Susanne Schlabs: Schuldnerinnen - eine biografische Untersuchung
Rezensiert von ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Jost, 17.11.2010

Susanne Schlabs: Schuldnerinnen - eine biografische Untersuchung. Ein Beitrag zur Überschuldungsforschung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2007. ISBN 978-3-86649-072-7.
Thema
Die Verbreitung von Überschuldung in Privathaushalten ist in den letzten Jahren zu einem gewichtigen Problem geworden. Dementsprechend ist es durch die sozialwissenschaftliche Forschung aufgegriffen worden, die den Fokus häufig auf Ursachen bzw. auslösende Faktoren legt. Dass Überschuldungsforschung genauso aus biographischer Perspektive erfolgen kann, zeigt vorliegendes Buch. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Frauen zu Schuldnerinnen werden und im Besonderen, welche bedeutenden (Lebens-)Ereignisse und Merkmale im Leben dazu führen, dass krisenhafte Lebensverläufe und Überschuldung entstehen. Betrachtet man Statistiken zeigt sich eine Bandbreite von Ursachen, seien es Scheidungen, Krankheiten, Todesfälle, Straffälligkeit, Bürgschaften, Auto- oder Wohnungskauf bzw. Konsumverhalten. In welchem Kontext und in welcher „Verlaufskurvendynamik“ solche Ereignisse integriert sind, wird aber erst durch eine prozessuale Perspektive, wie es die Biographieforschung bietet, ersichtlich und bearbeitbar.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel werden
sozialstrukturelle und gesamtgesellschaftlich relevante Erkenntnisse
über Frauen im Kontext des Überschuldungsrisikos
präsentiert. Frauen geraten durch ihre Benachteiligung am
Arbeitsmarkt, insbesondere durch geringere Entlohnung und
Teilzeitbeschäftigung - in Verbindung mit einer asymmetrischen
Verteilung von Reproduktionsarbeit - eher in Armutssituationen.
Kommen dann noch andere Faktoren hinzu, können sie zu Auslösern
von Überschuldung werden. Trennungen bzw. Scheidungen stellen
ein besonders kritisches Ereignis dar. Damit verringert sich nicht
nur das familiäre Pro-Kopf-Einkommen. Meist wird auch die
Obsorge des(r) Kinde(r)s übernommen, wobei ausbleibende
Kinderunterhaltszahlungen zur Verschärfung der Situation
beitragen. Die Autorin verweist darauf, dass aber nicht nur die
Marginalisierung am Arbeitsmarkt, sondern auch Lücken im
Kinderbetreuungsangebot und in rechtlichen Regelungen zur exponierten
Lage von Frauen beitragen. Noch schwieriger zu bewältigen sind
diese prekären Lagen dadurch, dass sie gesellschaftlich einer
Stigmatisierung ausgesetzt sind und die Ursachen oftmals eher in den
Kontext persönlicher als struktureller Defizite gestellt werden.
Ergänzt wird das erste Kapitel durch einen Abriss
über Soziale Arbeit und (Schuldner-)Beratung. Die Autorin macht
vor dem Hintergrund eigener Arbeitserfahrungen darauf aufmerksam,
dass biographische Momente in diesem Beratungsfeld weitaus weniger
berücksichtigt werden als in anderen. Sie ist häufig nicht
ganzheitlich konzipiert und beschränkt sich auf den monetären
Aspekt der Schuldenregulierung, also auf die finanziell-rechtliche
Beratungsseite und die lebenspraktische Haushaltsbudgetplanung. Damit
kann weder das Zusammenspiel von Faktoren noch die (biographische)
Dynamik der Ursachen und Folgen von Überschuldung sichtbar
gemacht werden. Krisen, die bereits früher beginnen und in
Überschuldung münden, lassen sich dadurch kaum
identifizieren. Die Gründe für diese „expertokratische“
Beratung liegen nicht nur in der generellen Beratungskonzeption,
sondern auch in mangelnden Zeitkapazitäten. Eine stärkere
Verortung in der Sozialarbeit würde es erfordern, die
psycho-soziale Komponenten der Überschuldung sowie präventive
Maßnahmen gleichgewichtiger zu integrieren. An diesem Punkt setzt
die Studie an: biographische Perspektiven eröffnen eine andere
Zuwendung zum „Fall“, sodass versteckte Ressourcen
erschlossen und die Beratung über die Verschuldung hinaus
nachhaltiger gestaltet werden kann. Daraus erfolgt schließlich
die Spezifizierung des Forschungsinteresses: Dem Übergewicht an
quantitativer Sozialforschung über Bedingungsfaktoren der
Überschuldung wird in der vorliegenden Arbeit die Rekonstruktion
der Genese des kritischen Ereignisses im prozessualen,
lebensgeschichtlichen Kontext entgegengesetzt.
