Wolfgang Jantzen: De-Institutionalisierung in einer Großeinrichtung [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Jörg Michael Kastl, 16.12.2003
Wolfgang Jantzen: "...die da dürstet nach Gerechtigkeit" : De-Institutionalisierung in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe. Wissenschaftsverlag Volker Spiess GmbH (Berlin) 2003. ISBN 978-3-89776-004-2. 29,90 EUR.
Das Thema: Deinstitutionalisierung in der Behindertenhilfe
Menschen, die in Heimen und Anstalten leben, sind einem Alltag ausgesetzt, der zwangsläufig von Verwahrung und Separierung geprägt ist. Selbst bei noch so gutem Willen der professionellen Verwalter verliert das Leben in einer Anstalt niemals den Charakter einer "Ver-Anstaltung", ist die Wahrung von so etwas wie Privatsphäre, die autonome Strukturierung des täglichen Lebens sehr deutlichen Grenzen unterworfen - von den vielfältigen Erscheinungen emotionaler und sozialer Deprivation, von Zwangsmedikamentierung und faktischer Isolationshaft noch gar nicht zu reden. Dass der Alltag der "totalen Institution" (Goffman) immer, ob gewollt oder nicht, Ausdruck von Herrschaft, letztlich eine Form (struktureller) Gewalt ist, dies machen die in dem von Wolfgang Jantzen vorgelegten Band " '...die da dürstet nach der Gerechtigkeit' Deinstitutionalisierung in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe" versammelten Arbeiten nachdrücklich deutlich. Nicht nur, dass diese Herrschaft gerade die elementarsten und intimsten Lebensvollzüge und Spielräume (Schlaf- und Wachzeiten, Waschen, Einnahme von Mahlzeiten, Sprechen und Angesprochenwerden, Dösen, im Haus bleiben oder es verlassen, den Gang zur Toilette) dem Regiment von Dienstplänen und "Betreuungszeiten" unterwirft. Sie setzt wie von selbst einen Sozialisationsprozess in Gang, eine Gewöhnung an eine Form der verwalteten Existenz, deren Ergebnis dann sehr oft die Behinderung ist, die man zur Rechtfertigung der Verwahrung ins Feld führt: "Der Johannes kann nicht..., die Rosi darf nicht..., die Hilde wird niemals ..."
"Deinstitutionalisierung" meint einen Prozess, bei dem institutionelle, organisatorische, bürokratische Formen der Fremdverwaltung des Lebens behinderter Menschen abgebaut werden und ihnen die Gestaltungskompetenz für ihr tägliches Leben (schrittweise) wieder übereignet wird. Im Gegensatz zu "Enthospitalisierung" (die noch als eine Art "Ausgliederungsprozess", der den Menschen angetan wird, verstanden werden könnte), besagt "Deinstitutionalisierung" in den Worten Klaus Dörners: "dass es nicht darum geht, Menschen zu ändern, sondern Institutionen zu ändern und ihren Institutionalisierungsgrad so lange zu senken, bis die von ihnen gelähmten Menschen wieder wahl- und entscheidungsfähig werden und selbstständiger leben können". "Deinstitutionalisierung" ist im konsequentesten Fall gleichbedeutend mit der Auflösung sogenannter stationärer Einrichtungen oder bestimmter Abteilungen (z.B. in England und den skandinavischen Ländern, in Deutschland nach wie vor die Ausnahme). Der Begriff kann aber auch Flexibilisierungs- und Dezentralisierungsprozesse unterschiedlicher Reichweite meinen: Bildung kleinerer Wohneinheiten, Ausbau personenbezogener Dienstleistungen, Öffnung zur gesellschaftlichen Umwelt, "gemeindeintegrierte" bzw. "ambulant betreute" Wohnformen. In Deutschland steckt dieser Prozess trotz einiger prominenter Beispiele, wie etwa dem Kloster Blankenburg bei Bremen oder der Westfälischen Klinik Gütersloh, noch in den Anfängen. Schuld daran sind nicht zuletzt auch verkrustete und fehlgeleitete sozialrechtliche Zuständigkeiten. Aber Deinstitutionalisierungsprozesse werden die Zukunft der Behindertenhilfe des nächsten Jahrzehnts bestimmen: wenn nicht aus fachlichen und ethischen, dann aus ökonomischen Gründen. Die derzeitig überwiegend stationär ausgerichtete "Eingliederungshilfe" für behinderte Menschen steht kurz vor dem finanziellen Zusammenbruch. Desto dringlicher sind in dem bevorstehenden Balanceakt zwischen den Bedürfnissen und Selbstbestimmungsansprüchen der betroffenen Menschen, einer neu zu definierenden Rolle von professioneller Hilfe und Ressourcenknappheit qualifizierte und möglichst facettenreiche Erfahrungsberichte über Deinstitutionalisierungsprozesse notwendig. Diesem Anspruch kann - das sei gleich vorneweg gesagt - das Buch von Jantzen leider nur bedingt gerecht werden.
