Minke Weggemans: Geschwistertod
Rezensiert von Mag. Dagmar Bojdunyk-Rack, 15.11.2010
Minke Weggemans: Geschwistertod. Leben mit einem schweren Verlust. Kösel-Verlag (München) 2010. 205 Seiten. ISBN 978-3-466-30843-9. D: 16,95 EUR, A: 16,40 EUR, CH: 28,90 sFr.
Thema
Die Autorin beschäftigt sich in ihrem Buch mit dem Thema Geschwistertod. Es kommen Personen zu Wort, die unabhängig von ihrem Alter und dem der Verstorbenen ihre Geschwister verloren haben. Ihre besondere, vom sozialen Umfeld oft nicht wahrgenommene und gewürdigte Trauer erhält ein Gesicht.
Autorin
Minke Weggemans arbeitet als Therapeutin in den Niederlanden und begleitet Gesprächsgruppen und Trauernde. Die Autorin selbst wuchs in einer Familie mit zehn Kindern auf, von denen mittlerweile fünf verstorben sind.
Entstehungshintergrund
Die Trauer von Geschwistern über den Tod ihres Bruders/ihrer Schwester ist gesamtgesellschaftlich nicht erforscht und gilt als irrelevant für das persönliche Leben. Durch ihre eigenen Verlusterlebnisse geprägt, befragt Minke Weggemans Menschen zu ihren eigenen Erfahrungen zu dem Thema und verwebt diese Aussagen lebendig mit dem fachlichen Inhalt.
Aufbau
Das Buch besteht aus 10 Kapiteln.
In den einzelnen Abschnitten setzt sich die Autorin zuerst mit der Geschwisterbeziehung allgemein auseinander. Darauf aufbauend geht es um den Verlust der Schwester/des Bruders in den verschiedenen Lebensphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsene), die Gefühle und Gedanken beim Sterben und nach dem Tod der Schwester/des Bruders und um die Auswirkungen auf das eigene Leben. Ein Abschnitt ist den Veränderungen in der (Stamm)Familie gewidmet. Der Trauerprozess – inklusive der verschiedenen Möglichkeiten der Begleitung dabei - und letztendlich das Leben nach/mit dem Verlust runden das Buch ab.
Inhalt
1. Kapitel. Die Autorin thematisiert in diesem Abschnitt den Verlust einer Schwester/eines Bruders im Allgemeinen und den damit verbundenen nicht anerkannten Kummer. Die Trauer bleibt für das Umfeld meist unbemerkt. Der Begriff „nicht anerkannter Verlust“ wird dann verwendet, wenn damit keine sozialen Gebräuche oder Rituale bekannt sind.
2. Kapitel. Hier beschäftigt sich die Autorin mit den Beziehungen zwischen Geschwistern in jedem Lebensalter. Die Beziehung zwischen Bruder und Schwester ist die am längsten währende Beziehung, die man im Leben haben kann. Es verbindet die gemeinsame Geschichte, die gemeinsamen Erinnerungen. Dass diese Beziehung meist nicht ungetrübt ist, wird deutlich gemacht. Der Bindung sollte jedoch ein Platz im Leben eingeräumt werden, da diese immer emotional relevant ist.
3. Kapitel. Das Sterben der Schwester/des Bruders hat starke persönliche Auswirkungen, dieser Tod kommt einem sehr nahe. Wenn ein Mensch aus demselben „Fleisch und Blut stirbt“, hätte es auch einen selbst treffen können.
4.
Kapitel. Das
Lebensalter, in dem der Tod der Schwester/des Bruders passiert ist
entscheidend für das Erleben und Verarbeiten.
Kleine
Kinder verstehen den Tod eines Angehörigen noch nicht. Sie haben
das Bedürfnis nach Beruhigung und Begleitung inmitten der
heftigen Emotionen rundherum. Kinder nehmen die Trauer der Umgebung
jedoch emotional auf, Eltern erscheinen plötzlich schwach und
hilflos. Neben dem Verlust des Geschwisters verliert das Kind auch
etwas von den Eltern und seiner Grundsicherheit.
Jugendliche
scheinen nach außen hin unberührter vom Tod ihrer
Schwester/ihres Bruders zu sein. Ihr Leben soll der Außenwelt
so schnell wie möglich wieder normal erscheinen. Sie gelten als
die stillen
Trauernden.
Ihnen fällt häufig die Rolle der TrösterIn der Eltern
zu.
Als Erwachsene kann man den Tod des Geschwisters
möglicherweise leichter verarbeiten, wenn man eine eigene
Familie hat als in der Zeit, in der die Kinder gerade ausgezogen
sind.
5.