Im zweiten Kapitel verdeutlicht die Autorin die methodologischen Grundlagen als auch das methodische Vorgehen in ihrer Arbeit. Dabei greift sie in ihren Forschungsentscheidungen auf etablierte biographieanalytische Verfahrensweisen zurück: dem narrativen Interview im Erhebungsbereich und den Schritten der „strukturellen Beschreibung“ (Schütze). Wie in biographischen Studien fast schon zum Standard geworden, werden die Vorgangsweisen detailliert beschrieben, aber auch auf Vorstellungen der „Prozessstrukturen des Lebenslaufs“ und des „Verlaufskurvenpotentials“ eingegangen.
Im dritten Kapitel, dem zentralen empirischen Teil, werden schließlich drei Fallanalysen ausführlich präsentiert. Die Darstellung folgt den Auswertungsschritten: zunächst erfolgt die Rekonstruktion der Verlaufskurve, danach die analytische Abstraktion des Selbst und Weltverständnisses sowie – abschließend – das (resümierende) Fallprofil. Im ersten Fall steht die Entstehung der Überschuldung stark im Kontext falscher Ein- und Überschätzungen, sei es von sozialen und personalen Bedingungen oder Handlungsmöglichkeiten. Soziale Normen werden nur unzureichend erworben, (familiale) Differenzen bagatellisiert und gleichzeitig materielle Äußerlichkeiten überbetont. Alle diese Faktoren tragen das Verlaufskurvenpotential der Überschuldung. Der zweite Fall zeichnet sich vor allem durch eine Anpassung an äußere Normgefüge aus, die aus Angst vor elterlichen Sanktionen bereits in der Kindheit entsteht und sukzessive zu Selbstbegrenzung führt. Dadurch werden Krisenanzeichen nicht erkannt und die Verlaufskurve der Überschuldung nicht eingedämmt. Im der dritten publizierten Fallanalyse führt eine starke „milieuspezifische Normenkonformität“ dazu, dass eigene Handlungsentwürfe und die Ausbildung einer Identität zurückgestellt bleiben. Dadurch ergeben sich deutliche Einschränkungen im Handeln und erfolgt vielfach eine Übernahme institutioneller Ordnungsschemata.
Im vierten Kapitel werden die Schlussfolgerungen aus der Kontrastierung der Einzelfälle gezogen und ein Modell mit mehreren Komponenten des Überschuldungsprozesses entwickelt. Ein Moment ist der Erwerb sozialer Normen, ohne dass sie ausgelegt und modifiziert werden und die zu strukturellen Abhängigkeiten führen. Die normative Angepasstheit wird über die eigene Persönlichkeitsentwicklung gestellt, sodass kaum eigenständige biographische Selbstkonzepte erfolgen und Selbsttäuschungsstrategien prekäre Lebenslagen verschärfen. Schließlich kann die Dynamik des Überschuldungsprozesses kaum gebremst werden, weil wenige Ressourcen für die Verarbeitung zur Verfügung stehen.
Diskussion
Die Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus dieser Betrachtung des gesellschaftlichen Kontexts und institutioneller Bedingungen – sowie unter Berücksichtigung des überwiegend quantitativen Forschungsstands – ein biographisch orientiertes Erkenntnisinteresse entwickelt, das sich von bisherigen Zugängen und empirischen Forschungsarbeiten absetzt. Die Vorgangsweise ist gut dokumentiert, die angewandten Methoden ohnehin dem “,mainstream“ biographieanalytischer Vorgangsweisen entnommen. Hervorzuheben sind die gut gegliederten, interessant zu lesenden Falldarstellungen, welche die Rekonstruktionen und Interpretationen beinhalten. Bei sieben interviewten Frauen kann jedoch durchaus darüber nachgedacht werden, inwieweit eine „theoretischen Sättigung“ des verallgemeinerten Modells vorliegt, welches nach den Strukturrekonstruktionen präsentiert wird.
Fazit
Diese Studie erbringt nicht nur interessante Erkenntnisse für den wissenschaftlichen Bereich. Sie verweist auf einen Zugang, wie man die Schuldnerberatung in die Tradition von sozialer Arbeit stellen kann. Es wird deutlich, welche Effekte etwa kritische Ereignisse wie Arbeitslosigkeit oder Scheidungen auf biographische Lebenslagen haben und wie das Überschuldungsrisiko in „übergeordnete“, komplexe biographische Verlaufskurven integriert ist. Die Erkenntnisse machen damit eindrücklich das Potenzial für eine ganzheitliche Beratung ersichtlich und setzen damit auch sozialpolitische Akzente im Hinblick auf die Konzeption von Schuldnerberatungsstellen.
Rezension von
ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Jost
Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, WU, Wirtschaftsuniversität Wien, Department für Sozioökonomie.
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Es gibt 21 Rezensionen von Gerhard Jost.
Zitiervorschlag
Gerhard Jost. Rezension vom 17.11.2010 zu:
Susanne Schlabs: Schuldnerinnen - eine biografische Untersuchung. Ein Beitrag zur Überschuldungsforschung. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2007.
ISBN 978-3-86649-072-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10147.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
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