Theo Röhle: Der Google-Komplex
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 25.10.2010
Theo Röhle: Der Google-Komplex. Über Macht im Zeitalter des Internets.
transcript
(Bielefeld) 2010.
261 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1478-7.
24,80 EUR.
CH: 44,00 sFr.
Reihe: Kultur- und Medientheorie.
Was bedeutet "Macht" im digitalen Zeitalter?
Google ist immer wieder für eine Schlagzeile gut: Als das Unternehmen jüngst, im Sommer 2010, die flächendeckende Erfassung deutscher Straßenzüge durch seinen Dienst "Streetview" ankündigte, löste es nicht nur unter Hausbesitzern eine Grundsatzdiskussion über Datenschutz aus. Doch ist das "Streetview"-Projekt nur eines von vielen aus der jüngeren Unternehmensgeschichte: Seit knapp 12 Jahren am Markt ist Google die weltweit größte Suchmaschine, die laut Wikipedia rund 80% der Suchanfragen abwickelt. Vielen Nutzern ist scheinbar nicht bewusst, dass diese Suchmaschine nicht nur kostenlose Informationen und Dienste anbietet, sondern gleichzeitig auch extensiv Daten über seine Besucher sammelt. Nicht von ungefähr geriet Google damit immer wieder in das Visier von Datenschützern und erwarb sich den Ruf, eine regelrechte "Datenkrake" zu sein. Zweifelsohne hat das Unternehmen eine Vormachtstellung unter den Internetmedien errungen. Aber was bedeutet "Macht" eigentlich im digitalen Zeitalter des Internets? Wie kommt diese Medienmacht zustande, welche Mechanismen und Akteure sind daran beteiligt? Dieser Fragestellung geht Theo Röhle in seinem Buch "Der Google Komplex" nach, indem er unter einer zeitgemäßen machttheoretischen Perspektive eine Analyse der Suchmaschine Google entfaltet.
Entstehungshintergrund
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die Promotionsarbeit des Autors, die Röhle unter dem Titel „Dispositiv Google. Zur Analytik der Suchmaschinenmacht“ an der Universität Paderborn einreichte.
Autor
Theo Röhle absolvierte ein
Studium der Ideengeschichte, der Cultural Studies sowie der Medien-
und Kommunikationswissenschaft an der Universität Stockholm.
Anschließend hatte er in diesem Bereich Lehraufträge an
der Universität Hamburg und Stockholm inne, arbeitete als
Webdesigner und im Verlagswesen. Seit seiner Promotion an der
Universität Paderborn im Jahre 2009 ist er dort Postdoktorand am
Graduiertenkolleg "Automatismen". Seine wissenschaftlichen
Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen Science and Technology
Studies, digitale Wissensordnungen, Überwachung und Macht.
Röhle
betreibt den Blog www.netzmedium.de, der sich "aus mehr oder
weniger wissenschaftlicher Perspektive mit den Themen Internet,
Digitale Kultur und Medien" - so die Selbstaussage - befasst.
Aufbau und Inhalte
Das auf die überblicksartige Einleitung folgende erste Kapitel "Vom Suchen zum Googlen" beschreibt knapp die technische und die Markt-Dominanz der Suchmaschine, die der Grund dafür ist, dass sich umgangssprachlich der Begriff "googlen" als Synonym für "Internetrecherche" etabliert hat.
Nachdem nunmehr geklärt ist, dass weder auf der wirtschaftlichen noch auf der technischen Ebene ein Weg an diesem Global Player vorbei führt, dringt das folgende Kapitel: "Machtkonzepte in der Suchmaschinenforschung" tiefer in die eigentliche Thematik ein: Hier konstatiert Röhle, dass sich Suchmaschinen aufgrund der engen Verschränkung von Mensch und Technik nicht als reine Maschinen bestimmen lassen und andererseits in ihrer Gatekeeper-Funktion weniger Endpunkt eines Machtgefüges darstellen als vielmehr dessen Ausgangspunkt. Daher wählt der Autor eine relationale Sicht auf das Konzept "Macht". Kurz gesagt möchte Röhle statt einer linearen Deduktion eine Vielzahl von teils konkurrierenden, teils widersprüchlichen Faktoren in den Blick nehmen. Dazu erscheint ihm der Ansatz Foucaults als gangbarer Weg.
In "Macht und Medien", dem vierten Kapitel, favorisiert Röhle einen relationalen Machtbegriff - geht es ihm im Sinne Foucaults um die Entschlüsselung "einer den Kräfteverhältnissen immanenten Strategie" (Seite 46). Diese Perspektive, die Röhle durch den Begriff des "Dispositivs" (einer interaktionsstiftenden Struktur) und die Einbeziehung der Akteur-Netzwerk-Theorie vertieft, wird leitend für die weitere Forschungsmethodik der vorliegenden Arbeit sein.
