Rolf Becker (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie
Rezensiert von Tobias Brändle, 20.09.2010

Rolf Becker (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
500 Seiten.
ISBN 978-3-531-14794-9.
19,90 EUR.
Reihe: Lehrbuch.
Thema
Das von Rolf Becker herausgegebene „Lehrbuch der Bildungssoziologie“, welches 2009 im VS Verlag erschienen ist, möchte nach eigenem Anspruch mit problemorientierten Beiträgen einen breiten „Überblick über Bildung, Bildungsprozesse, Bildungssysteme, Bildungsexpansion und Folgen für Individuen und Gesellschaft aus soziologischer Perspektive“ (6) geben. Entsprechend befassen sich die Autoren und Autorinnen der sechzehn Beiträge mit verschiedenen Fassetten der Bildungsforschung.
Aufbau und Inhalt
Zu Beginn stellt der Herausgeber in dem Beitrag „Bildungssoziologie – Was sie ist, was sie will, was sie kann“ (9 ff.) dar, dass die Bildungssoziologie von einer „Vielfalt unterschiedlicher theoretischer, methodologischer und empirischer Zugänge“ (9) gekennzeichnet ist und dadurch eine trennscharfe Definition der Bildungssoziologie ist. Trotz dieser Schwierigkeit erfüllt die Bildungssoziologie nach Becker im Wesentlichen drei Aufgaben. Erstens die Aufklärung gesellschaftlicher Verhältnisse, damit zweitens einen Erkenntnisgewinn über gesellschaftliche Phänomene möglich wird und drittens soll sie „Grundlagen für Problemlösungen“ (21) anbieten. Zudem kommt der Bildungssoziologie aus seiner Perspektive eine Vorreiterrolle zu und zwar im Hinblick auf theoretische, wie auch methodische Fortentwicklungen „der modernen Soziologie“ (12).
Obwohl Becker somit eine Offenheit der Bildungssoziologie konstatiert, ist dennoch auffällig, dass sich im Lehrbuch die Mehrheit der Beiträge dem Rational-Choice Paradigma zuordnen lassen. Einige der wenigen Beiträge, welche andere Ansätze vertreten, sind die von Matthias Grundmann zu einer kritischen Begriffsbestimmung von „Sozialisation – Erziehung – Bildung“ (61 ff.), von Walter Herzog zu „Schule und Schulklasse als soziale Systeme“ (155 ff.) sowie von Heike Solga zur „Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit in der Bildungs- und Wissensgesellschaft“ (395 ff.). Grundmann plädiert für eine differenzierte Betrachtung der Triade Sozialisation, Erziehung und Bildung und weist darauf auf deren normative Rahmung hin. Herzog hebt aus einem systemtheoretischen Blickwinkel die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Unterrichtssituation als sozialer Situation hervor und zeigt damit auch Mängellagen der empirischen Bildungsforschung auf. Solga hingegen zieht mehrere theoretische Erklärungsmodelle aus der Mikroökonomie und der Soziologie heran, um das in der Regel wenig beachtete Feld der niedrigst Gebildeten näher zu beleuchten. Dadurch gelingt es ihr nicht nur darzustellen, dass es in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen „eine zunehmende soziale Spaltung zwischen bildungsarmen und (ausreichend) qualifizierten Personen gibt“ (423), sondern auch politische Implikationen von Bildungsbenachteiligung aufzuzeigen.
Bei den übrigen Beiträgen, die das Bildungssystem zumeist in theoretischer und empirischer Perspektive betrachten, fällt das Übergangssystem, welches in der jüngeren Vergangenheit an Relevanz gewinnt, fast durchgängig aus den Betrachtungen heraus, oder wird nur unzureichend betrachtet. Die Ausnahme bildet hier der Text von Mareike Weil und Wolfgang Lauterbach „Von der Schule in den Beruf“ (321 ff.), der überaus differenziert auf die verschiedenen Übergänge in die Ausbildung sowie in den Beruf von Absolventen verschiedener Bildungsgänge eingeht. An dieser Stelle werden auch die Personen, die ihre Schulkarriere ohne Abschluss beenden, ausreichend berücksichtigt und darauf hingewiesen, dass für selbige das Übergangssystem ein Auffangbecken darstellt (vgl. 332).
Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler thematisieren im Gegensatz dazu das obere Ende des deutschen Bildungssystems und fragen in welchem Verhältnis „Hochschulbildung und soziale Ungleichheit“ (281 ff.) stehen. Denselben gelingt zwar eine differenzierte Darstellung der Entwicklung von Ungleichheit im Hochschulwesen, sie lassen jedoch aktuelle Entwicklungen im Hochschulwesen, wie den Bologna-Prozess, weitgehend außer Acht, da dessen Konsequenzen „erst spekulativ absehbar“ (295) seien. Dadurch verpassen sie unter anderem die Chance zu zeigen, dass es auf Grund der Studienstrukturreform gegenwärtig eine Tendenz zur Angleichung von Universitäten und Fachhochschulen gibt. Dessen ungeachtet wird deutlich gemacht dass „die postsekundären Bildungsentscheidungen […] überwiegend durch sekundäre Herkunftseinflüsse gesteuert“ (313) sind und primäre Herkunftseffekte bei diesem Übergang eine vergleichsweise geringe Bedeutung haben.
