Oliver Eß (Hrsg.): Das Andere lehren
Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 05.05.2011

Oliver Eß (Hrsg.): Das Andere lehren. Handbuch zur Lehre interkultureller Handlungskompetenz ; [Beiträge zur Fachtagung "Interkulturelle Handlungskompetenz an Fachhochschulen - Perspektiven und Dimensionen für die Lehre" vom 9. bis 10. Oktober 2008 am Studien.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2010.
190 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2378-7.
19,90 EUR.
Reihe: Eine Veröffentlichung der Jade-Hochschule Wilhelmshaven, Oldenburg, Elsfleth.
Anlass und Anliegen
Angesichts globalisierter Wirtschaft und Wissenschaft ergeben sich selbstverständlich komplexe interkulturelle Begegnungen, Arbeits- und Produktionsprozesse, für deren Gelingen interkulturelle Handlungskompetenz eine wichtige unabdingbare Voraussetzung ist. Hochschulen sind daher herausgefordert, darüber nachzudenken, wie sie interkulturelle Handlungskompetenz im Rahmen ihrer Lehre kompetent und nachhaltig vermitteln können. Die JADE-Hochschule führte dazu 2008 eine Fachtagung durch, in deren Rahmen unterschiedliche Vermittlungsmodelle vorgestellt und praktische Erfahrungen in Didaktik und Methodik der Lehre ausgetauscht wurden. Der vorliegende Band dokumentiert die Referate und Ergebnisse dieser Tagung. Er versucht Antworten zu geben auf die Fragen „was geschieht, wenn man die Perspektive wechselt, wenn man den Fokus – anstatt auf das Wissen über die Systeme des Anderen – auf das Selbstverstehen legt? Wenn man das Selbstverstehen im Handlungsprozess mit dem Anderen ins Zentrum der Lehre stellt und interkulturelles Handeln als eine Variante des kooperativen (intrakulturellen) Handelns versteht? Welche Optionen eröffnet in diesem Zusammenhang eine Didaktik des interkulturellen Denken und Handelns, die Verstehensprozesse als Handlungsprozesse zwischen Individuen definiert?“ (15)
Aufbau
Neben Vorwort und Einführung sowie einem knappen theoretischen Einstieg von Oliver Eß ist der Band in fünf Abschnitte gegliedert.
Der vorangestellte Beitrag von Oliver Eß „Das Andere lehren: Interkulturelle Handlungskompetenz als ‚Paradigma‘?“ definiert interkulturelle Handlungskompetenz als kooperatives soziales Handeln. Knapp skizziert er die Grundannahmen soziologischer Identitätstheorien (Mead, Berger & Luckmann, Krappmann), die davon ausgehen, dass sich Identität in Interaktion mit dem Anderen herausbildet, und entwirft daraus ein selbstreflexives Handlungsmodell. Vor diesem Hintergrund umfasst aus seiner Sicht interkulturelle Handlungskompetenz drei Basiskompetenzen:
- Selbstkompetenz
- Sozialkompetenz
- Kulturkompetenz.
1. Additives Lehren
Der erste Abschnitt des vorliegenden Bandes mit dem Titel „Additives Lehren“ stellt Lehrkonzepte und Veranstaltungsformen vor, in denen interkulturelle Handlungskompetenz ergänzend zu den Inhalten des Fachstudiums vermittelt werden. Meist geschieht dies in fachübergreifenden Workshops oder Seminaren.
In ihrem Beitrag „Interkulturelle Qualifizierungsangebote für Studierende: mehrstufig, studienbegleitend & nachhaltig“ stellt Elke Busse verschiedene „Spielformen“ studienergänzender Vermittlung vor. Dabei handelt es sich einerseits um Vorbereitungsmodule für Auslandsaufenthalte im Rahmen des Studiums (Praktika, Auslandssemester) und/oder um berufsvorbereitende Module. Mögliche didaktisch-methodische Gestaltungselemente konkretisiert die Autorin anhand der Erfahrungen im Modellprojekt Intercultural Teams and Competencies.
