Nils Neuber (Hrsg.): Informelles Lernen im Sport
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 19.11.2010

Nils Neuber (Hrsg.): Informelles Lernen im Sport. Beiträge zur allgemeinen Bildungsdebatte. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 279 Seiten. ISBN 978-3-531-17009-1. 29,95 EUR.
Thematischer Rahmen
In der aktuelleren Bildungsdebatte rücken neben formalen Bildungsmodalitäten – unter anderem forciert auch durch die Überlegungen im 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (2005) – immer mehr non-formale und informelle Lernprozesse in das Zentrum der Erörterungen. Vor dem Hintergrund sich modernisierender Gesellschaften erscheint vor allem das Jugendalter und die Gleichaltrigengruppe Jugendlicher geradezu prädestiniert für non-formale und informelle Lernprozesse. Dabei spielten Bewegung, Spiel und Sport bislang meist nur eine randständige Rolle, obgleich der organisierte Sport (der Deutsche Olympische Sportbund, die Landessportbünde, die örtliche Sportvereine und -organisationen) doch nicht müde werden, für sich zu reklamieren, dass Sport zu den häufigsten und wichtigsten Freizeitaktivitäten junger Menschen zähle. Immerhin geben 29% der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren an, in Vereinen Sport zu treiben, und 28% dieser Altersgruppe gehen einem Freizeitsport nach (Shell-Jugendstudie 2010, S. 96).
Informelles Lernen im Sport nennt Nils Neuber, der Herausgeber des vorliegenden Bandes, „ein vernachlässigtes Feld der Bildungsdebatte“, und ihm kann damit weitgehend, gefolgt werden, nehmen sich doch entsprechende Publikationen hierzu eher rar aus (z. B. Beckers, E.: Renaissance des Bildungsbegriffs in der Sportpädagogik? In: Prohl, R. [Hg.], Bildung und Bewegung, Hamburg 2001, S. 29 – 42; Brandl-Bredenbeck, H. P., u. a.: Kinder- und Jugendsport; in: Haag, H., und Strauß, B. [Hg.], Themenfelder Sportwissenschaft, Schorndorf 2006, S. 113 – 129): Auch die Feststellungen des 12. Kinder- und Jugendberichts – „Dem Sport wird insgesamt eine maßgebliche Bildungswirksamkeit zugesprochen, die zunächst die unmittelbar körperbezogenen Kompetenzen …, aber auch nicht unmittelbar sportbezogene Kompetenzen im sozialen, politischen und kognitiven Bereich einschließt (Teamfähigkeit, Selbstvertrauen, Selbstorganisation, Verantwortungsfähigkeit)“ (S. 376) – haben daran bislang wenig geändert. Selbst das UN-Jahr des Sports 2005, das dezediert den Zusammenhang von Sport, Bildung und gelingendem Leben in den Mittelpunkt zu rücken versuchte (mit der Sprachregelung: „Sport und Leibeserziehung vermitteln entscheidende Werte und Fertigkeiten, darunter Selbstvertrauen, Teamfähigkeit, Fairness, Integration, Disziplin, Respekt und Dialogfähigkeit. Sport mindert Depressionen. Sport und Leibeserziehung erhöhen Lernfähigkeit, Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit von Kindern, denn beim Lernen durch Spaß und Interaktion fällt das Lernen leichter. […] Sport ist ein enorm wichtiger Bestandteil qualitativ hochwertiger Bildung und Erziehung und des lebenslangen Lernens“), scheint hierzulande eher ungehört verhallt zu sein.
Herausgeber
Dr. Nils Neuber ist Professor am Institut für Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Leiter des dortigen Arbeitsbereichs „Bildung und Unterricht im Sport“. Gemeinsam mit Maud Hietzge hat er 2009 den Band „Schulinterne Evaluation“ (vgl. die Rezension) herausgegeben. Zusammen mit Meike Breuer, Ahmet Derecik, Marion Golenia und Florian Wienkamp (und damit bis auf Breuer Autor/inn/en des vorliegenden Bandes) hat er im Juli 2010 im VS-Verlag auch den Band „Kompetenzerwerb im Sportverein" herausgebracht.
