

Aufbau

Das Buch zeigt sechs perspektivische Untergliederungen:

  • Teil I: Zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus
  • Teil II: Praxeologische Analysestrategien
  • Teil III: Mediale Repräsentation und symbolische Gewalt
  • Teil IV: Kunst zwischen Hoch- und Populärkultur
  • Teil V: Postkolonialismus und Globalisierung
  • Teil VI: Vernunftkritik und Reflexivität

Ich werde im Folgenden die einzelnen Beiträge kurz umreißen.

Zu Teil I: Zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus

Franz Schultheis spricht in seinem Beitrag „Ambivalente Wahlverwandtschaften: Pierre Bourdieu und Claude Lévi-Strauss“ die unterschiedliche Entwicklungen beider Positionen an: War die strukturalistische Anthropologie Lévi-Strauss´ für Bourdieu zunächst zentraler theoretischer Bezugspunkt, so grenzt er sich mit der Herausarbeitung der eigenen Praxis-Theorie zunehmend von diesem ab. Bourdieus ethnologische Forschungen richten sich gegen vermeintliche „Evidenzen des stark ethnozentrisch verkürzten Menschen- und Weltbildes“ (32); er möchte die konkreten sozialen Kontexte und interessenbedingten Aushandlungsprozesse sozialer Bedingungen in den Blick nehmen.

Andreas Reckwitz („Habitus oder Subjektivierung - Subjektanalyse nach Bourdieu und Foucault“) stellt dem Habitusbegriff von Bourdieu den poststrukturalistischen Subjektbegriff von Michel Foucault gegenüber und leuchtet Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen und Differenzen aus. Beide Autoren sehen die Frage nach der kulturellen Konstitution von Subjekten - einem äußerst umstrittenen Begriff - als zentral an. Reckwitz geht es hier „um ein Ausloten der heuristischen Stärken und Lücken der Forschungsprogramme der Habitus- und Subjektivierungsanalyse“ (42), er fragt, ob beide in die gleiche Richtung orientieren oder eher komplementäre Herangehensweisen bilden.

Reckwitz nennt folgende perspektivische Gemeinsamkeiten beider Autoren:

  1. Das dezentriert und entsubjektivierte Individuum entsteht durch einen Prozess der „Inkorporierung und Interiorisierung kultureller Ordnungen“ (42); dieser Vorgang entzieht sich weitgehend einer bewussten Wahrnehmung.
  2. Ebenso ist die Körperlichkeit des Subjekts kulturell geformt und performativ geprägt.
  3. Subjektkulturen sind folglich kulturell und historisch verankert. Beide Analyseprogramme wirken somit Universalisierungen entgegen und betonen die lokale und historische Kontingenz.
  4. Subjekte sind nicht unabhängig von sozialen Praktiken analysierbar. Herausgebildete Dispositionen und der Vollzug alltäglicher Kulturtechniken lassen sich entsprechend als „doing subject“ (43) analysieren.
  5. Habitusformen (Bourdieu) und Subjektivierungen (Foucault) sind in Machtprozesse verwoben. Obwohl beide Prozesse limitierend wirken, enthalten sie doch einen Anspruch der Kritik, nämlich die Unsichtbarkeit kultureller Festschreibungen aufzubrechen.

Auch wenn Habitus- und Subjektivierungsanalyse aufgrund sehr unterschiedlicher Begrifflichkeiten in verschiedene Richtungen schauen, erscheinen sie in der Vernetzung beider Forschungsstrategien als eine Art Königsweg. Reckwitz verweist aber auf die Desiderata und nennt beispielhaft drei Themen, die eine post-Bourdieu´sche und post-Foucault´sche Subjektforschung zu integrieren hätte: „der Zusammenhang von Subjektivierung/Habitus mit Artefaktkomplexen, die Subjektivierung und Habitusbildung auf der Ebene sinnlicher Wahrnehmung, schließlich jene auf der Ebene von Affekten und Emotionen.“ (57)

Hilmar Schäfer sucht in seinen Überlegungen „Bourdieu gegen den Strich lesen. Eine poststrukturalistische Perspektive“ die gegen Bourdieus Theorie vorgebrachten Kritikpunkte - mit und gegen Bourdieu - in produktive Perspektiven zu übersetzen; er will „die Bourdieu´schen Kategorien von innen heraus einer Revision zu unterziehen.“ (80).