Vorgeschichte und Entstehungskontext
Wolfgang Jantzen, Professor an der Universität Bremen und profilierter Vertreter einer materialistischen Behindertenpädagogik war am Umbau einer Wohneinrichtung für ursprünglich 300 schwerstbehinderte Frauen und Männer direkt als Akteur beteiligt. Dies geschah in den sehr verschiedenartigen Rollen des "außenstehenden Kritikers", des als gesetzlicher Betreuer und Elternbeirat Mit-Betroffenen, des wissenschaftlichen "Beraters", "Gutachters", "Begleitforschers". Auch als Wissenschaftler betreibt Jantzen dem Anspruch nach "Aktionsforschung", d.h.: "Allgemeinstes Ziel dieser Forschung ist es," schreibt Jantzen, "den Akteuren in einer sozialen Situation zunehmend Wissen über sich selbst in dieser Situation zu ermöglichen, indem die Begleitforschung sie beim Aufbau dieses Wissen unterstützt." (Seite 168). Ziel dieses Unternehmens im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Theorie und institutioneller Praxis ist es: die Institution zu verändern.
Anfang der 90er Jahre kam es innerhalb der Einrichtung des damaligen "Evangelischen Hospitals Lilienthal" zur offenen Zuspitzung einer jahrzehntelang schwelenden Krise: Unterversorgung der z.T. schwerst behinderten Menschen, pädagogische Betreuungszeiten pro behinderter Bewohner/in von gerade mal fünf Minuten am Tag (!), eine Aushöhlung medizinischer und psychologischer Dienstleistungen, Überbürokratisierung, eine hohe Arbeitsunzufriedenheit und Fluktuation der Mitarbeiter/innen, akuter Vertrauensverlust der damaligen Leitung. Verschiedene Interventionen von außen (u.a. der Heimaufsicht, sowie des Organisationsgutachtens eines Psychiaters) gipfelten dann 1993 in dem sogenannten "Lilienthaler Memorandum", das den Ausschlag für die Einleitung des Reformprozesses gab. An diesem Memorandum war der Autor als Mitverfasser beteiligt. In der Folge übernahm Jantzen für zwei Jahre den Vorsitz des Eltern und Betreuerinnenbeirats, zugleich setzt eine Beratungstätigkeit auf verschiedenen Ebenen ein. Zwischen 1995-1998 führt Jantzen mit Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen sogenannte "Fachberatungen" durch. Bis 2000 berät Jantzen die Einrichtung noch zu einzelnen Aspekten, bis dann im Dezember die Zusammenarbeit auf Jantzens Wunsch hin beendet wird. Vorausgegangen waren, wie Jantzen schreibt, "Differenzen und unterschiedliche Einschätzungen" (Seite 2).
Übersicht
Der Band ist konzipiert als Sammlung von Dokumenten der Interventionen des Autors in diesen Prozess und deren methodische, ethische und professionelle Selbstreflexion. Er enthält zum Teil bereits anderweitig, zum Teil erstmalig veröffentlichte Vorträge, Arbeitspapiere und sogenannte "Gutachten". Die Dokumente werden in drei Teile gruppiert. Einer knappen Einführung folgt ein erster Teil mit dem Titel "Soziologie eines Reformprozesses". Er enthält ausschließlich bereits veröffentliche Dokumente zum Lilienthaler Reformprozess. Teil II "Institutionelle Gewalt und Rehistorisierung: Geschichten" enthält zum Teil unveröffentlichte Dokumente mit einzelfallbezogenen, sogenannten "rehistorisierenden" Analysen der Lebensumstände und -Geschichte von BewohnerInnen. Teil III "Geistige Behinderung als Gewaltverhältnis: Zur Soziologie behindernder Institutionen" verlässt den Bezugsrahmen der Lilienthaler Einrichtung und führt die Leserin und den Leser endgültig auf die Ebene kategorialer Diskussionen.