Kapitel. Hier setzt sich das
Buch mit der Trauer um die Schwester/den Bruder auseinander. Zu
Beginn ähnelt die Trauer am meisten einer akuten körperlichen
Krankheit. Heftige Gefühle sind unvermeidlich. Schuldgefühle
begleiten den Trauernden über einen langen Zeitraum.
Die
wenigen Studien zu diesem Thema zeigen, dass Brüder weniger
Probleme mit dem Tod eines Geschwisters haben als Schwestern. Die
Gesundheit und das gesellschaftliche Funktionieren von Männern
werden weniger in Mitleidenschaft gezogen. Die naheliegende Erklärung
ist jedoch, dass Männer anders mit ihrem Kummer umgehen, weniger
darüber reden und sich emotional verschließen.
6. Kapitel. Der Tod eines Geschwisters hat immer Auswirkungen auf den/die Betroffene/n. Es ist ein Bruch und einschneidendes Erlebnis in der Biographie. Das Leiden des Selbstwertgefühls ist nur ein Teil des Prozesses, ein (zum Teil) anderer Mensch zu werden.
7.
Kapitel. Die Veränderungen
in der Stammfamilie sind sehr groß. Die Familie ist nicht mehr
vollzählig, sie ist nicht mehr dieselbe Familie wie zuvor. Der
Platz in der Geschwisterabfolge ändert sich, die Rolle innerhalb
der Familie kann verändert sein. Die Anteilnahme der Umwelt ist
auf die Eltern fokussiert.
Oft zeigt sich, dass
Geschwister nach dem Tod einer Schwester/eines Bruders nicht in der
Lage sind, sich gegenseitig zu unterstützen, da jeder mit den
eigenen Gefühlen beschäftigt ist. Für die Zukunft der
Familie ist es wichtig, dass die Geschwister Aufmerksamkeit
füreinander zeigen und die Kontakte untereinander neu zu
knüpfen.
8.
Kapitel. Das
wichtigste Element im Prozess des Trauerns ist die Kommunikation
darüber. Nicht erkannte oder geäußerte Trauer vergeht
nicht von selbst, sondern kommt an anderen Orten zum Vorschein.
Wenn man Zweifel hat, ob man bei sich selbst von einem
Trauerprozess
in Bezug auf den Verlust einer Schwester/eines Bruders sprechen
möchte, findet man in diesem Abschnitt auch einen Fragebogen
dazu.
9. Kapitel. Hier findet die LeserIn die verschiedenen Möglichkeiten der Unterstützung in einem Trauerprozess. Diese reichen von PartnerInnen über FreundInnen bis zu Therapien, Gesprächs-/Trauergruppen bis zu Workshops.
10. Kapitel. Die Autorin behandelt zum Schluss das Weiterleben mit dem Verlust.
Diskussion
Der Aufbau des Buches ist übersichtlich. Die theoretischen Aspekte sind mit den praktischen Fallbeispielen gut verknüpft.
Wie die Autorin erwähnt, gibt es leider nicht viele Studien, die sich mit dieser Fragestellung auseinandersetzen.
Das Buch ist vor allem für Betroffene zu empfehlen. Fachkräfte, die im Beratungskontext mit dem Thema konfrontiert sind, bekommen einen ersten Einblick in die Problematik.
Fazit
Dieses Buch ist meiner Meinung nach eine gute Grundlage, um sich mit dem Thema des Todes von Geschwistern auseinanderzusetzen. Es kann Betroffenen eine große Hilfe sein, da die LeserIn das Gefühl bekommt, nicht alleine mit den Gedanken und Gefühlen zum Tod eines Bruders/einer Schwester zu sein. Betroffene können sich dadurch verstanden fühlen.
Für BegleiterInnen, BeraterInnen und TherapeutInnen ist es eine Grundlage, um sich prinzipiell mit diesem Thema zu beschäftigen und die Erfahrungen in die Begleitung von Betroffenen einfließen lassen zu können.
Aus fachlicher Sicht ist der Trauerprozess korrekt beschrieben. Das Buch ist äußerst leicht lesbar und sehr praxisorientiert. Allerdings schießt die Autorin auch über das Ziel hinaus, indem der Tod eines Bruders/einer Schwester als das schlimmste Verlustereignis im Leben dargestellt wird.
Rezension von
Mag. Dagmar Bojdunyk-Rack
Geschäftsführerin RAINBOWS-Österreich
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Es gibt 17 Rezensionen von Dagmar Bojdunyk-Rack.
Zitiervorschlag
Dagmar Bojdunyk-Rack. Rezension vom 15.11.2010 zu:
Minke Weggemans: Geschwistertod. Leben mit einem schweren Verlust. Kösel-Verlag
(München) 2010.
ISBN 978-3-466-30843-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10107.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
Urheberrecht
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