In seiner Abgrenzung zum Strukturalismus Lévis-Strauss´ überwindet Bourdieu Dualismen wie Individuum - Gesellschaft; Denken und Handeln, Körper und Geist. Seine Anerkennung von Körperlichkeit (Habitus, Hexis), die Bedeutung von Zeitlichkeit und seine Perspektive auf Machtverhältnisse treffen sich mit poststrukturalistischen Ansätzen. Den Dialog mit den poststrukturalistischen Positionen hat Bourdieu aber nicht gesucht. Und aus dieser Perspektive wird immer wieder die „Betonung der Statik und Geschlossenheit des Sozialen“ (73) kritisiert, Heterogenität und Mehrdeutigkeiten, Brüche, Verschiebungen von Praktiken und Instabilitäten werden kaum thematisiert.

Schäfer erklärt diese „Überbetonung der Statik sozialer Praxis“ und „Homogenität seiner analytischen Einheiten“ (73) mit dem Interesse Bourdieus, soziale Ungleichheiten erklären zu wollen. Dennoch gilt die von Bourdieu - trotz seiner grundsätzlichen Offenheit für Praxis -angenommene Kohärenz von Identitäten und kollektiven Lebensstilen als Aufhänger für Kritik.

Schäfer fragt nun, wie der offene Charakter von Praxis, zu dem sich Bourdieu immer wieder bekennt, mit seinem eigenen theoretischen Instrumentarium nachhaltiger umgesetzt werden kann. Dafür müsste dieses begriffliche Instrumentarium stärker für Instabilität und Dynamik sozialer Praxis sensibilisiert werden. Gerade der Hysteresis-Doppelcharakter (der für die Beharrungskraft des Habitus ebenso wie für das Scheitern von Praktiken steht) wäre dazu geeignet. Soziale Stabilität dürfte nicht als unhinterfragter Ausgangspunkt und Normalfall zugrunde gelegt werden; vielmehr wären verstärkt „Situationen der Nicht-Angepasstheit von Habitus und Feld“ (80) zu analysieren, also das Koinzidenzverhältnis, bei dem ein harmonisches Verhältnis zwischen Habitus und Feld angenommen wird, wäre verstärkt auf Instabilitäten und Brüche hin zu untersuchen. Auch das Habituskonzept selbst wäre hinsichtlich seiner Wandelbarkeit zu befragen, sowie „jegliche Schließung in Form der Betrachtung von Feldern als kohärente Gebilde zu vermeiden“ (81) sei, was als konzeptionelle Verschiebung gerade der Vielfältigkeit der im Feld ausgetragenen Machtverhältnisse eher gerecht würde.

Schäfer sucht „Bourdieus theoretische Konzepte für eine Anerkennung der Prozesshaftigkeit und Heterogenität von Struktur“ (82) zu öffnen und der Bourdieu´schen „Tendenz zur Überbetonung von Stabilität“ (82) und Homogenität entgegenzuwirken. „Wenn Stabilität stets nur als relative und temporäre Schließung aufgefasst wird, die ständig von Instabilität bedroht ist, könnten Brüche, Verschiebungen, Verlagerungen und Grenzübertritte an den Rändern von Feldern verfolgt und somit die permanente Dynamik der Einheiten sichtbar gemacht werden.“ (82)

Zu Teil II: Praxeologische Analysestrategien

Auch Robert Schmidt will mit Bourdieu über Bourdieu hinausgehen und dessen „oft wenig beachtete epistemologische und reflexive Besonderheiten“ (90/91) herausarbeiten. Er beschreibt in „Die Entdeckung der Praxeographie. Zum Erkenntnisstil der Soziologie Bourdieus.“ die praxeologische Ausrichtung der Soziologie Bourdieus mit einer doppelten negativen Aufgabenstellung: Zum einen sollen „Eigenschaften und Eigentümlichkeiten sozialer Praktiken“ herausgestellt und „eine Konzeption der nicht-theoretischen, praktischen Beziehung zur sozialen Welt“ (91) entwickelt werden, zum anderen bemüht sie sich um „eine Analyse des theoretischen Bezugs auf die soziale Welt“ (91). Entscheidend ist die Differenzerfahrung „zwischen der beobachteten empirischen Wirklichkeit und dem perspektivisch verzerrten Gegenstandsbezug der (..., C.H.) theoretischen Konzepte und Modelle.“ (92) Bourdieu richtet sich mit seiner Theorie der Praxis gegen subjektivistische und objektivistische theoretische Modelle.