Durchgang im Detail
Die in der ersten Abteilung des Bandes versammelten
programmatischen Vorträge und Arbeiten Jantzens waren selbst Teil des ab 1993
einsetzenden Reformprozesses. Darunter findet sich das bereits erwähnte
Lilienthaler Memorandum sowie in der Folge entstandene Vorträge von Jantzen vor
den Mitarbeiter/innen der Einrichtung. Im wesentlichen geht es darin um die
Entfaltung einer Programmatik der Umgestaltung und um die Erarbeitung konkreter
Vorschläge (z.B. Entbürokratisierung- und -Hierarchisierung, Umgestaltung des
Geländes, Dezentralisierung von Wohn- und Verwaltungseinheiten, Öffnung
gegenüber der gesellschaftlichem Umwelt, Gewinnung von "Laienhelfern",
Einbeziehung bürgerschaftlichen Engagements und gemeindebezogener Strukturen
und Aktivitäten). Diese Vorschläge sind heute im Grundsatz Allgemeingut eines
sozusagen "reformistischen" Verständnisses von "Deinstitutionalisierung", ohne
deswegen auch nur annähernd selbstverständlich und überall realisiert zu
werden. Insbesondere den beiden ersten Beiträgen lassen sich immerhin Hinweise
auf typische Problemlagen des Reformprozesses entnehmen: so etwa die für die
institutionenorientierte Denkweise typische Tendenz nach "Fitten" und
sogenannten Schwerstbehinderten zu unterscheiden, die Immunisierung der Profis
gegenüber Kommunikations- und Strukturierungskompetenzen der behinderten Menschen,
die Schwierigkeiten bei der Organisation "ambulanter" Dienstleistungsangebote
oder bei der Stärkung einer wirklichen
personenbezogenen Diagnostik und Förderung. Besonders bedeutsam
erscheint in diesem Zusammenhang Jantzens Ratschlag an die Praktiker "Feste
Kerne in den Gruppen
An solchen Argumentationsfiguren zeigt sich Jantzens spezifische Position in der Deinstitutionalisierungsdebatte: sie läuft im Grunde genommen auf ein Plädoyer für die Ausbildung einer "wirklich" professionellen (d.h. einzelfallorientierten und auf eine "verschüttete" oder/und zukünftige Autonomie der Lebenspraxis der Bewohner hin ausgerichtete) Diagnosekompetenz auf Seiten der MitarbeiterInnen der Einrichtungen hinaus. Hier sieht Jantzen offensichtlich den Ansatzpunkt für eine Veränderung der Institution und eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von Deinstitutionalisierungsprozessen. Konsequenterweise mündet bereits der erste Teil des Bandes in methodologischen Überlegungen zu der sogenannten "rehistorisierenden Diagnostik". Der Autor spielt diese Methode den Mitarbeiter/innen als Instrument für ein neues professionelles Selbstverständnis und damit auch für eine Veränderung der institutionellen Praxis ihres Arbeitszusammenhangs in die Hände.
Damit wird auch der zweite Teil des Buches schon vorbereitet. Er ist überschrieben mit "Institutionelle Gewalt und Rehistorisierung: Geschichten". Dieser Teil des Buches spiegelt die "zweite Phase" des Engagements des Autor im Reformprozess der Lilienthaler Einrichtung wieder, eine Phase, die geprägt war von "bewohnerbezogenen Rundtischgesprächen in Form von Fachberatungen". Diese Gespräche sollten vor allem Zugänge zum Verstehen der "hospitalisierten Bewohner" ermöglichen, das "Schweigen brechen", Wege frei legen, um die hospitalisierten Bewohner aus dem Status der Geschichts-Losigkeit zu holen. Jantzens Methode der "rehistorisierenden Diagnostik" hat die Funktion "eine Geschichte erzählbar zu machen, die erstmalig Verstehen ermöglicht und damit die Ausgrenzung beendet" (Seite 62). Sie zielt auf eine Entschlüsselungsarbeit, die vom methodischen Anspruch und Ansatz her manches mit Psychoanalyse und verschiedenen Formen sozialwissenschaftlicher Hermeneutik (vgl. etwa Oevermanns "objektive Hermeneutik") gemeinsam hat. Insbesondere bei Menschen, die nicht sprechen, müssen scheinbar "pathologische" Symptome (Stereotypen, Autoaggressivität, "Murmeln hinter dem Bett sammeln", "Puppen die Köpfe abreißen", "Stimmen hören") als Ausdrucksgestalten, d.h. als verstehbare, sinnstrukturierte und damit geschichtliche Phänomene wahrgenommen (und beantwortet!) werden. Anders als in der Psychoanalyse bezieht Jantzen diese Hermeneutik in der Tradition der russischen kulturhistorischen Schule (Wygotski, Lurija u.a.) von vorne herein ebenso auf biologische Strukturen wie auf das institutionelle Feld und damit auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, zu denen diese Ausdrucksformen eine Antwort oder Stellungnahme darstellen. In beeindruckender und dichter Weise gelingt eine solche "rehistorisierende Diagnostik" in dem über 50 Seiten langen Kerntext des zweiten Teils, eines von Sonja Kurpiers und Danielle Ferrari verfassten "Gutachtens" zur Biografie und Lebenssituation eines seit seiner Kindheit in Lilienthal lebenden Mannes ("Johannes P."). Das Fallbeispiel führt anschaulich vor Augen, worin die "Gewaltverhältnisse" bestehen, die in den theoretischen und methodologischen Beiträgen des Readers manchmal allzu rituell beschworen werden. Es führt aber auch vor Augen, wie ein Durchbrechen der Geschichtslosigkeit dazu führen kann eine Perspektive in der "ewigen Wiederkehr von Gegenwart" (Dörner) des Anstaltslebens aufzureißen.
