Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Thomas Blank, Karl Adamek: Singen in der Kindheit

Rezensiert von Prof. Dr. em. Christel Hafke, 05.01.2011

Cover Thomas Blank, Karl Adamek: Singen in der Kindheit ISBN 978-3-8309-2374-9

Thomas Blank, Karl Adamek: Singen in der Kindheit. Eine empirische Studie zur Gesundheit und Schulfähigkeit von Kindergartenkindern und das Canto-elementar-Konzept zum Praxistransfer ; [eine Veröffentlichung des Canto-Forschungsinstituts]. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2010. 330 Seiten. ISBN 978-3-8309-2374-9. 49,90 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Zählpixel

Thema

Die Autoren knüpfen an bereits vorliegende empirische Befunde an, die die „allgemein lebensfördernde Funktion des Singens in physischer, psychischer und sozialer Hinsicht“ (14) bestätigen und leiten daraus ab, dass das Singen nicht nur „zum Wesen des Menschen“ gehört, sondern „gerade angesichts der globalen Krise zu einem möglichen Lösungsweg Einiges beitragen“ (14) kann. Sie gehen von der These aus, dass das Singen gesund und friedfertig mache und viel singende Kinder in ihrer Entwicklung so positiv beeinflusse, dass diese eher regelschulfähig seien. (13)

Die zentrale Fragestellung der Autoren geht davon aus, dass Singen mehr bedeute als ein beliebiger Zeitvertreib, ja dass Singen „für ein gelingendes Leben (ein) unersetzbares Ausdrucks- und Selbstgestaltungswerkzeug“ (20) darstelle.

Es geht ihnen nicht um gehobene Gesangskunst, sondern um Singen als Sprache der Gefühle, als Selbstzweck und Alltagskultur.

Die Autoren haben eine empirische Untersuchung zu den Auswirkungen des Singens in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt der Stadt Münster an 500 Kindergartenkindern im Rahmen der Schuleingangsuntersuchungen der Jahre 2001 und 2002 durchgeführt.

Autoren

Thomas Blank und Karl Adamek sind Mitglieder des seit 2001 bestehenden Canto-Forschungsinstituts. Adamek arbeitet freiberuflich als Autor, Sänger,  Kursleiter. Er ist Initiator und Gründungsmitglied von „Il canto del mondo – Internationales Netzwerkes zur Förderung der Alltagskultur des Singens e.V.“, das unter der Schirmherrschaft von Yehudi Menuhin ins Leben gerufen wurde. Auch gründete er die „Deutsche Stiftung Singen“.
Blank ist als Soziologie an der Universität Bielefeld tätig.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in zwei große Teile und einen Anhang:

Teil A: Zur Bedeutung des Singens in der frühkindlichen Entwicklung und

Teil B: Praxistransfer.

Von den 330 Seiten des Buches umfasst der Anhang mit tabellarischen Übersichten, (Mittelwert-)Berechnungen und Testergebnissen allein 153 Seiten.

Teil A

Im A-Teil gibt Kapitel 1 einen historischen Rückblick zur Entwicklung der Alltagskultur des Singens in Deutschland. Angesprochen werden die Funktionalisierung des Singens im Nationalsozialismus, die Singeabstinenz der Nachkriegsgeneration und die wenigen verbliebenen Inseln des Singens im Karneval, in der Kirche und auf Volksfesten.

Angesichts der in Kapitel 1 beschriebenen Geschichte des Singens als eine gesellschaftliche Verfallstendenz verwundert es, dass die Autoren „fast nur ausschließlich positive empirische Befunde für die physischen und psychischen Wirkungen des Singens gefunden haben. Der einzig negative Befund ist die prinzipielle Missbrauchbarkeit des Singens.“ (45)

Kapitel 2 fasst den bisherigen Forschungsstand, d.h., vor allem empirische Befunde hinsichtlich des physiologischen und psychologischen Wirkungen des Singens zusammen und leitet daraus die zentralen Forschungshypothesen ab. Beschrieben wird das Singen als ein Gesundheitsverhalten, als Möglichkeit, Emotionen zu regulieren, Angst zu bewältigen, Aggressionen umzuwandeln und Glücksgefühle zu produzieren; ferner entfalte das Singen soziale Kompetenz, mache friedlich und lernfähig.