Ausgehend von der Entwicklung des E-Learnings entwickelt Gardinia Alonso in ihrem Beitrag „Blending Culture into Learning“ ein Konzept von Blended Learning für die Vermittlung Interkultureller Handlungskompetenz. „Blended Learning bezeichnet die didaktisch sinnvolle Kombination verschiedener Lernformen (z.B. E-Learning mit klassischen Lernformaten) auf Basis neuer Informations- und Kommunikationsmedien.“ (51). Kennzeichnend für dieses didaktisch-methodische Konzept ist ein Methodenmix von medien- und web-unterstützten Lernformen bis hin zu Rollenspielen oder virtueller Fallstudienarbeit. Auf der Grundlage ihrer praktischen Erfahrungen mit dieser Vermittlungsform resümiert die Autorin: „…Blended Learning (kann) durch zielgerichtete Ausschöpfung der medialen Potentiale entscheidende Impulse für die personale und soziale Kompetenzentwicklung im kooperativen Prozess des interkulturellen Lernens liefern. Der Mehrwert entsteht jedoch nicht durch den Einsatz von Medien an sich, sondern durch die didaktisch zielgerichtete Integration von Kommunikations- und Kollaborationsfunktionen sowie durch die Möglichkeit, gemeinsam oder autonom an Aufgaben und Produkten zu arbeiten.“(59) Aus ihrer Sicht liegen die Vorteile dieses Konzeptes vor allem in
- der Individualisierung der Lernprozesse und Lernformen,
- der praktischen Vermittlung und Übung kommunikativer Kompetenzen durch die notwendige Kommunikation und Interaktion mit anderen Lernenden,
- dem antizipativen Training interkultureller Begegnung durch kulturübergreifende Kontakte und interkulturelle Lernaufgaben.
Andre Morawski stellt in seinem Beitrag die„Vermittlung Interkultureller Kompetenz an der TU Berlin“ vor. Hier war die Vermittlung lange Zeit auf die Fachbereiche Sozial- und Geisteswissenschaften beschränkt. Seit 2003 wird nun ein interdisziplinäres Basismodul besonders für ingenieurs-, planungs- und wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge angeboten, das durch die drei aufeinander folgenden Lehr-/Lernphasen Problematisierung, Information und Transfer gekennzeichnet ist. Der Transfer erfolgt in Form der „Planung und Umsetzung eines webgestützten Interkulturellen Kooperationsprojektes“ (69) mit Partneruniversitäten der TU Berlin.
Olga Rösch gibt in ihrem Beitrag einen Überblick über „Das Lehrgebiet Interkulturelle Kommunikation für Studierende der nicht-geisteswissenschaftlichen Studiengänge an der TFH Wildau“. Das hier bereits seit 13 Jahren umgesetzte Modul enthält zwei Schwerpunkte:
- „Grundlagen des Fachgebietes Interkulturelle Kommunikation“, die der Sensibilisierung der Studierenden für kulturelle Differenzen dienen sollen, sowie
- „Grundlagen des interkulturellen Managements“, die die Anwendung des erworbenen Kulturwissens in den kommunikativen Zusammenhängen des Arbeitsprozesses unterstützen sollen.
Die Autorin gibt einige ausgewählte Evaluationsergebnisse wieder und resümiert kritisch: „Das Lehrfach IKK wird von den Nicht-Fachkollegen oft als reines Softskill-Fach missverstanden. Auf deren Wunsch hin werden bei der Konzipierung von Bachelor- und Masterstudiengängen die IKK-Module mit Lernstoff aus dem Bereich des Kommunikationstrainings oder des Fremdsprachenunterrichts auf Kosten der eigentlichen interkulturellen Inhalte – und somit auch der eigentlichen Lernziele – überladen. Noch unheilvoller sind die selbständigen Konzipierungsbemühungen, wenn versucht wird, einem Kernfach durch Informationen über andere Länder einen ‚interkulturellen Touch‘ zu verleihen…“ (81).
