Andreas Eis: Europäische Bürgerschaftsbildung
Rezensiert von Prof. Dr. Marion Möhle, 07.06.2011
Andreas Eis: Europäische Bürgerschaftsbildung. Die Neukonstruktion der Bürgerrolle im europäischen Mehrebenensystem.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2010.
415 Seiten.
ISBN 978-3-89974-575-7.
39,80 EUR.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
Thema
Der Stellenwert der Europäischen Union wird mit dem sich intensivierenden Integrationsprozess im politischen Alltag immer bedeutungsvoller, was selbstverständlich auch Konsequenzen für die politische Bildung haben muss. Dabei stellt dies angesichts der Komplexität von Politikprozessen in der EU wie z.B. Entscheidungsverfahren und Zuständigkeiten im Mehrebenensystem eine erhebliche Herausforderung dar. Mit dem vorliegenden Werk entwickelt der Autor einen Ansatz zur „normativen Begründung politisch-demokratischer Europakompetenzen“. Ziel ist dabei die Entwicklung bürgerschaftlicher Handlungs- und Urteilskompetenz und deren Vermittlung im Politikunterricht.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in zwei Teilen aufgebaut, die jeweils in vier Kapitel untergliedert sind. Im ersten Teil (Teil A) diskutiert der Autor Andreas Eis, der eine Vertretung der Professur für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität inne hat, politische Bildung in Europa in ihren verschiedenen Facetten. Dabei stehen Bürgerleitbilder und Bürgerkompetenzen im Mittelpunkt der Betrachtungen. Der zweite Teil (Teil B) der Studie stellt die empirischen Befunde des Autors dar, die er u.a. aus der Auswertung von über 60 Unterrichtsstunden gewonnen hat.
In der Einleitung stellt der Autor den Problemzusammenhang zwischen Europa einerseits und der politischen Bildung andererseits vor. So ist die Europäische Union in den letzten Jahren v.a. durch Negativschlagzeilen aufgefallen, wie z.B. dem Scheitern des Verfassungsvertrages. Gleichzeitig nimmt der unmittelbare Einfluss der EU auf die Bürgerinnen und Bürger zu, wie das Beispiel des Nichtraucherschutzes zeigt. Allerdings wäre es, so der Autor, verfehlt, hier schon von der Herausbildung einer europäischen Bürgerschaft zu sprechen, diese sei höchstens in Ansätzen erkennbar. Hier stellt sich dann folglich die Frage nach unionsbürgerschaftlicher Bildung, zumal die Rolle von Unionsbürger/innen legitimatorisch und partizipatorisch derzeit noch begrenzt ist (vgl. S. 17). In diesem Zusammenhang wird immer wieder das Demokratiedefizit und Öffentlichkeitsdefizit der EU diskutiert. Andreas Eis geht daher von einer sehr grundlegenden Frage aus, um den Stellenwert der Europäischen Bürgerschaftsbildung zu diskutieren: inwiefern können Leitbilder der Freiheit als normative und kategorische Orientierung einer Bürgerschaftsbildung unter den neuen Herausforderungen einer „postnationalen Konstellation“ für die politische Bildung präzisiert werden?
Um dieser Fragestellung nachzugehen,
diskutiert der Autor im Teil A die theoretischen Grundlagen,
die in der Politikdidaktik hier relevant sind. Dabei werden im ersten
Kapitel (Kapitel A-I) unter der Überschrift „Jugend
in Europa“ die bildungspolitischen Rahmenbedingungen
diskutiert, insbesondere die „European Citizenship Education“
und die Demokratiepädagogik.
Dabei steht die Frage im Mittelpunkt,
welchen Stellenwert Europa für Jugendliche hat und wie die EU
von dieser Altersgruppe im politischen Bewusstsein wahrgenommen wird.