Die Temporalität und körperlichen Eigenschaften sozialer Praktiken, häufig unsichtbar oder der bewussten Wahrnehmung entzogen, erschließen sich für Bourdieu negativ. Soziale Praktiken (zu unterscheiden von bewusst vorgenommenen Handlungsweisen einzelner Akteure in anderen soziologischen Ansätzen) versteht Bourdieu als „spielähnliche, emergente Phänomene“ (95). Bourdieus „agent“ (95) steht für eine Dezentrierung des Subjekts - als Gegenbild zu der Annahme eines autonomen Subjekts.

Auch Theorien und theoretische Praktiken müssen empirisch reflektiert und analysiert werden. Obwohl Schmidt eine solche praxissoziologische Empirie der Theorie als bislang noch Desiderat bezeichnet (97), führt Schmidt den Ansatz Bourdieus weiter, der auf Überwindung unproduktiver Spaltungen hinaus will. Er fordert „einen reflexiven modus operandi des empirischen Forschens, der Optiken wechselt, Perspektiven, Standpunkte und theoretische Sehhilfen variiert und (...) über sie verfügt.“ (99) Bourdieu grenzt seine Praxeologie von einer scholastischen Haltung und abgehobenen Kritik ebenso ab wie von „empirisch deskriptiven Bandaufnahmen des krud Gegebenen“ (Bourdieu zit. b. Schmidt 99).

Schmidt verdeutlicht, dass Bourdieus Methodologie ein negatives soziologisches Erkenntnis- und Analyseverfahren ist, das „an den Differenzen zwischen theoretischen Praktiken und theoretisierten Praktiken, zwischen theoretischem Gegenstandsbezug und der Logik der Praktiken des Objektbereichs“ (104) ansetzt, d.h., weit mehr bzw. etwas anderes ist, als eine Sozial- oder Praxistheorie.

Herbert Kalthoff prüft in seinem Text „Social Studies of Teaching and Education. Skizze einer sozio-materiellen Bildungsforschung“ die Bedeutung und Leistungsfähigkeit der Bourdieu´schen Perspektive für heutige soziologische Bildungsforschung. Kalthoff zieht ergänzend zu dessen Bildungssoziologie neuere Forschungsansätze aus den Social Studies of Science and Technology hinzu, um die Materialität schulischer Praktiken und insbesondere deren Artefaktdimension erforschen zu können.

Frank Hillebrandt will im Beitrag „Cultural Studies und Bourdieus Soziologie der Praxis. Versuch einer überfälligen Vermittlung“ die ihm überfällig scheinende Vermittlung beider Ansätze herstellen.

Dabei zeigt er sowohl Parallelen als auch erhebliche Differenzen zwischen den Ansätzen auf, diskutiert Verfeinerungen für beide Forschungsansätze und überlegt abschließend, wie durch diese Überlegungen die Praxistheorie Bourdieus weiterzuentwickeln sei.

Cultural studies - in all ihrer Verschiedenheit - bemühen sich, Sozialität zu erforschen, „indem sie kulturelle Formen identifizieren und die mit diesen Formen verbundenen Praktiken soziologisch erforschen“ (133). Um alltagskulturelle Phänomene zu erforschen, bedienen sie sich auch anderer wissenschaftlicher Disziplinen, wenden sich aber gegen strikte theoretische Vorgaben.

Ebensowenig wie alltagswissenschaftliche Aussagen sind wissenschaftliche Aussagen in der Regel selbstreflexiv. „Deshalb muss sich der praktische Sinn hinter der Praxis der Produktion wissenschaftlicher Aussagen durch radikalen Zweifel auszeichnen.“ (145), „die naive Doxa des common sense (kann, C.H.) nicht einfach durch die Doxa des akademischen common sense“ (Bourdieu zit. b. Hillebrand 146) ersetzt werden. Hinsichtlich dieser grundlegenden Haltung sind Bourdieu und die cultural studies im Einklang.

Für beide Ansätze gilt als zentrale Gemeinsamkeit, dass soziale Praxis als konstruiert und keineswegs als natürlich oder essentiell angesehen wird.