Im direkten Anschluss an die konzeptionellen Ausgangspunkte umreißt das Kapitel "Analysezugänge" den konkreten Untersuchungsgegenstand: die Suchmaschine Google. Analog der Foucaultschen Maxime, Strategien sichtbar werden zu lassen, interessiert sich der Autor für die Mechanismen, durch die eine Suchmaschine Einfluss gewinnen kann. Zentral sind hier die Begriffe "Algorithmus", bzw. "Formalisierung" sowie Datenflussmodelle. Im Blick auf Google sieht Röhle diesbezüglich zwei gegenläufige Mechanismen am Werk: Erstens Konsultation, d.h. die Daten werden an zentraler Stelle bereitgehalten und von der Peripherie (d.h. den Nutzern) abgerufen, und zweitens die Registrierung, bei der die Daten von der Peripherie zum Zentrum wandern. Diese Begrifflichkeiten sind deshalb von Belang, da sie Heuristik und Titel für die nachfolgenden beiden Kapitel liefern:
"Konsultation - die formale Repräsentation des WWW", das fünfte Kapitel, beschäftigt sich auf knapp achtzig Seiten mit der "klassischen" Aufgabe einer Suchmaschine, nämlich damit, wie Informationen gesammelt, ausgewertet und den Nutzern angeboten werden. Technischer gesprochen, deckt Röhle die Bereiche Crawling, Parsing, Ranking, Filterung und Schnittstelle ab. Von eher abstrakten Konzepten wie PageRank und Linktopologie oder der Filterung von Suchergebnissen - wie es im Falle des chinesischen Internetangebotes von Google der Fall ist - kommt der Autor auch auf praxisorientierte Sucheingaben mit Booleschen Operatoren zu sprechen, die am heimischen PC direkt nachvollzogen werden können.
Einen Blickwinkel von der gegenüberliegenden Seite aus nimmt das folgende Kapitel: "Registrierung – formale Repräsentation der Nutzer" ein. Hierbei geht es um die problematische Rolle Googles als Datensammler - ein Umstand, der von Datenschützern häufig angemahnt wird, allerdings nur einer Minderheit der Nutzer in seinen ganzen Ausmaßen bekannt sein dürfte. Google als "obligatorischer Passagepunkt" (Seite 188) für Nutzer wie Anbieter ist nicht nur in der Lage, Informationen zu liefern: Auf der Suchergebnisseite schaltet Google anhand der eingegebenen Begriffe ebenso individuelle Werbeangebote, wie auch über IP-Adressen und Partnerseiten ganze Bewegungsprofile von Nutzern entstehen, die für Werbetreibende durchaus von monetärem Interesse sind. Röhle stellt diesen Bereich detailliert dar und folgert, dass mit der Gleichsetzung von Informations- und Konsumtionsbedürfnissen eine Verschiebung der Suchmaschine in letztere Richtung stattgefunden habe.
Knapp fällt hingegen das siebte Kapitel: "Modulation" aus, in welchem – wir befinden uns ja in einer Dissertation - klassischerweise die Schlussfolgerungen gezogen werden. Knapp nicht zuletzt aus dem Grund, weil der Autor befürchtet, er würde mit einem konzisen Resümee hinter die erbrachten Analyseleistungen zurückfallen. Dennoch eröffnet Röhle zwei weitere Gedankengänge, nämlich die zielgruppenspezifische Werbung angesichts des Wegfalls von homogenen Gruppen in der westlichen Gesellschaft wie auch die Rolle der Nutzer als Arbeitende, da sie ja aktiv zu der Wertschöpfung des Systems beitragen.
Diskussion: Heute Google, morgen … ?