Hier zeigen verschiedene Studien, die der Autor referiert, dass
Jugendliche insgesamt ein positiveres Bild von Europa haben als dies
bei Erwachsenen der Fall ist. Insbesondere die Möglichkeit der
Begegnung oder des Austausches im Rahmen verschiedener EU-Programme
werden positiv aufgenommen. Gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung bei
Europawahlen in der jüngsten Altersgruppe am geringsten und auch
das Wissen über die EU ist bei Jugendlichen als eher begrenzt
einzuschätzen.
Eine wichtige Erkenntnis hinsichtlich
der Entwicklung politisch-demokratischer Europakompetenz liegt darin,
dass diese in der unmittelbaren Erfahrungswelt der Jugendlichen
ansetzen muss.
Dies wird mit der European Citizenship
Education versucht, die Andreas Eis im Spannungsfeld zwischen
Demokratieerziehung und Bürgeschaftsbildung ansiedelt. Dabei
zeigt sich, dass sich hier eine Vielzahl verschiedener Konzepte und
Ansätze versammeln, die in den jeweiligen Mitgliedsländern
der EU auf unterschiedliche Traditionen und einen unterschiedlichen
Sprachgebrauch stoßen. Ein wichtiger Impulsgeber ist neben
anderen Organisationen der Europarat, der seit 1997 mit einem
umfassenden Konzept hier aktiv ist. Bedeutsam war hier das European
Year of Citizenship through Education 2005, das hier die Umsetzung
einer Vielzahl von Projekten ermöglichte. Allerdings wurden und
werden Konzepte von den Bildungseinrichtungen der Mitgliedsländer
längst nicht in ausreichendem Maß zur Kenntnis genommen,
auch stoßen sie gelegentlich auf Vorbehalte und Hindernisse.
Zum Abschluss dieses Kapitels stellt der Autor die Befunde der
politischen Kultur- und Jugendforschung zu bestehenden Europabildern
bei Jugendlichen dar, insbesondere aus verschiedenen
Eurobarometer-Studien und den Shell-Jugendstudien. Dabei lässt
sich insgesamt eine deutlich höhere Europa-Affinität bei
jungen Menschen im Vergleich zu Älteren feststellen, die aber –
wie bereits erwähnt – nicht mit Europakompetenz
einhergeht.
Im zweiten Kapitel A-II diskutiert Andreas Eis Bürgerleitbilder und (Bürger-)Kompetenzmodelle, die die Politikdidaktik normativ begründen können. Dabei leitet der Autor zunächst die historischen Traditionen verschiedener Bürgerleitbilder her (liberale, republikanische und deliberative Tradition), bevor er dann im weiteren Verlauf dieses Kapitels differenziert Wissensformen und Teilkompetenzen nachgeht. Hier werden beispielsweise Urteils- und Interventionsfähigkeit als zentrale Bestandteile der Bürgerkompetenz diskutiert.
Kapitel A-III widmet sich der Bedeutung des/der Unionsbürgers bzw. der Unionsbürgerin in Europa. Hier wird zunächst ein Überblick über die fachwissenschaftliche Diskussion zur Stellung und Bedeutung des Unionsbürgers bzw. der Unionsbürgerin im europäischen Mehrebenensystem gegeben. Danach diskutiert der Autor die jüngeren Veränderungen des europäischen politischen Systems und deren Phänomene, wie z.B. zunehmende Europäisierung, Entstaatlichung und Neukonstruktion politischer Öffentlichkeiten in Hinblick auf deren Bedeutung auf die veränderte Bürgerrolle.
Kapitel A-IV stellt ein Zwischenfazit dar, in dem Andreas Eis diskutiert, inwieweit „es sinnvoll und möglich ist, fachwissenschaftlich begründete europapolitische Deutungskonzepte alltagsweltlich zu verankern“ (S. 187). Weiterhin steht hier zur Diskussion, wie europapolitisches Problembewusstsein bei Schüler/innen entwickelt werden kann und europapolitische Analyse-, Urteils- und Handlungskompetenzen geschaffen werden können. Am Ende dieses Kapitels stellt der Autor übersichtsartig fünf europapolitische Kompetenzbereiche (EPK) dar, deren lerntheoretische Voraussetzungen und deren Realisierbarkeit im Unterricht Gegenstand des zweiten Teils der Arbeit ist.
