Carolin Quenzer: Jugendliche und heranwachsende Sexualstraftäter
Rezensiert von Werner Meyer-Deters, 14.04.2011
Carolin Quenzer: Jugendliche und heranwachsende Sexualstraftäter. Eine empirische Studie über Rückfälligkeit und Risikofaktoren im Vergleich mit Gewaltstraftätern.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2010.
289 Seiten.
ISBN 978-3-86113-103-8.
35,00 EUR.
CH: 57,00 sFr.
Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht
Autorin und Entstehungshintergrund
Die 34-jährige Autorin Carolin Quenzer promovierte am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht mit dieser Untersuchung. Als Dr. phil. Dipl.-Psychologin und postgraduierte Fachpsychologin für Rechtspsychologie, die Rechtspsychologie an der Freien Universität Berlin studierte, arbeitet sie derzeit in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung im Bereich der Gewaltprävention an Schulen.
Ihr knapp 290 Seiten umfassendes Buch, 2010 von der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. herausgegeben, ist die zugleich ihre Dissertation.
Thema
Frau Dr. Quenzer formuliert in ihrer Einleitung sinngemäß den Anspruch, einen kriminalpolitischen Beitrag zur Risikoeinschätzung von jungen Intensivtätern zu leisten und dabei sowohl dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung als auch dem Resozialisierungsanspruch des Jugendstrafrechts dienen zu wollen. Dabei nimmt sie die besonders brisante Gruppe der jungendlichen und heranwachsenden Sexualstraftäter in den Blick, weil, wie sie aus gutem Grund anführt, ein hoher Anteil erwachsener Sexualstraftäter bereits in der Jugend einschlägige Taten begangen hat. Es sei hier von meiner Seite, als Leiter einer Ambulanz zu Behandlung von sexuell übergriffigen Minderjährigen hinzugefügt, gilt dieses insbesondere für sexuelle Kindesmissbraucher, mehr noch als beispielsweise für junge Vergewaltiger und Täter die andere Straftaten gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung begangen haben. Die Vertiefung und Verbreiterung des Wissens über die Genese dieser potentiell hoch traumatisierenden Art von Straftaten, der verbesserten Rückfallrisikoeinschätzung, effektiveren Behandlung und Prognose, ist der Autorin ein zentrales Anliegen, um, wie sie begründet, einer Verfestigung dieses abweichenden Verhaltens entgegenzuwirken.
Das vorliegende Buch dokumentiert die Ergebnisse ihrer differenzierten Beurteilung der Vorhersagegüte des Rückfallrisikos von 6 standardisierten Prognoseinstrumenten, auf der Basis der Aktenangaben von 147 inhaftierten Sexualstraftätern und gleich vielen Tätern nicht sexualisierter Gewalt aus Jugendstrafvollzugseinrichtungen fast aller Bundesländer.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin stellt in ihrem Buch die rechtlichen Grundlagen voran und befasst sich zunächst mit dem Phänomen der Jugendkriminalität und ihrer verschieden Formen an Hand einer Darstellung und Analyse der Kriminal- und Strafverfolgungsstatistik. Sie streift die Dunkelfeldforschung, bevor sie die Theorien der Genese kriminellen Verhaltens darstellt.
Im Anschluss beschreibt sie die bisher entwickelten Messinstrumente zur Vorhersagbarkeit von Gewalt- und Sexualdelinquenz, bevor sie die jugendlichen und heranwachsenden Sexualstraftäter im Vergleich mit Nicht-Delinquenten, Delinquenten, die wegen anderer Straftaten aufgefallen sind, und erwachsenen Sexualstraftätern darstellt.
Im zweiten, zentralen Teil ihres Buches stellt sie ihr Untersuchungsziel und Forschungsdesign vor, beschreibt umfassend und vergleichend ihre Stichprobe der jungen Sexualstraftäter und Gewalttäter. Sie befasst sich recht umfassend mit Vorhersagegenauigkeit und der konvergenten Validität der Tests, Messinstrumente und standardisierten Prognoseverfahren, die sie hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit und Qualität für die jungen Sexualstraftäter überprüft hat.
Die Autorin stellt in ihrem Überblick über die Sexualdelinquenz junger Menschen heraus, in dem sie nationale und internationale Studien skizziert, dass es insbesondere bei der Deliktgruppe der Sexualstraftaten sehr schwer ist, verlässliche Schlüsse über das Ausmaß dieser Gewaltformen zu ziehen, weil von einem besonders hohen Dunkelziffer ausgegangen werden muss. Sie beschreibt weiter gängige Erklärungsmodelle verschiedener Autoren, die zumeist multikausale, individuelle, familiäre und soziale Ursachen für ihr einschlägiges delinquentes Verhalten annehmen. Das Buch von Frau Dr. Quenzer gibt einen knappen, aber alle wesentlichen Theorien beschreibenden Überblick über die prägenden biographischen Aspekte, die zumeist Gewalterfahrungen, Vernachlässigungen, Bindungsprobleme und in der Folge auch psychiatrische Auffälligkeiten der jungen Sexualstraftäter beinhalten. Es skizziert die chemisch in der Regel nicht rein voneinander abzugrenzenden verschiedenen Tätertypen.