Inhalt
Dem Sport im Verein mit seiner – bildungstheoretisch gesprochen – „non-formalen Grundstruktur“ und einem „mittleren Grad an Lenkung und Kontrolle“ und dem selbstorganisierten Sport („informelle Grundstruktur“ mit „geringem Grad an Lenkung und Kontrolle“) attestiert Neuber ein „hohes Potenzial für informelle Lernprozesse“ (S. 22). Dieser Blick auf Bildungsprozesse im Sport durchzieht den vorliegenden Band maßgeblich, unbeschadet seiner Dreiteilung, nach der zunächst relevante Diskussionserträge der allgemeinen Jugendforschung (1.) und im zweiten Teil der speziellen (jugend-) sportwissenschaftlichen Debatte referiert werden (2.), während im dritten Teil die Befunde von sieben Studien zur Vorstellung kommen, die in entsprechenden Forschungsvorhaben im Umfeld des Herausgebers entstanden sind (3.):
- Zunächst diskutiert Bernd Overwien den Begriff des informellen Lernens in seinen historischen und bildungspolitischen Bezügen, um dann Definitionen vorzustellen und einen exemplarischen Überblick über internationale und deutsche Studien zum informellen Lernen zu geben. Er spricht sich für eine stärkere Vernetzung verschiedener Arten des Lernens aus und sieht dabei zum Beispiel Chancen in den Konzepten der offenen Ganztagsschule. Wiebken Düx und Thomas Rauschenbach wenden sich anschließend dem informellen Lernen im Jugendalter zu und widmen sich insbesondere vier sog. „Lernsoziotopen“, an denen sie informelle Bildungsprozesse exemplifizieren: Computer und Internet, Familie, Gleichaltrigengruppe sowie zivilgesellschaftliches Engagement (S. 53ff); an diesem letztem Punkt sind Bezüge insbesondere zu der von Düx und anderen herausgebrachten Untersuchung zum zivilgesellschaftlichen Engagement junger Menschen unübersehbar (vgl. Kompetenzerwerb im freiwilligen Engagement, Wiesbaden 2008, vgl. die Rezension). Mit dem ihm eigenen Fokus einer sozialräumlichen Orientierung nähert sich Ulrich Deinet (vgl. u. a.: Methodenbuch Sozialraum, Wiesbaden 2009, vgl. die Rezension) abschließend den Bildungsprozessen Jugendlicher an öffentlichen Orten und Räumen (S. 79ff).
- Im Rückgriff auf das im 12. Kinder- und Jugendbericht entwickelte Bildungsverständnis „übersetzt“ Rüdiger Heim diesen Bildungsbegriff – als Zusammenspiel von Bildungsorten und Bildungsmodalitäten und expliziten bzw. impliziter Bildungsprozesse – auf den Sport außerhalb von Schule (S. 103ff), Hans Peter Brandl-Bredenbeck macht auf die Zusammenhänge zwischen Bewegung, Bildung und Identitätsentwicklung in Kindheit und Jugendalter hin (S. 117ff) und Sebastian Braun wendet sich dem Zusammenhang von Bildung, Zivilgesellschaft und organisiertem Sport zu, wobei er sich für eine – in anderen Handlungsfeldern wohl schon als „Standard“ geltenden - engagementpolitische Konzeption im organisierten Sport ausspricht (S. 133ff).
- Einen besonderen Reiz gewinnt die Publikation freilich ohne jeden Zweifel durch die sieben Studien: Zunächst geht zum Beispiel Ahmet Derecik in seiner Studie Aspekten informellen Lernens in einer Ganztagsschule nach: Bewegungsaktivitäten an Tischtennisplatten nimmt er zum Anlass, um Formen der Raumaneignung von Kindern und Jugendlichen zu rekonstruieren (S. 155). Nils Neuber und Florian Wienkamp betrachten die schulische Teilhabe von freiwilligen Sporthelfer/inne/n näher: die Verschränkung von informellen und formalen Lernprozessen eröffnet sportbezogene neue Kanäle des innerschulischen Demokratielernens, wobei sich zwölf Felder identifizieren lassen, die zur Ausbildung einer „demokratischen Handlungskompetenz“ (S. 179) beitragen (S. 173ff). Marion Golenia und Nils Neuber sehen sich mit ihrer Studie zum informellen Lernen im Sportverein bestätigt, dass die sportfachlichen Arrangements vielfältige Optionen zum Kompetenzerwerb Jugendlicher bieten, und beschreiben fünf Handlungssituationen („Erfolg anstreben“, „mit Heterogenität umgehen“, „gemeinsam handeln“, „Verantwortung übernehmen, „mit dem Trainer interagieren“), die hierfür von besonderer Bedeutung sind (S. 189ff). Tim Bindel schließlich (S. 267ff) erweitert mit seiner ethnografisch inspirierten Studie über eine Streetbasketball- und eine Fußballgruppe den Blick auf die spezifischen Modalitäten des informellen Lernens im selbstorganisierten Sport und zeigt, wie er es nennt, „wie spielerisch die sozialen Grenzen genommen“ werden, sind doch diese selbstorganisierten Sportformen nicht „bloß“ Sporträume, sondern „komplexe Sozialräume“, in denen sich die Jugendlichen kompetent entwickeln und bewegen (S. 278). Die übrigen Studien wenden sich dem informellen Lernen erwachsener Funktionsträger in Vereinen (S. 211ff), dem Kompetenzerwerb im Rahmen der Helfer/innen-Ausbildung (S. 227ff) und Lernprozessen im Sportverein (S. 245ff) zu.