Oliver Eß referiert unter dem Titel „Interkulturell Denken und Handeln“ die Vermittlung Interkultureller Kompetenzen an der JADE-Hochschule. Teilnehmer an den diesbezüglichen Modulen sind Studierende der BA-Studiengänge Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften. Eß gibt einen knappen Überblick über die Lehr- und Lernziele und Inhalte der einzelnen Unterrichtseinheiten und erläutert deren didaktisch-methodische Struktur. „Das Grundprinzip auf der methodischen Ebene lautet: vom Affektiven zum Kognitiven und vom Produkt zur Denkstruktur. Das heißt, dass jedes Themenfeld mit einem „Erlebnis“ oder einem „Handlungsprodukt“ begonnen wird, das dann kognitiv verarbeitet und als Ergebnis und Grundlage für die Selbstsozialisation festgehalten wird.“ (89)
Der letzte Beitrag dieses Abschnitts „Kognition der interkulturellen Interaktion“ von Thomas Wägenbaur „…geht davon aus, dass ein Rekurs auf Kognition, wie er in der Entscheidungstheorie durchaus üblich ist, sich auf interkulturelles Handeln übertragen lässt, da Handeln Entscheiden heißt.“ (101) Der Autor bürstet gängige Annahmen zur interkulturellen Kommunikation „gegen den Strich“: „Die Reduktion auf kulturelle Verhaltensmuster… mag zwar im Sinne der Pragmatik notwendig sein, ist aber insofern nicht legitim, als sie in der tatsächlichen Interaktion unter Individuen weitgehend scheitern muss. Hier gilt es, die Generalisierung kultureller Spezifik von Individuen als Fortsetzung der Stereotypisierung mit wissenschaftlichen Methoden zu erkennen.“ (105) In welcher Weise diese Position indes in praktische Lehrveranstaltungen eingebunden und didaktisch-methodisch umgesetzt wird, wird in diesem Beitrag allerdings nicht ausgeführt.
2. Integratives Lehren
Während additive Formen der Vermittlung Interkultureller Kompetenz das mehrheitlich praktizierte Modell darstellen (wenn dies überhaupt zum Thema wird), sind integrative Ansätze, die Inhalte interkultureller Kompetenzvermittlung mit fachspezifischen Themen verknüpfen, eher selten und beziehen sich eher auf Projekte außerhalb des normalen Studienalltags. Der zweite Abschnitt des Buches „Integratives Lehren“ stellt in zwei Beiträgen solche Erfahrungen vor.
Gernot Wolfram, geht in seinem Beitrag „Verborgene Spuren – Modellansatz für interkulturelle Kompetenz im Rahmen der transatlantischen Intercultural Summer School Berlin“ davon aus, dass angesichts weitreichender Globalisierungsprozesse Kulturen keine stabilen und eindeutig beschreibbaren Orientierungsmuster sind, aus denen zuverlässig Kulturkategorien abgeleitet werden könnten. Vielmehr sind die Menschen zunehmend durch „verborgene Spuren“ unterschiedlicher Kulturen geprägt, denen es im Rahmen der Vermittlung Interkultureller Handlungskompetenz nachzugehen gilt. „Interkulturelle Kompetenz lässt sich also auf einer ersten Stufe definieren als das Erkennen versammelter Spuren aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Spuren sind hierbei gedacht als bewusste oder unbewusste Referenzen auf Muster, die im Individuum entweder eine Veränderung oder eine Bestätigung erfahren.“ (113)
Vor diesem Hintergrund schildert der Autor die Arbeitsformen und Erfahrungen im Rahmen einer Intercultural Summer School für Nachwuchsjournalisten aus Europa und den USA, die als ein interkulturell-interdisziplinäres Medienprojekt konzipiert waren.