Teil B des vorliegenden Werkes steht dann ganz im Zeichen qualitativer Studien, die Meinungsäußerungen und Einstellungsmuster von Jugendlichen untersuchen, um so politikdidaktische Ziele zu ermitteln und deren Umsetzungsmöglichkeiten zu diskutieren. Das von Andreas Eis ausgewählte Forschungsdesign ist recht komplex und beinhaltet neben Leitfadeninterviews, Praxisberichten vor allem Unterrichtsforschung und die Erhebung von Metadaten. Auch die betrachteten Zielgruppen sind ausgesprochen vielfältig, so werden neben Schüler/nnen und Lehrer/nnen auch Lehramtsstudierende und Multiplikator/inn/en in die Studie mit einbezogen. Ebenso komplex verhält es sich mit den Forschungsfragen, die im Wesentlichen um die Ermittlung der Relevanz europapolitischer Fragestellungen im Unterricht und deren didaktischer Vermittlung kreisen. Zentral ist hier die Entwicklung europapolitischer Kompetenzen, die der Autor in verschiedene Kompetenzbereiche aufgliedert, sowie des hier relevanten Deutungswissens. Dabei werden die Kompetenzbereiche, wie z.B. „europabezogene Wirtschaftskompetenz“ oder „europäisch-föderales Deutungswissen/transnationale Analyse- und Urteilsfähigkeit“, um nur zwei zu nennen, jeweils hinsichtlich ihrer fachdidaktischen Vermittlung und Realisierbarkeit im empirischen Teil anschaulich erläutert. Mit einer Vielzahl von interessanten Zitaten aus den Interviews und sorgfältiger Überprüfung der Forschungsleitfaden kommt Andreas Eis zu dem Ergebnis, dass es im Wesentlichen drei Defizite in der europapolitischen Schulbildung festzustellen gibt. Dabei handelt es sich erstens um die Entwicklung von Bürgerkompetenzen und die Generierung von konzeptuellem Deutungswissen, zweitens um die methodologische Verknüpfung der drei Politikdimensionen Policy, Politics und Polity sowie drittens den Bezug zu den alltagsweltlichen Bedeutungen der Schüler/innen. Hier schlägt der Autor die Entwicklung von Best Practice Modulen vor, die für den Unterricht und für die Lehrerausbildung handlungsleitend sein können.
Haupterkenntnisse des Buches
Verdienstvoll ist die Herausarbeitung europapolitischer Kompetenzfelder, die insgesamt ein europäisches Kompetenzprofil bilden, das sicherlich nicht nur für den schulischen Bereich sondern für die politische Bildung im weitesten Sinne wertvoll ist. Gelegentlich leidet die Lesbarkeit des Buches ein wenig durch den akademischen Stil, so dass es nicht unmittelbar als Praxisgrundlage einsetzbar ist – was allerdings auch nicht intendiert war.
Zielgruppen und Fazit
Das Buch ist insbesondere für Politikdidaktiker/innen und Praktiker/innen der Politischen Bildung relevant. Aber auch für Lehrer/innen in den Fächern Politik, Gemeinschaftskunde und verwandter Fächer kommen als Zielgruppe infrage. Weiterhin stellen auch Expert/innen aus den Sozial- und Europawissenschaften mögliche Adressat/inn/en dar.
Für die genannten Zielgruppen stellt das Buch eine anregende und wichtige Lektüre dar, die in einem noch nicht weit entwickelten Feld – der europapolitischen Schulbildung – wichtige Impulse liefert.
Rezension von
Prof. Dr. Marion Möhle
Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
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Zitiervorschlag
Marion Möhle. Rezension vom 07.06.2011 zu:
Andreas Eis: Europäische Bürgerschaftsbildung. Die Neukonstruktion der Bürgerrolle im europäischen Mehrebenensystem. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2010.
ISBN 978-3-89974-575-7.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10129.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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