Die zusammenfassende Dokumentation von Vergleichsuntersuchungen der jungen Sexualstraftäter mit kriminellen und nicht kriminellen Jugendlichen, zeigt zwar ein uneinheitliches Bild, macht aber deutlich, dass die Unterscheide zwischen Straftätern, die andere Delikte begangen haben und den Sexualstraftätern, nicht so außerordentlich sind, wie gemeinhin vermutet wird. Die Vorstellung, Sexualstraftäter sind gewissermaßen eine exotische und besonders bizarre Gruppe, die wahrscheinlich psychisch schwerer gestört ist als der „gemeine Straftäter“, wird klar von der Autorin entkräftet.
Im Buch wird ein sehr umfassender und zugleich kompakter Überblick über die wichtigsten Studien gegeben, die die Art und das Ausmaß der Rückfälligkeit junger Sexualstraftäter analysieren. Nicht weniger als 45 internationale und nationale Untersuchungen wurden von der Autorin berücksichtigt, gelistet und die vielfältigen, sehr breit gespreizten Ergebnisse werden dargestellt. Von den vielen interessanten Ergebnissen will ich hier herauszuheben, dass das Rückfallrisiko von sexuellen Kindesmissbrauchern erheblich höher ist, als bei jungen Sexualstraftätern, die gleich alte oder ältere Opfer hatten und, im Schnitt die Täter verschiedenster Sexualdelikte, verhältnismäßig oft auch mit anderen Straftaten auffallen. Bei den Untersuchungen von Prädiktoren arbeitet die Autorin die Variablen heraus, die sich besonders bei Hochrisikotätern zeigten. Es wird von ihr zusammenfassend festgestellt, dass in diesem wichtigen Bereich die Forschungslage besonders dürftig ist und mit Recht bemängelt, dass insbesondere protektive Faktoren und Ressourcen kaum im Blick der Forschung sind.
Es gibt bekanntermaßen einige Untersuchungsverfahren zur Rückfallvorhersage erwachsener Sexualstraftäter, aber wenige Instrumente, die sich auf für Jugendliche und Heranwachsende gut eigenen. Die Identifikation von Rückfallprädiktoren bei jungen Sexualstraftätern ist aber besonders wichtig, um, wie die Autorin scheibt, mit gezielten Behandlungsmaßnahmen einer Verfestigung des delinquenten Verhaltens entgegenwirken zu können. Einige Verfahren werden von der Autorin vorgestellt. Im Buch beschrieben und besprochen ist die Checkliste Juvenile Sex Offender Assessment Protocol –II (J-SOAP II) von Prentky und Righthand (2003), über deren Vorhersagegüte es, so die Autorin, nur dürftige Forschungen gibt und die in Deutschland nicht überprüft wurden. Weiter wird das Estimate of Risk Adolescent Sexual Offense Recidivism (ERASOR) von Worling & Crowen (2001) vorgestellt, das Matthias Schmelzle (2003) dankenswerterweise in Deutsche übersetzte und unermüdlich für eine recht breite Verwendung in den Fachambulanzen und stationären Einrichtungen für minderjährige sexuelle Missbraucher im deutschsprachigen Raum sorgte, weil es auch für die Diagnostik Behandlungsplanung gut eingesetzt werden kann, aber, so das Fazit von Frau Dr. Quenzer einschränkend, als Vorhersageinstrument empirisch noch nicht abgesichert ist.
Die Validierung geeigneter Prognoseverfahren ist schon bald drei Jahre nach der Verabschiedung des „Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilten nach Jugendstrafrecht“ vom 08.07. 2008 dringend geboten, damit über das Wohl und Wehe dieser jungen Menschen und ihre Aussicht auf ein Leben in Freiheit, verantwortungsvoll entscheiden werden kann und nicht so sehr das Sicherheitsdenken, sondern eine maximal mögliches Risikobewusstsein für das Recht der jungen Menschen auf eine neue Chance die Entscheidungen dominiert.
Den Schwerpunkt des Buches bildet die umfassende Darstellung der eigenen Untersuchung der Autorin. Sie nutzte die oben genannten, zumeist im angloamerikanischen Raum entwickelten Prognoseverfahren zur Untersuchung der Vorhersagegüte, an ihrer recht großen Stichprobe. In ihrem Buch sind die standardisierten Erhebungsbögen abgedruckt. Als Prognoeinstrumente kamen nicht nur die genannten Verfahren vergleichend zur Anwendung, sondern auch das Youth Level of Service/Case Management Inventory (YLS/CMI) von Hoge & Andrews (2006), Stuctured Assessment of Violence Risk in Youth (SAVRY)von Batel, Borum & Forth (2000) und die Psychopathy Checklist: Youth Version (PCL:YV), in der deutschen Übersetzung von Rieger, Stadtland & Nedopil (2006). Zu Vergleichszwecken nutzte die Wissenschaftlerin zudem noch das Static-99 von Hanson & Thornton (1999) und konzipierte und bewältigte so eine außerordentlich breite Untersuchung, deren Lektüre ich darum für alle in der Jugendstrafrechtspflege und Therapie engagierten Fachleute nur empfehlen kann.