Im Unterschied dazu beschäftigt sich Hartmut Ditton in seinem Aufsatz „Familie und Schule – eine Bestandsaufnahme der bildungssoziologischen Schuleffektforschung von James S. Coleman bis heute“ (237 ff.) mit den institutionellen Rahmenbedingungen schulischer Bildung. Unter Rückbezug auf Coleman zeigt er auf, dass der Einfluss der Schule gegenüber dem Einfluss der sozialen Herkunft quasi bedeutungslos ist (240 ff.). Auf dieser Basis führt er weiter aus, dass bei Reformbemühungen nicht nur die institutionelle Ebene, sondern auch die jeweilige konkrete Lehr- und Lernsituation und der entsprechende soziale Kontext der beteiligten Akteure zu berücksichtigen sind.
Auch Dirk Konietzka geht auf institutionelle Kontexte von Bildung ein. Im seinem Beitrag zur „Berufsbildung im sozialen Wandel“ (257 ff.) beschreibt er das berufliche Bildungssystem im zeitlichen Verlauf in empirischer Perspektive und geht im Speziellen auf die institutionelle Rahmung der beruflichen Bildung und die damit verbundenen Probleme ein (258 ff.). Dabei bleibt er jedoch auf der deskriptiven Ebene und referiert ausschließlich den gegenwärtigen Stand des Diskurses, ohne wesentlich darüber hinaus zu gehen. Zudem betrachtet er den wichtigen Teilbereich des Übergangssystems nur unzureichend.
Rolf Becker und Anna E. Hecken setzten sich ebenfalls mit beruflicher Bildung, genauer mit beruflicher Weiterbildung, auseinander und analysieren ihre Bedeutung in theoretischer (360 ff.) und empirischer Perspektive (371 ff.). Mit Hilfe der Humankapitaltheorie, der Signal- und Filtertheorie und der Theorie segmentierter Arbeitsmärkte können sie schließlich nachweisen, dass „es im Weiterbildungsbereich durch ungleiche Zugangschancen der einzelnen, vor allem nach Ausbildung differierenden Arbeitskräftegruppen zu weiterer Polarisierung der Beschäftigungschancen kommt“ (385) und somit auch Probleme von Weiterbildung(smaßnahmen) aufzeigen.
Im Zusammenhang mit Steffen Hillmerts Beitrag zu „Bildung und Lebensverlauf – Bildung im Lebensverlauf“ (215 ff.) erscheint dies als logische Konsequenz. Denn Hillmert zeigt entlang mannigfaltiger Beispiele auf, dass letzten Endes „Bildungsprozesse im Zentrum kumulativer lebensverlaufsbezogener Entwicklungen von sozialen Vorteilen und Nachteilen stehen“ (233) und Bildung dadurch zu einer immer wichtiger werdenden Ressource wird.
Wie Rolf Becker und Andreas Hadjar im Vorhinein im Rahmen des Textes „Meritokratie – Zur gesellschaftlichen Legitimation ungleicher Bildungs-, Erwerbs- und Einkommenschancen in modernen Gesellschaften“ (35 ff.) aufgezeigt haben wird dies jedoch von der Bevölkerung nicht als negativ wahrgenommen (47 ff.), solange „Bildung […] als Chance […] jedem gleichermaßen offen steht“ (52). In ihrer, auch empirisch, fundierten Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Meritokratie weisen Becker und Hadjar jedoch auf verschiedene, damit verbundene Problematiken hin und kommen letztendlich, unter Rückbezug auf Solga, zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine „normative Selbstdefinition moderner Gesellschaften für die Begründung und Legitimation sozialer Ungleichheit“ (55) handelt.
Ebenso kritisch geht Heike Diefenbach mit den Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung bezüglich der Benachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund um. In ihrem Beitrag zum „Bildungserfolg von Schülern mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Schülern ohne Migrationshintergrund“ (433 ff.) diskutiert sie verschiedene Erklärungsmodelle des Phänomens und weist auch auf deren empirische und theoretische Schwierigkeiten hin (445 ff.). So vermag sie aufzuzeigen, dass alte, eindimensionale Modelle häufig nicht trennscharf angewandt werden und zur Erklärung der Bildungsnachteile von Schülern mit Migrationsgeschichte multikausale Erklärungsmodelle zu entwickeln sind (452 f.).
Fazit
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass es sich bei dem „Lehrbuch der Bildungssoziologie“ eher um einen Sammelband zu einer bestimmten Spielart der Bildungssoziologie handelt. Die Ansätze, die dem Rational-Choice Paradigma zugeordnet werden können sind klar im Übergewicht zu anderen Ansätzen, die im Feld der (empirischen) Bildungsforschung durchaus vorhanden sind. Durch dieses Ungleichgewicht verliert das Lehrbuch an Brauchbarkeit. Die Möglichkeit auch Studienanfänger an die relevanten Thematiken heranzuführen wird dadurch verpasst, so dass das umfangreiche Buch tatsächlich nur „fortgeschrittenen Studierenden“ (6) und anderen bereits mit dem Feld vertrauten Personen uneingeschränkt empfohlen werden kann. Lässt man das genannte Missverhältnis jedoch außer Acht, so ist Rolf Becker und den Mitautoren und Mitautorinnen mit dem Lehrbuch ein sehr gutes Überblickswerk über die Bildungssoziologie gelungen.
Rezension von
Tobias Brändle
M.A.
Website
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Zitiervorschlag
Tobias Brändle. Rezension vom 20.09.2010 zu:
Rolf Becker (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
ISBN 978-3-531-14794-9.
Reihe: Lehrbuch.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10138.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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