Zunächst einmal sind zwei Dinge festzustellen: Obwohl es sich um einen Promotionsarbeit handelt, bemüht sich der Autor um einen leserorientierten Schreibstil, sodass die Veröffentlichung insgesamt angenehm zu lesen ist, auch wenn es streckenweise um sehr technische Konzepte geht. Zweitens ist anzumerken, dass Röhle nur über einen Teil, aber den wichtigsten, der Medienmacht Google schreibt: die Suchmaschine. Themen wie "Streetview" oder "Google Maps", das mashup von Internet- mit geografischen Daten oder aber das urheberrechtlich nicht unproblematische Digitalisieren literarischer Werke durch "Gooogle Books" kommen nicht zur Sprache. Bei der Vielzahl der Dienste, die teils auch schon im Betastadium angeboten werden, ist dies auch nicht machbar. Ein Rundumblick auf den "Google-Komplex" ist aber auch nicht notwendig, da Röhles Analyse Mechanismen aufdecken will und damit im Bereich zwischen Suchmaschine, Werbung und Tracking bestechende Analysen liefern kann:
Das beginnt mit der theoretischen Position. Ganz im Sinne eines interaktiven "Social Web" - Paradigmas verwendet Röhle ein relationales Machtkonzept, welches nicht von einer substantiellen Machtposition per se ausgeht, sondern von dem Zusammenwirken mehrerer Akteure: den Nutzern, dem Unternehmen Google und den Werbeanbietern. Mit dem Modell eines interaktionsstiftenden Dispositivs im Hinterkopf zeigt Röhle die Mechanismen auf, mit denen es Google gelingt, eine Spitzenreiterposition im Bereich der Suchmaschinen und Werbevermarkter einzunehmen. Dem Autor gelingt es auf diese Weise, dynamische Prozesse der Machtentfaltung und -ausübung im Internetzeitalter darzustellen, statt nur von einem hierarchischen Gefälle zwischen Usern und einer "Supermacht" zu sprechen. In der Analyse erscheint Google nicht nur als Such-, sondern ebenso als Sammel- und Werbemaschine, und letztlich ist es die Verquickung aller drei Bereiche, die dem Unternehmen die Machtposition sichert. Gleichzeitig macht Röhle klar, dass Macht im Internet, obgleich digital, durchaus real zu nehmen ist, da sie beachtliche monetäre Erträge zu erwirtschaften vermag.
Doch sollte Röhles Analyse
nicht mit einem "Nachdenken über Google" verwechselt
werden:
Interessant wäre es nicht nur zu erfahren, wie Macht
zustande kommt, sondern wie diese auch eingegrenzt und kontrolliert
werden kann, sofern man das Internet nicht als gesetzesfreien oder
selbst-referentiellen Raum betrachtet, der allenfalls durch
Selbstverpflichtungen der Akteure eingeengt wird. In der Tat ist ja
viel Misstrauen, welches Google seitens der Datenschützer
entgegenschlägt, auch durch den Umstand begründet, dass
sich das Unternehmen trotz positiver Selbstverpflichtung nicht in die
Karten schauen lässt - kurz: durch mangelnde Transparenz.
Kombiniert mit einer globalisierten Serverstruktur und
länderspezifischer Rechtssprechung, sind Datenschützern
enge Grenzen gesetzt, vom Unternehmen die Einhaltung von Standards
einzufordern.
Die Diskussion um Googles Selbstzensur in China
wirft andererseits die Frage auf, inwieweit global agierende
Suchmaschinen demokratisch anerkannten Standards im Blick auf
Informationsfreiheit genügen müssen. Haben Staaten hier
überhaupt noch ein Einmischungsrecht oder überschreiten wir
mit Google nur die Schwelle in das digitale Zeitalter, wo Praktiken
des Datensammelns und Filterns völlig legitim sind, wie ja auch
die deutsche Bundesregierung jüngst einen
zurückhaltend-entspannten Umgang mit dem Google-Dienst
"Streetview" an den Tag legte? Dies sind weiterführende
Fragen, die sich für mich aus Röhles Analyse
ergeben, welche den Ertrag seiner Analysen aber in keinem Fall
schmälern.
Ernüchternd an der Analyse – aus meiner Sicht – ist, dass auch in der Welt der Neuen Medien vieles beim Alten bleibt, insofern es nämlich der Bequemlichkeit der Nutzer geschuldet ist, worauf Röhles Analyse auch hinweist: Wenn es darum geht, alternative Suchmaschinen zu nutzen oder auf Dienste zu verzichten.
Andersherum ergibt sich das Bild, dass die relationale Machtperspektive zugleich immer auch eine relative ist. Insofern, als dass der Status von Google als Supermacht nicht unantastbar sein dürfte. Google dient bei der Machtanalyse vielmehr als ein Paradigma: Ein berühmtes zweifellos, welches sich auf technischen Vorsprung gründet. Das bedeutet aber auch: Der nächste "Global Player" kommt bestimmt.
Fazit
Theo Röhle zeigt mit der vorliegenden Arbeit die Mechanismen auf, die dem Unternehmen Google eine Position als Medienmacht im Internet sichern. Mit dem innovativen Theorieansatz und den detaillierten Analysen liefert die Veröffentlichung einen interessanten und wichtigen Beitrag zur Medientheorie des Internets.
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 25.10.2010 zu:
Theo Röhle: Der Google-Komplex. Über Macht im Zeitalter des Internets. transcript
(Bielefeld) 2010.
ISBN 978-3-8376-1478-7.
Reihe: Kultur- und Medientheorie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10204.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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