Differenzen gibt es jedoch in der Bewertung und Einordnung konkreter kultureller Äußerungsformen (z. B. Populärkultur) oder der Massenmedien: Bourdieu interessieren Kulturformen vorwiegend hinsichtlich der Reproduktion von Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit. Die Forschungsinteressen der cultural studies richten sich auf subversive Kulturformen und Gegenkulturen als Macht- und Herrschaftskritik, wie sie eben in populären Alltagspraktiken aufscheinen.

Dennoch meint Hillebrand, dass es Bourdieu mit seinem Theorem der symbolischen Gewalt besser gelingt, „die verborgenen Mechanismen der Unter- und Überordnung als stabile Formen der Praxis zu entlarven.“ (150)

Zu Teil III: Mediale Repräsentation und symbolische Gewalt

Sophia Prinz und Mareike Clauss zielen in ihrer Analyse „´A Head for Business and a Bod´ for Sin’. Klasse und Geschlecht im Hollywood-Frauenfilm“ darauf ab, die ihrer Meinung nach in der Bourdieurezeption vernachlässigte Dimension des Bild- und Filminhalts verstärkt in den Blick zu nehmen. Dafür wählen sie zwei Beispiele des mainstream-Hollywood-Frauenfilms: „Stella Dallas“ und „Working Girl“, um an diesen herauszuarbeiten, „welche Formen des weiblichen Klassenaufstiegs als erfolgsversprechend dargestellt werden und welche Strategien demgegenüber als sozial illegitim erscheinen.“ (157) Sie knüpfen dabei sowohl an Heuristiken wie Bourdieus Lebensstilanalyse an wie auch Erving Goffmans „Geschlecht und Werbung“.

Irene Dölling knüpft ihre Überlegungen in „Symbolische Gewalt in aktuellen Diskursen zum Anti- bzw. Neo-Feminismus“ an Bourdieus Sichtweisen von Geschlechterklassifikationen als Formen symbolischer Gewalt an, insofern, als diese habitualisiert (inkorporiert) sind und dadurch natürlich und evident erscheinen. Dölling untersucht zwei prominente Diskurse zum Feminismus, eine konservative Richtung (als HauptvertreterInnen nennt sie Eva Herman, Matthias Matussek und Norbert Bolz) und eine modernisierte Richtung (für diese stehen eine Politikerin wie Silvana Koch-Mehrin oder die Autorin Thea Dorn). Diese scheinbar gegensätzlichen Geschlechterdiskurse (individuelles Glück durch Rückkehr zur natürlichen Bestimmung und heterosexuellen Kleinfamilie versus ein neues weibliches Rollenverständnis durch Vereinbarkeit von Familie und Beruf) treffen sich darin, dass beide an die Selbstverantwortung , Autonomie und Freiheit der Frauen appellieren, „Sozialstaat als übertriebene Ausgestaltung“ (187) zurückweisen und sich von jenen abgrenzen, die die neue weibliche Rolle (in der einen oder anderen Ausgestaltung) nicht annehmen. Dölling sieht die symbolische Gewalt vor allem darin, wie „altbekannte Denkmuster der modernen Geschlechterbeziehung der ´postindustriellen Moderne´ reproduziert werden“ (188) - was zugleich mit einer Abwertung des "alten" Feminismus einhergeht -, ohne deren Eingebundensein in Macht- und Herrschaftsverhältnisse kenntlich zu machen.

Carsten Keller untersucht die „Mediale Konstruktion des Fremden: Die französische Banlieue im Spiegel von Berichterstattung und popkulturellen Darstellungen“. Keller beschreibt die Sicht, das Vorgehen und die Wirkungen der Medien als Formen symbolischer Gewalt und ihrer symptomatischen Verkennung. Die Banlieues werden in den Medien als problematische Orte der Gewalt, des Elends und der Armut, also als Orte des Andersseins und der Minderheiten dargestellt. Durch diese selektive mediale Repräsentation (Sprache, Rahmung, Selektion) erscheinen die Banlieues als sehr homogen und gefährlich und werden zu Projektionsflächen der Angst und des Fremden.