In Kapitel 3, 4 und 5 wird dann die empirische Untersuchung (Untersuchungsanlage, verwendete Messinstrumente und Interpretationen der Daten) dargestellt.

Die Autoren schreiben zu Recht, dass der von ihnen erhobene Datensatz (knapp 500 Fälle) keine auf die Gesamtheit aller fünf- bis sechsjährigen Kinder schlussfolgernde Aussagen zulässt, also nicht in diesem Sinne repräsentativ genannt werden kann: „die Datengrundlage im strengen Sinne (liefert) keine ausreichende Basis zur kausalen Interpretation von Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen Singeverhalten und Entwicklung.“ (89) Die vorliegende Untersuchung hat lediglich Pilotcharakter und die Autoren beschränken sich in der Auswertung auf bivariate Zusammenhangsanalysen.

Um das kindliche Singeverhalten zu erkunden, wurden zum einen die betreffenden Eltern befragt, zum anderen Aufnahmen der Kinderstimmen einer gutachterlichen Beurteilung unterzogen. Dass vor allem letzteres ein problematisches Unterfangen sein kann, offenbaren die sehr heterogenen gutachterlichen Einschätzungen.

Erfragt wurden weiterhin die familiäre Förderung des Singens sowie Indikatoren zur psychischen und physischen Entwicklung; sozialdemographische und -strukturelle Parameter wurden hinzugezogen. Obwohl die Daten-Ergebnisse den Autoren wiederholt nicht zu gefallen scheinen (90;92;94;96;98;101), können sie dennoch eine Bestätigung aller Untersuchungshypothesen herauslesen und somit einen deutlichen (psychischen, physischen und sozialen) Entwicklungsvorteil viel singender Kinder gegenüber wenig singenden Kindern feststellen.

Teil B

In Teil B geht es zunächst um das „Recht auf die Entfaltung der Singfähigkeit als eine wesentliche Facette des Rechtes auf Bildung“ (111), wo ein weiteres Mal die Bedeutung des Singens für die Entwicklung von Persönlichkeit, sozialer Kompetenz und Lernfähigkeit betont wird.

Im Kapitel 7 wird das generationenverbindende Singepatenprogramm „Canto elementar“ (zur Förderung des Singens in Kindergärten) dargestellt. Dabei werden pädagogische Prinzipien, Lieder und Arbeitsmaterialien, Weiterbildungsmöglichkeiten und das System der Singepaten beschrieben. Von diesen Singepaten gehören viele der älteren Generation an und bringen ein anderes Liedgut als die meist jüngeren ErzieherInnen mit, das sie mit den Kindern in regelmäßigen Abständen erarbeiten. Für Canto-Kindergärten, die sich an bestimmte Vorgaben halten, gibt es ein Gütezeichen und inzwischen ist eine Weiterentwicklung zu Canto primar (Grundschule) anberaumt.

In Kapitel 8 findet man Erfahrungsberichte über die Arbeit mit dem Canto-elementar-Programm: Es kommen eine Erzieherin und die dazugehörende Kindergartenleiterin zu Wort. Ferner gibt es ein Gespräch zwischen Karl Adamek und der Fachberaterin für Kindereinrichtungen der Evangelischen Kirche zu lesen sowie die Erfahrungen eines Grundschullehrers mit Canto primar. Den Abschluss bildet ein weiteres Gespräch zwischen K. Adamek und dem „Vater der Sängerjugend“ Winfried Kocéa über dessen Programm „Die singende Grundschule“ und seine Canto-Stimmbildung für Laien.

Diskussion

Es ist sicher ein großes Verdienst vor allem von Karl Adamek, dass er sich mit so viel Beharrlichkeit und Engagement für die Wiederbelebung des Singens einsetzt. Und vermutlich ist es für politische Entscheidungsträger von Bedeutung, dass quantitative empirische Untersuchungen vorliegen, gibt es doch die legitimierende Wirkung von Zahlen und Forschungsergebnissen. Welchen Weg die erhobenen Daten durch Interpretationsmodalitäten und bestimmte Rechenmanöver durchlaufen weiß jeder, der quantitative Forschung betreibt. Der sehr gelungene und spannend zu lesende Teil B wirft für mich die Frage auf, ob eine qualitative Forschung der Singethematik und dem Anliegen der Autoren nicht um ein Vielfaches gerechter würde.