Über Erfahrungen mit internationalen Arbeitsgruppen berichten Andrea Menn und Knut Scherhag. Sie schildern Anlass und Durchführung einer „Projektwoche Tourismuswirtschaft“ mit einer deutsch-chinesischen Gruppe Studierender in China sowie eine Sommerakademie Human Centered Approaches in Biomedical Engineering. Plausibel erläutern und begründen sie die interkulturellen Begegnungsprozesse und deren sorgfältige Vorbereitung. Die Lernprozesse und – effekte erscheinen allerdings dann doch eher zufällig und weniger als ein Ergebnis eines intendierten und didaktisch strukturierten Lernens.
3. Lehren in interkulturellen Kontexten
Der dritte Abschnitt des vorliegenden Readers widmet sich dem „Lehren in interkulturellen Kontexten“. Der einzige Beitrag dieses Abschnittes – von Jacqueline Gutjahr verfasst – stellt „Module zur interkulturellen Studienvorbereitung chinesischer Studienbewerber(innen) …“ Vor. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist „das wachsende Interesse (nicht nur) deutscher Hochschulen, (möglichst) hochqualifizierte ausländische Studienbewerberinnen und –bewerber zu gewinnen…“. Ziele der skizzierten Module sind mithin_
- „eine hinreichende allgemeine sprachliche und soziale Integration in das Zielsprachenland,
- die Befähigung zur Bewältigung hochschulbezogener sprachlicher Situationen sowie
- insbesondere die Einführung in Wissenschaftskommunikation…“. (144)
Die Autorin skizziert knapp die Inhalte der zur Realisierung dieser Lernziele entwickelten Module.
4. Interkulturelle Kompetenz im Beruf
Ebenfalls nur aus einem Beitrag mit dem Titel „Interkulturelle Kompetenz im Beruf“ besteht der vierte Abschnitt „Beispiele aus der Praxis“. Die AutorInnen – Chunchun Qian, Nicole Diesel, Andrea Morawietz und Florian Trächtler – arbeiten pragnant die Notwendigkeit interkultureller Kompetenzen für die Zusammenarbeit in multikulturellen Teams und kulturell heterogenen Belegschaften heraus und umreißen orientiert an der einschlägigen Fachliteratur die in der Praxis vorfindbaren Ansätze und Methoden interkultureller Trainings.
Fazit
Die den vorgestellten Lehrveranstaltungen und Modulen zugrunde liegenden Inhalte und Methoden sind mehrheitlich nicht neu und – abgesehen von der innovativen Verknüpfung mit Formen des E-Learnings – wenig überraschend. Die Bedeutung des vorliegenden Readers liegt daher vielmehr in der plausiblen und konsequenten Begründung von fachübergreifenden Modulen zur Vermittlung Interkultureller Handlungskompetenz in BA- und MA-Studiengängen an Hochschulen. Die einzelnen Beiträge liefern gute Argumente zur Durchsetzung und Legitimation interkultureller Inhalte und vielfältige Anregungen für deren praktische Umsetzung in den jeweiligen Studienstrukturen. Betrachtet man den eher bescheidenen Umfang der in den Beiträgen des Bandes dargestellten Module im Rahmen der Studiengänge, scheinen gute Argumente hilfreich und nötig zu sein, um Interkulturelle Handlungskompetenz als Gegenstand und Ziel der Lehre aufzuwerten und abzusichern.
Eines ist dieser Reader indes mit Sicherheit nicht: ein „Handbuch zur Lehre Interkultureller Handlungskompetenz“ – wie der Untertitel verspricht. Dies liegt vor allem daran, dass sich die einzelnen Beiträge – wie bei derartigen Tagungen üblich – auf einem mittleren Abstraktions- und Reflexionsniveau verorten lassen. Methodische Handlungsanweisungen, die detaillierte Darstellung relevanter Inhalte oder konkrete, ganz praktische Hinweise zur Umsetzung lassen sich aus ihnen nicht ableiten. Dazu muss man dann doch auf die einschlägige und mittlerweile zahlreich vorhandene Grundlagenliteratur zum Training Interkultureller Kompetenzen zurückgreifen.
Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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