Zu Teil IV: Kunst zwischen Hoch- und Populärkultur

Für seinen Aufsatz „Kunst-Kunst, Street Art und ´Kreativität´. Annäherungen mit Hilfe von Feld- und Systemtheorie“ unterzieht Ulf Wuggenig den Feld- und den Kreativitätsbegriff einer kritischen Prüfung. Er stellt heraus, dass Bourdieu mit seiner Feldtheorie Machtstrukturen benennen möchte und Strukturen aufzeigt, die über die Formen der Interaktion zwischen den im künstlerischen Feld Beteiligten entscheiden. Wenn Bourdieu eine Autonomie des künstlerischen Feldes fordert, sieht er diese zunehmend durch Einwirkungen der politisch und wirtschaftlich Herrschenden und die Heteronomisierung des Kunstfeldes bedroht: Sponsoring, ästhetischer Populismus und die Übernahme ökonomischer Modelle für das Kunstfeld, die Bourdieu als eine „neoliberale Invasion“ attackierte.

Wuggenig reflektiert die Phänomene Street Art und Graffiti unter feld- und systemtheoretischen Gesichtspunkten und hält letztendlich Bourdieu zugute, dass „es sich bei der Autonomisierung von Feldern der kulturellen Produktion um Versuche handelt, den Freiheitsspielraum gegenüber den herrschenden Herrschenden, sei es im Machtfeld, sei es in einem etablierten Feld der kulturellen Produktion, zu erobern oder zu erweitern.“ (246)

Nina Tessa Zahner belegt in Ihrem Text „Die heterogene Praxis des Ausstellungsbesuchs im zeitgenössischen Kunstfeld. Eine Herausforderung für die Kulturtheorie Pierre Bourdieus?“, dass das Bourdieu´sche Instrumentarium für ein tiefergehendes Verständnis des Kunstausstellungsbesuchs in der Gegenwart anwendbar erscheint, wenn auf seine strukturalistisch und normativ angelegte Engführung hinsichtlich der Rezeption künstlerischer Arbeiten verzichtet wird. Es geht in diesem Beispiel (Ausstellungsbesuch) um eine komplexe kulturelle Praxis („wer warum welche Ausstellung wie besucht“ (253)), von der Zahner Aufschlüsse “ hinsichtlich der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit im Rahmen kultureller Partizipation“ (255) erwartet.

Zu Teil V: Postkolonialismus und Globalisierung

Jens Kastner lenkt in seinem Beitrag „Koloniale Klassifikationen. Zur Genese postkolonialer Sozialtheorie im kolonialen Algerien bei Frantz Fanon und Pierre Bourdieu“ den Blick auf Gemeinsamkeiten zwischen beiden, die er sowohl hinsichtlich der wissenschaftlichen Arbeit als auch in der antikolonialen Haltung aufzuzeigen versucht. Kastner hält beides auch für heutige Diskurse um Postkolonialismen für relevant und macht seine Zusammenschau an vier theoretischen und methodischen Parallelen zwischen Bourdieu und Fanon fest:

Bei beiden wird die beobachtete koloniale Situation während ihres Algerienaufenthalts zur Grundlage zentraler theoretischer Annahmen über gesellschaftliche Verhältnisse und den sozialen Raum.

Beide stehen zu ihrer wissenschaftlichen Parteilichkeit und beider Schaffen ist durch diese Haltung und ein Differenzdenken geprägt. Beide verstehen gesellschaftliche Entwicklung als Kämpfe zwischen sozialen Kräften. Bourdieu als Ethnologe und Fanon als Psychologe richten ihren sozialwissenschaftlichen Blick auf alltägliche Praktiken, die vielen und vielschichtigen Ungleichheiten und beide leiten aus diesen Beobachtungen ein „Paradigma des Kampfes“ (279) ab.

„Fanon wie Bourdieu leisten eine Herrschaftsanalyse, die der Verkörperlichung gesellschaftlicher Machtverhältnisse eine Rolle zuweist (..., C.H.) und ohne die auch eine heutige, postkoloniale Kritik kultureller Herrschaft nicht auskommt.“ (279) Beide thematisieren die Macht des Blickes für die Konstituierung ethnischer Zugehörigkeit und die Wirkungsweise kultureller Herrschaft. Dieser Bereich der mikropolitischen Deutungs- und Umdeutungsprozesse wurde bislang eher vernachlässigt, weil er eine alltägliche, meist unbewusste Praxis ist.

