Hans Georg Ruhe: Methoden der Biografiearbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Harro Kähler, 05.08.2003
Hans Georg Ruhe: Methoden der Biografiearbeit. Lebensspuren entdecken und verstehen.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2003.
2. Auflage.
152 Seiten.
ISBN 978-3-407-55882-4.
14,50 EUR.
Reihe: Edition sozial.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7799-2084-7 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Biografiearbeit - ein Modethema?
Veröffentlichungen über Biografie- und Erinnerungsarbeit haben Konjunktur. Angesichts zunehmend unübersichtlich werdender Lebensbedingungen wächst offenbar das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Insbesondere bezogen auf alte Menschen und hier wiederum bestimmte Teile wie an Demenz erkrankte Personen, aber auch bezogen auf Kinder und Jugendliche nehmen die Angebote des Buchmarktes zum Thema Biografiearbeit zu. Eine Suche allein bei den in den letzten zwei Jahren bei www.socialnet.de/rezensionen veröffentlichten Rezensionen ergibt eine Vielzahl von Hinweisen auf aktuelle Veröffentlichungen. - In diese Entwicklung passt auch das hier vorzustellende Buch, das in neu ausgestatteter und korrigierter zweiter Auflage auf einen offensichtlich bestehenden Bedarf bei professionellen Helferinnen und Helfern nach Anregungen und Methoden für die Biografiearbeit reagiert.
Der Autor
Hans Georg Ruhe wird im Klappentext als M.A. und diplomierter Sozialarbeiter vorgestellt, der als Referent an der Akademie der Diözese Hildesheim in Goslar mit Schwerpunkt berufsbezogener Fortbildung und als Organisationsberater tätig ist.
Was Leserinnen und Leser nicht erwarten dürfen
Der Autor hat alle Überschriften mit "oder:" eingeleitete Alternativformulierungen ergänzt. Beispielsweise gibt es ein Kapitel mit der Überschrift "Methoden oder: Traue keinen Büchern". Das gilt offensichtlich auch für den Autoren - dieses Buch ist keine Einführung in die Literatur über Biografiearbeit oder gar der Versuch einer theoretischen Begründung biografischen Arbeitens auf der Basis des vorhandenen breiten Literaturfundus. Zwar gibt es ein Literaturverzeichnis mit Hinweisen auf weiterführende Materialien - doch stellt diese Sammlung eine sehr subjektive und eingeschränkte Auswahl dar - so fehlen beispielsweise die ausgesprochen wichtigen Arbeiten von Sylvia Kade zur Biografiearbeit.
Was Leserinnen und Lesererwarten dürfen
"Menschen müssen sich ihrer selbst vergewissern, müssen einen Platz finden, der eine Begründung für ihre Vergangenheit und eine Legitimation für ihre Zukunft hergibt. Dort, wo dies immer weniger gelingt, sind 'Hebammen' notwendig, d.h. Helferinnen und Helfer, die deutlich machen: 'Du wirst gebraucht mit einen kleinen Erfahrungen und deinem großen Schicksal. (...)' Sie stützen die kleinen und großen Geschichten und helfen ihnen an die Oberfläche." (S. 9/10). Das Buch bietet ein breites Spektrum an Anregungen für diese Hebammen-Tätigkeit - ohne dass die Zielgruppen näher abgegrenzt werden. Aus der Sammlung der vorgestellten Methoden lässt sich indirekt erschließen, dass sehr unterschiedliche Anwendungsbereiche in Frage kommen. Die Entscheidung darüber, welche Methode von welchen Helferinnen und Helfern bei welchen Zielpersonen in welcher Ausführung in Frage kommen, bleibt weit gehend den Nutzerinnen und Nutzern des Buchs überlassen. Insofern kann das Buch als Steinbruch angesehen werden, aus dem jede/r nach Belieben geeignet erscheinende Biografiemethoden herausbrechen kann.
Aufbau und Inhalte
Eingebettet in kurze einleitende Kapitel zu Beginn und einem Glossar wichtiger Fachbegriffe am Ende stellt das Buch im Kern eine umfangreiche Sammlung von 75 Methoden der vor. Die Auswahl geeigneter Methoden soll dadurch erleichtert werden, dass jeder Methode eine Orientierungsleiste beigefügt ist, auf der die jeweilige Methode nach drei Merkmalsbereichen charakterisiert ist:
- Ausgangskonstellation: Ich/Paar, Gruppe oder Projekt
- Funktion der Methode (der Autor spricht von "Tiefungsmöglichkeiten"): Besinnung, Begegnung, Bildung, Krise)
- Verwendungszusammenhang (Biografie, Sozialgeschichte, Zeitgeschichte)
Der Autor verweist selbst mit Recht darauf hin, dass diese Einteilung nicht trennscharf ist. Es kommt natürlich auch vor, dass innerhalb eines Merkmalsbereichs mehr als eine Möglichkeit angegeben ist. Immerhin erweisen sich diese Kurzcharakteristika als hilfreich bei der Suche nach bestimmten Methoden. Ein Beispiel: Die Methode "Stammbaum" wird auf der Leiste charakterisiert als 1. Ich/Paar, 2. Besinnung, 3. Biografie. Ich weiß also als Leser von vornherein, dass diese Methode in der direkten Arbeit mit einzelnen Personen zur biografischen Besinnung anwendbar ist.
Jede Methode wird zunächst jeweils fett gedruckt übersichtlicht vorgestellt, Beispiele für die Anwendung werden durch kursive Schrift kenntlich gemacht. Querverweise auf andere Methoden und Variationsmöglichkeiten werden ebenfalls kenntlich gemacht.
Die Methoden beeindrucken durch die Vielfalt der Ideen. Vieles ist zwar aus anderen Veröffentlichungen bekannt, in dieser Breite aber wohl an keinem anderen Ort verfügbar. Dass einzelne Methoden nur sehr verkürzt dargestellt sind und sich eine konkrete Vorstellung über ihre Realisierung nur schwer einstellt, ist die Ausnahme (Beispiel: "Das Moses-Syndrom"). In aller Regel bieten die Vorgaben genügend Anregungen, um erfahrene professionelle Helferinnen und Helfer in die Lage zu versetzen, die vorgestellte Methode umzusetzen.
Fazit
Hier liegt eine umfangreiche Sammlung von Anregungen für biografisches Arbeiten in unterschiedlichsten Praxisfeldern vor. Für die Auswahlkriterien und für eine theoretische Durchdringung der Chancen und Risiken biografischen Arbeitens bietet das Buch wenig Hilfe. Die Verantwortung für die Entscheidung, wann welche Methoden wie eingesetzt werden können, verbleibt bei den Helferinnen und Helfern.
Rezension von
Prof. Dr. Harro Kähler
Bis zur Emiritierung Fachhochschullehrer an den Hochschulen Hagen, Dortmund und Düsseldorf. Bis 2019 Redakteur der socialnet Rezensionen, Mitarbeiter in der Redaktion des socialnet Lexikons.
Website
Mailformular
Es gibt 14 Rezensionen von Harro Kähler.