Dr. Quenzer stellte der Darstellung ihrer eigenen Untersuchung eine genaue Beschreibung ihrer beiden vergleichenden Stichproben aus den Jugendstrafanstalten voraus, die für sich genommen schon sehr umfassend interessant ist. Die Autorin definiert die Rückfallkriterien der Untersuchungsgruppe auf der Basis der Erfassung im Bundeszentralregisters (BZR) und den Katamnesezeitraum von 6 bis 8 Jahren. Genau und gut nachvollziehbar dokumentiert sie ihre Untersuchungsmethode und ihr, die beiden Untersuchungsgruppen betreffendes, vergleichendes Vorgehen. In vielen Grafiken, den weit über 50 Abbildungen, werden von ihr die Ergebnisse und die Vorhersagegenauigkeit der verschiedenen Prognoseinstrumente dokumentiert, die Ergebnisse dezidiert erläutert und miteinander verglichen.
Im letzten Abschnitt werden die Ergebnisse ihrer Untersuchung mit den oben genannten Studien in Zusammenhang gebracht und auch die vielen Schwierigkeiten der vergleichenden Untersuchung und Begrenzungen kritisch von der Verfasserin diskutiert. Eine Schwierigkeit war z.B, dass ihre eigene Stichprobe „nur“ aus inhaftierten Tätern bestand. Auch das Problem ihrer Studie, dass die Deliktbreite nicht weniger Täter Gewaltdelikte, Sexualstraftaten- und andere Delikte umfasste, wurde von ihr kritisch berücksichtigt. Die Daten zur Rückfälligkeit ihrer Stichprobe werden zudem beschrieben und von der Autorin interpretiert. Demnach wurden vier Fünftel der Probanden der Gesamtstichprobe rückfällig, wobei es bei den Sexualstraftätern interessanterweise nur 11 Prozent waren. Allerdings wiesen die von ihr untersuchten Missbrauchstäter ein drei Mal so hohes Risiko auf, erneut ein Sexualdelikt zu begehen, wie die Vergewaltiger, um nur ein besonders bemerkenswertes Datum in dieser Rezension aufzugreifen.
Die Validierung der genannten, von Frau Dr. Quenzer angewandten Prognoseinstrumente, hinsichtlich ihres Vorhersagewertes für ihre Stichprobe, wird schlussendlich dokumentiert und für jedes einzelne Untersuchungsverfahren getrennt vorgestellt. Frau Dr. Quenzer spricht differenzierte Empfehlungen zur Eignung der Instrumente mit Blick auf verschiedene Zielgruppen aus, je nach Fragestellung Rückfallrisikoeinschätzung oder Behandlungsplanung.
Im Ausblick gibt die Autorin wichtige Anregungen für zukünftige Forschungsarbeiten, die die ganze Bandbreite der Untersuchungsgruppen betrifft. Nicht zur Freiheitsstrafen verurteilte Sexualstraftäter, lediglich in ambulanten Maßnahmen, oder erzieherischen Einrichtungen befindliche sexualdelinquente junge Menschen, aber auch Minderjährige und Heranwachsende, auch aus einschlägigen Gründen in stationärer psychiatrischer Behandlung sind, sollten in den Blick genommen werden. Kritisch wird von ihr auch angemerkt, dass in der Untersuchung als Kriterium für den Rückfall „nur“ die rechtskräftige Verurteilung zu Grunde gelegt werden konnte.
Fazit
Dies ist das Verdienst der Autorin: Die vorgestellten Prognoseverfahren wurden erstmalig bei Inhaftierten im deutschen Jugendstrafvollzug, in 10 verschiedenen Jungendstrafanstalten systematisch angewandt. Damit hat Frau Dr. Quenzer für die Praxis einen wichtigen Impuls gesetzt. Es ist auch zu hoffen, dass das eine Anregung für den Jugendstrafvollzug ist, valide Diagnosemethoden und Instrumente als Bestandteil der Behandlung, Begutachtung, Risikoeinschätzung und Prognose zu implementieren. Dies gilt jedoch nicht nur für die Justiz und den Vollzug. Initiativen zur praktischen Nutzung der Instrumente auch im Rahmen der Jugendgerichtshilfe, in der Praxis gerichtlich bestellter Gutachterinnen und Gutachter, in der klinischen und ambulanten Praxis und in den stationär- erzieherischen Maßnahmen sind gefragt. Damit kann die Qualität der Interventionen gegenüber jungen Sexualstraftätern durch die Fachkräfte , die in den unterschiedlichsten Kontexten Verantwortung für diese jungen Menschen tragen verbessert werden. Für diese Fachkräfte ist dieses Buch ein Gewinn und eine wichtige Anregung.
Rezension von
Werner Meyer-Deters
Leiter Ambulante Rückfallvorbeugung für minderjährige sexuelle Missbraucher der Beratungsstelle NEUE WEGE in Bochum
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