Boike Rehbein vertritt in seinem Text „Bourdieu und die Globalisierung“ die Ansicht, dass Bourdieu „einer wissenschaftlichen Analyse der neuen Weltordnung den Weg geebnet“ (314) hat, wenngleich dessen (in den 1980er Jahren entstandener) Begriff von Globalisierung gemessen an der heutigen Entwicklung sehr eng und überholt erscheint. Dennoch, Bourdieu hat die wichtige Rolle symbolischer Herrschaft betont und den Kapitalismus als symbolisches Projekt benannt. Dies bietet weiterhin gute Anknüpfungspunkte für ein Globalisierungsverständnis, auch wenn inzwischen andere und neue Spielfelder (der globale Süden z.B.), Symbole und Spielregeln (z.B. Süd-Süd-Vereinbarungen) entstanden sind (315).

Zu Teil VI: Vernunftkritik und Reflexivität

Andreas Langenohl unternimmt in seinem Beitrag „Die Reflexivität Pierre Bourdieus: Soziologische Objektivität wider die Kulturwissenschaften“ eine kritische Rekonstruktion von dessen Reflexivitätsverständnis, aus der Langenohl auch auf Bourdieus Verhältnis zu den Kulturwissenschaften zu schließen versucht. Bourdieus Konzept der Reflexivität gehört als spezifische Zeitdiagnose zur Theorie der Moderne. Sie bezeichnet eine „Lehre der triadischen Wechselbeziehung zwischen methodischen Praxen, Forschungsgegenständen und der sozialen Position des Forschers“ (321) (Bourdieus Ausdruck: „Objektivierung des objektivierenden Subjekts“ (zit. bei Langenohl 321)). Gerade die Vertrautheit mit der Welt verhindere, dass das Forscher-Subjekt seine eigene gesellschaftliche Produziertheit durchschaue und andererseits verhindere die Reflexion der eigenen wissenschaftlichen Praxis keinesfalls, dass objektive Erkenntnis gesellschaftlicher Prozesse möglich ist. Gerade letzteres wird von Langenohl als Schwachstelle in Bourdieus Reflexivität genannt: sie sei ein „höchst problematischer Ausschlussmechanismus gegenüber Fragen, die das Außen der Moderne als Bestandteil der Moderne betreffen und mittlerweile bevorzugter Gegenstand kulturwissenschaftlicher Untersuchungen“ (335) sind. Die entscheidende Frage bleibt, „was jeweils als Bedeutung stiftend angesehen wird und wie das Außen von Bedeutung jeweils gedeutet wird.“ (336)

Daniel Šuber setzt seinen Text „Pierre Bourdieu und die Relativierung der Vernunft“ an Bourdieus häufiger Bezugnahme auf eine „Radikalisierung und Rationalisierung der Kritik“ (Bourdieu zit. b. Šuber 341) an und stellt diese der Konzeption „Kritik der historischen Vernunft“ von Wilhelm Dilthey gegenüber. Beide Theoretiker vertreten eine relativistische Welt- und Wissenschaftsauffassung, beide sehen ihr sozio-historisches Eingebettetsein als für die wissenschaftliche Erkenntnis konstitutiv.

Diskussion und Fazit

Den Herausgebern ist eine äußerst interessante und inspirierende Zusammenstellung verschiedener Facetten einer kulturwissenschaftlich orientierten Lesart von Bourdieu gelungen. Jeder dieser interessanten Beiträge verdiente eine eigene Würdigung.

Zwischen Bourdieu und den Kulturwissenschaften werden klare Differenzen, aber auch interessante Annäherungspunkte und Parallelen ebenso aufgezeigt, wie auch neue soziologische Forschungsdesiderata benannt.

In der Sozialen Arbeit wird gerne mit den Schließungen in Bourdieus Theoremen bzw. gerade wegen seiner vermeintlich klaren Setzungen gearbeitet. Hier liegt nun ein ganzer Blumenstrauß mit kreativen Weiterentwicklungen und Öffnungen der Bourdieu´schen Methoden und Konzepte vor, die Bourdieus Sozialtheorie für aktuelle Diskurse fruchtbar machen (mit Bourdieu über Bourdieu hinaus) und ihn und seine Theorie davor bewahren, mit seinem Lebensstiluntersuchungen in Beton gemeißelt zu werden und diese zu festen Klassifikationen gerinnen zu lassen.

Ein sehr anregendes Buch!

Rezension von
Prof. Dr. em. Christel Hafke
em. Professorin der Fachhochschule Emden, lehrte schwerpunktmäßig im Bereich Kultur/Ästhetik/Medien, Soziologie und Ethik
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Es gibt 25 Rezensionen von Christel Hafke.

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ISSN 2190-9245