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Hansjörg Meyer: Komponisten mit schwerer Behinderung

Rezensiert von Dr. sc. mus. Monika Nöcker-Ribaupierre, 29.10.2010

Cover Hansjörg Meyer: Komponisten mit schwerer Behinderung ISBN 978-3-7841-1978-6

Hansjörg Meyer: Komponisten mit schwerer Behinderung. Geschichten aus der Musiktherapie. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2010. 150 Seiten. ISBN 978-3-7841-1978-6. 17,00 EUR. CH: 28,50 sFr.

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Thema

Nach seinem Buch „Gefühle sind nicht behindert“ (vgl. die Rezension) legt Hansjörg Meyer ein weiteres sehr praxisorientiertes Buch zu seiner musiktherapeutischen Arbeit mit geistig und schwer behinderten Menschen vor. Obwohl diese Menschen in einer Welt ohne Begriffe, ohne die Bedeutung, die wir den Begriffen geben leben, meist weder über Sprache verfügen oder sie verstehen, kann man mit ihnen auf einer unmittelbaren emotionalen Ebene musikalisch kommunizieren. Der Autor nutzt seine auf tiefenpsychologischem Verständnis fußende musiktherapeutische Kenntnisse und sein musikalisches Können, um die Möglichkeiten und den Wunsch dieser Menschen nach Selbstausdruck über und als Musik zum Klingen zu bringen.

Autor

Hansjörg Meyer ist Musiker, Heil- und Behindertenpädagoge und Musiktherapeut MA. Er arbeitet seit Jahren als Musiktherapeut in Einrichtungen für geistig und mehrfach behinderte Kinder und Erwachsene und hält Vorträge und Seminare über die von ihm für dieses Klientel entwickelte musiktherapeutische Methode der musikbasierten Kommunikation.

Aufbau und Inhalt

Grundlage für die im Buch dargestellte musiktherapeutische Arbeit ist die von Meyer postulierte und ausführlich dargelegte Einheit von Körper, Emotionen und Musik. Weil es schwer behinderten Menschen nur selten möglich ist, mit einem Instrument im eigentlichen Sinne zu spielen, ihnen aber der eigene Körper mit seinen Ausdrucksmöglichkeiten über Atmung, Stimme und Bewegungen zur Verfügung steht, betrachtet Hansjörg Meyer den Körper als Ausgangsmedium für Ausdruck und Mitteilung, als Instrument. Er übersetzt Körpersignale, körperliche und stimmliche Äußerungen, Atemrhythmus, erspürte Stimmungen in Musik – er versteht sich sozusagen als der Interpret dessen, was der behinderte Mensch auf diese Weise "komponiert". Als Interpret arbeitet er mit seinen intuitiven Fähigkeiten, sich in einen Menschen und seine noch unhörbare Musik einzufühlen, dessen kompositorische Absichten zu erspüren und sie in hörbare Musik umzusetzen.

Dieses Buch ist als eine Fortsetzung des oben erwähnten, eher theoretisch gehaltenen Buches gedacht. Hier nun beschreibt Meyer anhand von eindrucksvollen Fallvignetten die musischen Fähigkeiten schwer behinderter Menschen und schildert die Begegnungen mit ihnen auf der musikalischen, schöpferischen und psychischen Ebene. Auf diesen Ebenen ereignet sich nonverbaler Austausch, Kommunikation und Verstehen.

Das Buch besticht durch eine mehrperspektivische Annäherung an sein Thema. Dazu hat Hansjörg Meyer das Buch in drei Abschnitte geteilt, entsprechend der drei verschiedenen Sichtweisen:

  1. als Außenperspektive des Hospitanten in einer Wohneinrichtung für schwer behinderte Menschen unterschiedlichen Alters,
  2. dann ausführlicher die Perspektive des Therapeuten, das Innere, das Erleben eines Klienten zu erspüren und schließlich
  3. eine fiktive Innenperspektive: das vermutete und erspürte Erleben des Klienten selbst.

Die Abschnitte sind getrennt durch theoretische Exkurse zu den Themen: das Postulat einer Einheit von Körper, Gefühlen und Musik – Komponieren mit dem Körper – Drang nach Ausdruck – die Bedeutung der frühen Kindheit für die psychische Entwicklung. In diesen Exkursen werden jeweils die theoretischen Grundlagen zu nachfolgenden Fallvignetten zum Thema erörtert. Immer wieder dazwischen klingt das Erleben des „Komponisten“ durch.

Das Buch ist ein Plädoyer, die Andersartigkeit und den Wert schwer behinderter Menschen anzuerkennen und ihnen mit einer Haltung empathischen Hinspürens zu begegnen. Dabei lädt Meyer in einem abschließenden Experiment den Leser ein nachzuvollziehen, auf welcher Ebene ein schwer behinderter Mensch kommunizieren muss, und er zeigt auf, dass wir alle über die für uns notwendige Voraussetzung, nämlich Intuition verfügen.

Jedes einzelne der vielen unterschiedlichen Fallbeispiele veranschaulicht sehr persönlich und anschaulich die musikalischen und therapeutischen Prozesse der jeweiligen Klienten sowie deren emotionale und soziale Entwicklung. Sie können für mein Empfinden ebenso überzeugend wie jede in diesem Bereich nicht oder nur schwer mögliche empirische Forschung als ein Wirksamkeitsnachweis dafür gelten, dass Musiktherapie bei schwer behinderten Menschen hilfreich und notwendig ist.

Am Ende des Buches findet sich ein informativer Anhang über Einrichtungen für Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung, einem vorwiegend musikalischem Glossar und Literatur.

Diskussion und Fazit

Hansjörg Meyer beschreibt in einer lebendigen, anschaulichen Sprache Wert und Nutzen von tiefenpsychologisch orientierter Musiktherapie mit schwer behinderten Menschen. Es gelingt ihm, mit diesem Buch ein Plädoyer für Musiktherapie zu liefern, dass sich trotz aller Fachlichkeit verständlich und nachvollziehbar nicht nur an Musiktherapeuten, sondern vor allem an Institutionen richtet, in den schwer behinderte Menschen leben, und dabei an Menschen, die dort arbeiten. Sie können hier erfahren und erleben, wie unendlich sinnvoll die therapeutische Arbeit mit Musik für das seelische Wohlbefinden behinderter Menschen und damit auch für die Betreuenden ist. Neben aller fachlichen Kompetenz ist dies ein wunderbar menschliches Buch.

Bleibt nur zu wünschen, dass das Buch am Ende den Wunsch des Autors erfüllt, der Leser möge davon überzeugt sein, dass schwer behinderten Menschen auf der äußeren Ebene vielleicht eingeschränkt und behindert erscheinen, ihr Innenleben jedoch heil und unbeschädigt ist – und dass Musik für sie ein Mittel ist, sich auszudrücken und verstanden zu werden.

Rezension von
Dr. sc. mus. Monika Nöcker-Ribaupierre
Dipl. Musiktherapeutin DMtG, Vice President der International Society for Music in Medicine ISMM.
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Es gibt 25 Rezensionen von Monika Nöcker-Ribaupierre.

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Zitiervorschlag
Monika Nöcker-Ribaupierre. Rezension vom 29.10.2010 zu: Hansjörg Meyer: Komponisten mit schwerer Behinderung. Geschichten aus der Musiktherapie. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2010. ISBN 978-3-7841-1978-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10225.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.


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