Die vier anderen in dem Teil vorgestellten "Geschichten" reichen dagegen an diese Dichte nicht heran, sie tragen wenig oder nichts zur Darstellung oder zum besseren Verständnis der Methode bei und verärgern zum Teil ausgesprochen: beispielsweise besteht Kapitel 8 aus einem Text, der ebenso gut einem traditionellen Arztbericht entnommen sein könnte, und beispielsweise reduziert das von Dagmar Meyer verfasste Kapitel "Geistige Behinderung und Dissoziation" die Fallinterpretation auf das Niveau eines Einsprengsels zur Exemplifizierung ethisch-pädagogischer bzw. methodologischer Prinzipien.
Der dritte Teil des Bandes greift das Stichwort "Soziologie" ("Geistige Behinderung als Gewaltverhältnis: Zur Soziologie behindernder Institutionen") wieder auf. Auch hier erweckt der Titel allerdings teilweise falsche Erwartungen. Im ersten Beitrag diskutiert Jantzen ein Verständnis geistiger Behinderung, das sich in den vorangegangenen Beiträgen immer wieder ankündigte. Es stellt Modelle bereit, die Dimension der institutionellen bzw. "strukturellen Gewalt", in der (geistig) behinderte Menschen in Anstalten leben, nicht als der Behinderung äußerlich, sondern - bis in die neurobiologischen Gegebenheiten hinein - als (mit-)konstitutiv zu denken. Was die Soziologie betrifft, so rekurriert Jantzen, v.a. in dem zweiten Beitrag des dritten Teils "Lebensqualität statt Qualitätskontrolle" auf Goffmans nach wie vor bewährten Begriff der "totalen Institution" sowie auf eine ganze Reihe weiterer soziologischer bzw. sozialwissenschaftlicher Autoren. Ein weiterer Beitrag formuliert eine vehemente Kritik an der eigenen Disziplin, der Behindertenpädagogik. Jantzen möchte ihr sozusagen die "Samthandschuhe paternalistischer Herrschaft" entreißen, wenn er versucht nachzuweisen, welche Rolle Gewalt unter den Masken professioneller Ideologien als Fundament der Behindertenpädagogik spielt. Dazu passend beschließt eine ideologiekritische Reflexion zum Begriff des "Dialogs" den Band.
Kritik
Der Durchgang durch die sehr heterogenen Beiträge des Readers zeigt: Wer (durch den Titel gelockt) einen differenzierten Einblick in die Realität und Dynamik, die Verästelungen, Widersprüche und praktischen Hemmnisse eines Deinstitutionalisierungsprozesses erwartet, dürfte insgesamt enttäuscht werden. Die Realität des Lilienthaler Prozesses bleibt im Grunde genommen ausgeklammert. Man erfährt allenfalls in Andeutungen, was sich zugetragen hat. Damit ist auch das von Jantzen immer wieder ins Spiel gebrachte Stichwort "Soziologie" irreführend, wenn denn Soziologie eine Erfahrungswissenschaft und nicht ein Sammelsurium montierbarer Begrifflichkeiten sein soll. Die in dem Band versammelten Beiträge sollten "unmittelbar und detailliert die Soziologie des Veränderungsprozesses in seiner Komplexität spiegeln." (S. 2), so Jantzens Anspruch. An diesem Anspruch gemessen, kann man das Buch nur als nicht gelungen einschätzen. Gewiss, Jantzen rekurriert immer wieder auf freilich sehr allgemeine und abstrakte Grundbegrifflichkeiten soziologischer und außersoziologischer Theoretiker (u.a. Bourdieu, Marx, Basaglia, Gramsci, Adorno, Ahrendt, Foucault u.v.a.). Gewiss, Jantzens Anknüpfung an die kulturhistorische Schule (Wygotski, Lurija, Leontjew) vermag der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Theorie ohne Zweifel wichtige Impulse zu verleihen und natürlich ist die Verknüpfung einer Institutionentheorie mit einem nicht mehr biologistisch aufgefassten Verständnis von "Behinderung" eine "soziologische" belangvolle Perspektive. Aber insgesamt stehen diese theoretischen, methodologischen und z.T. ethischen Versatzstücke in einem schroffen Missverhältnis zu der stiefmütterlich behandelten empirischen, "materialen" Dimension des Buches. Abgesehen von dem erwähnten Gutachten zu Johannes P. hätte man große Mühe, es selbst einen "Erfahrungsbericht" zu nennen. Der Autor verweigert uns diese Erfahrungen. Jantzen gelingt es nicht, dichte Beschreibungen zu produzieren, die aus sich heraus auf eine kategoriale, "theoretische" Ebene hinüber leiten würden (eine Vorgehensweise, die doch dem von Jantzen offenbar geschätzten Adorno sehr entspräche!)