Trotz meiner grundsätzlichen Anerkennung möchte ich folgende Anmerkungen zu bedenken geben:

  1. In der funktionalisierten Betrachtung des Singens (Singen, „um zu„: singende Kinder sind eher regelschulfähig; Singen zur Vermeidung schlechter PISA-Ergebnisse; Singen um gesund und friedlich zu sein) tut sich eine Problematik auf, die dem von Adamek und Blank verfolgten spielerischen Ansatz des Singens als Selbstzweck jenseits von Leistungsdruck widerspricht. Spätestens durch die Hintertür kommt das Leistungsdenken und eine mögliche neoliberale Funktionalisierung herein: Das unbekümmerte, absichtslose Singen wird für Bildungspolitik interessant, weil es andere (gesundheitliche, lernpsychologische, sozial-kohäsive) Auswirkungen hat, die mit anderen Methoden vielleicht nicht so (kosten-)günstig und weitreichend zu bewerkstelligen sind.
  2. Schmunzeln muss ich immer, wenn jemand genau weiß, was das Wesen des Menschen ist und was zum Wesen des Menschen gehört (hier natürlich das Singen!). Wenn auf der nächsten Reflexionsstufe versucht wird, das Singen als „eine Chance für die Gesellschaft“ (und) einen „möglichen Lösungsweg (…) angesichts der globalen Krise“ (14) auszumachen, zeigt dies eine Hybris, die in der eigenen Forschungsthematik den Schlüssel zur Lösung nahezu aller Probleme erkennt[1] : „Singen macht gesund und friedfertig“ (13), reduziert die Gewaltproblematik und „erfüllt wie Sprechen (…) wesentliche Lebensfunktionen des Menschen.“ (13) Hier ist auch der anklingende missionarische Ton einzuordnen, wenn das Singen als „segensreich“ (25) und „unersetzbares Ausdrucks- und Selbstgestaltungswerkzeug“ (20) bezeichnet oder „ein Recht auf die Entfaltung der Singfähigkeit“ (111) eingefordert wird.
  3. Vielleicht ist es eine Frage des Geschmacks oder der Redlichkeit: es mutet seltsam an, wenn die über Jahre hinweg in ganz Deutschland entstandenen „immer mehr Initiativen zur Förderung des Singens in der Kindheit“ (14) erwähnt werden und doch keine namentlich genannt wird. Natürlich ist dieses Buch der beiden Autoren des Canto-Forschungsinstituts auch eine Werbeschrift in eigener Sache, deren Erfolge doch eine deutliche Sprache sprechen (s. Teil B dieses Buches). Muss die Konkurrenz denn so gefürchtet werden?

Fazit

Das Buch lohnt sich wesentlich wegen der in Teil B vorgestellten Erfahrungsberichte und konzeptionellen Gedanken. Für kulturpolitische Entscheidungsträger ist der empirische Teil, bzw. der Interpretationsteil (89 – 106) wichtig und interessant für alle im musikpädagogischen Bereich Tätigen auch die einführenden Kapitel 1 und 2.


[1] Auf S. 25 heißt es über das Singen als Alltagkultur, dass „die Entfaltung der hier noch brachliegenden Ressourcen und Potenziale (…) allem Anschein nach für die Zukunftsfähigkeit des Menschen global mehr beitragen (kann), als dies jetzt schon eindeutig sichtbar ist. (…) Dann können womöglich – mit unserer eigenen Gesundung einhergehend – auch die durch uns verursachten Verwundungen der Erde heilen.“

Rezension von
Prof. Dr. em. Christel Hafke
em. Professorin der Fachhochschule Emden, lehrte schwerpunktmäßig im Bereich Kultur/Ästhetik/Medien, Soziologie und Ethik
Mailformular

Es gibt 25 Rezensionen von Christel Hafke.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245