Zielgruppen
Dem Verlag zu Folge wendet sich der Band an Studierende und Dozent/inn/en der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Soziale Arbeit (Sozialpädagogik) an Universitäten und (Fach-) Hochschulen sowie an Erziehungswissenschaftler/inn/en und Soziolog/inn/en bzw. Lehrer/inn/en und Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Das ist ein arg weit gespannter Bogen. Im Kern dürften doch die Botschaften des Bandes insbesondere für die am akademischen Diskurs um und über Bildung Engagierten von Belang sein.
Diskussion
Der vorliegende Band versucht, dabei zu helfen, die (oben) skizzierte Lücke in der bildungstheoretischen Debatte zu schließen: Es werden Ansätze der allgemeinen Jugendforschung, der politischen und der sozialräumlichen Bildung sowie sportwissenschaftliche Arbeiten vorgestellt, dem Vereinssport eigene Bildungspotenziale eingeschätzt, Chancen der Identitätsentwicklung junger Menschen reflektiert und der informelle Kompetenzerwerb im Gewand des zivilgesellschaftlichen (bürgerschaftliches) Engagement in sportlich geprägten Kontexten diskutiert.
Dabei ist der Zugang auf den ersten Blick etwas sperrig. Das mag an der Thematik liegen. Aber auch der eine oder andere Ansatz macht es nicht eben leicht, sich die Beiträge zu erschließen. So braucht zum Beispiel Ahmet Derecik in seinem Aufsatz ganze acht Seiten, bis er zu dem auf zwei Seiten ausgebreiteten methodischen Zugang kommt, dem dann auf sechs Seiten die Resultate seiner Untersuchung folgen (und, es sei wiederholt, er ist damit kein „Einzelfall“). Hier wäre weniger sicher mehr gewesen. Das ist bedauerlich, denn auch diese Studie weiß mit interessanten Hinweisen zum Umgestaltung des Sportraumes um einige in einer Schule installierten Tischtennisplatten in einen Kommunikationsraum – und damit einer zum Beispiel für informelle Lernprozesse vielfältig interessanten Neudeutung sportlicher Settings (vgl. S. 165ff) – aufzuwarten. Auch andere Beiträge bleiben mit der Ausbreitung der Befunde sparsam hinter allgemeinen, einführenden Betrachtungen und Ausführungen zur Methode zurück. Einzelne Beiträge (z. B. Tim Bindel) wissen durch eine aufmerksame Beobachtung und anregende Schreibung zu überzeugen.
Auch an einer Bilanzierung, einer wünschenswerten Zusammenfassung im Blick auf künftige Praxisgestaltung fehlt es dem Band; daran ändert auch das Vorwort des Herausgebers nicht allzu viel: Wohin geht die „Reise“, welche Schlussfolgerungen für den organisierten Sport sind – jenseits des akademischen Diskurses – zu ziehen? Es wirkt doch so, als hätten sich die sportfachlich ausgewiesenen Autor/inn/en und Studienschreiber/innen dieser Zuspitzung nicht stellen wollen. Damit ergibt sich die (oben erwähnte) Einschränkung möglicher Zielgruppen, insbesondere solcher Akteur/inn/e/n, die an der unmittelbaren Gestaltung von Bildungsprozessen direkt teilhaben, zum Beispiel als Verantwortlichen in Sportvereinen und -verbänden.
Fazit
Sieht man von diesem (vermeidbaren?) Problem und Mangel einmal ab, dann bietet der Band von Neuber viel Erhellendes, sich Sport als Bildungsort vorstellen und entsprechende Bildungsprozesse (zum Beispiel in Formen Sozialer Arbeit, sei es in der Kinder- und Jugendhilfe allgemein oder der Schulsozialarbeit im Besonderen) initiieren und begleiten zu können.
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
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