Zielgruppe
Wer das Buch, diese Enttäuschung erst mal zum Ausdruck gebracht, unter der Prämisse akzeptieren kann, dass es sich sozusagen um einen unabgeschlossenen Werkstattbericht im Nachhinein handelt, der mag trotz seiner Schwächen davon profitieren und es als das lesen, was es auch ist: ein Dokument eines intensiven und beeindruckenden Engagements im Spannungsfeld von Theorie, Wissenschaft und Praxis. Von daher gesehen dürfte es vor allem solche Leserinnen und Leser ansprechen, die sich selbst im Feld zwischen Hochschule und Praxis der Behindertenhilfe bewegen. Und hinzuzufügen wäre vielleicht: die das mit derselben Leidenschaft und Intensität tun wie offensichtlich der Autor. Für LeserInnen, die ausschließlich in der praktischen Arbeit der Behindertenhilfe stehen, ist ein erhebliches Interesse an theoretischen Konzepten Voraussetzung, ansonsten dürften die Beiträge wenig Anregungen geben.
Fazit
Als Fazit bleibt der Eindruck eines Bandes, der als Buch nicht gut gemacht ist, der aber in einigen beeindruckenden Passagen Versprechungen macht, die man eigentlich beim Autor einklagen möchte. Und dazu gehört für den Rezensenten nicht primär die weitere Ausarbeitung von theoretischen Querverbindungen, die irgendwann zwangsläufig in einer Scholastik münden müssen, sondern der Ausarbeitung einer gründlichen und mit der notwendigen Ruhe verfassten Dokumentation, Beschreibung und nüchternen Analyse des wirklichen Deinstitutionalisierungsprozesses der Lilienthaler Einrichtung. Wir brauchen - dies sei vor allem im Hinblick auf die im Feld der Behindertenhilfe anstehenden, einschneidenden Veränderungen gesagt - dringend öffentlich verfügbare "Geschichten" solcher Prozesse, "rehistorisierende Diagnostiken" von Einrichtungen - und eben auch, das gehört zusammen - ausgearbeitete und zugängliche Analysen mit ähnlichem Modellcharakter wie die zu Johannes P.. Erst dann wird man, denke ich, in der gebotenen Konkretheit sehen können, dass "Deinstitutionalisierung" nicht gleichbedeutend sein kann mit "Deprofessionalisierung", sondern im Gegenteil mit der Ausbildung eines professionellen Habitus verbunden sein muss, den es unter den Bedingungen der "Verwahrung" schwerstbehinderter Menschen noch nicht geben kann. Dem Autor Wolfgang Jantzen wäre genügend Zeit und Ruhe zu wünschen, uns dieses Buch, so bald es irgend geht, noch zu schreiben.
Rezension von
Prof. Dr. Jörg Michael Kastl
Professor für Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik. Arbeitsgebiete: Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung, Rehabilitation/Teilhabe behinderter Menschen (Persönliches Budget, IFD); Berufs- und Professionssoziologie; Sozialrecht und Sozialpolitik (spez. Rehabilitation); Sozialisationsforschung und allgemeine Soziologie
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Es gibt 14 Rezensionen von Jörg Michael Kastl.
Zitiervorschlag
Jörg Michael Kastl. Rezension vom 16.12.2003 zu:
Wolfgang Jantzen: "...die da dürstet nach Gerechtigkeit" : De-Institutionalisierung in einer Großeinrichtung der Behindertenhilfe. Wissenschaftsverlag Volker Spiess GmbH
(Berlin) 2003.
ISBN 978-3-89776-004-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1024.php, Datum des Zugriffs 14.10.2024.
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