Franz Ruppert: Symbiose und Autonomie
Rezensiert von Prof. Dr. Margret Dörr, 20.07.2011
Franz Ruppert: Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2010.
250 Seiten.
ISBN 978-3-608-89099-0.
27,95 EUR.
CH: 39,90 sFr.
Reihe: Leben lernen - 234.
Thema
Nur mühsam hat sich ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür entwickelt, dass Menschen, auch Kinder in ihren Familien, durch traumatisierende Gewalterfahrungen akute und auch nachhaltig andauernde psychische Schäden davon tragen. Zuletzt trug auch das Öffentlichmachen der zahlreichen Missbrauchfälle in katholischen und reformpädagogischen Institutionen zu dieser Aufklärung bei. Ein Sachverhalt der es allererst ermöglicht, dass traumatisierte Menschen - mittels der Erfahrungen von Anerkennung ihres Leidens - die erforderlichen Teilhabechancen in der Gesellschaft (rück)gewinnen können. Gleichwohl wird derzeit der Terminus „Trauma“ in den verschiedensten Bereichen von Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychiatrie und Soziale Arbeit nahezu inflationär in Gebrauch genommen. Doch wie verschieden er auch verstanden wird, er bedeutet immer das massive Einwirken von außen auf die Psyche des Individuums, mit destruktiven, psychisch nicht zu integrierenden Folgen. Aber genau genommen kann „Trauma“ nie als ein peinvolles Ereignis allein dastehen, sondern ist als ein komplexes Prozessgeschehen zu begreifen, als „Traumatisierung“: Eine Gewalteinwirkung erzwingt - als Notmaßnahme - Abwehrreaktionen des Opfers. Als vorherrschende Bewältigungsversuche werden in der klinischen Forschung ‚Dissoziation‘ und ‚Internalisierung der Gewalt‘ beschrieben. Diese kaum gelingenden Abwehrmechanismen haben wiederum Langzeitfolgen, die als zusätzliche (selbst)destruktive Symptome der Traumatisierten imponieren. Nun wird in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontexten recht gut begründet zwischen zwei Typen von Traumata unterschieden: Wahrend es sich beim Typ 1 Traumata „um kurz dauernde traumatische Ereignisse, häufig mit starker öffentlicher Beachtung, wenig Scham oder Geheimhaltung wie Naturkatastrophen, Unfälle, Gewalttaten oder z.B. Schulmassaker oder technische Katastrophen [...]“ (Terr 1991, zit. in Fegert/Besier 2010, S. 997) handelt, umgreift der Typ 2 Traumata „die chronisch traumatischen Erlebensweisen oder sequenzielle Traumatisierungen im Rahmen von Kindesvernachlässigung, Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch oder aber auch von Flüchtlingen, welche vor Krieg und Folter in Deutschland Schutz gesucht haben.“ (ebd., S. 997)
Franz Ruppert nimmt nun in seiner vorliegenden Monographie eine eigene Kategorie von Trauma, das Symbiosetrauma, zum Gegenstand seiner Überlegungen. Ausgangspunkt seines Verständnisses von destruktiv-verstrickten seelischen Prozessen von Menschen ist ein misslungener frühkindlicher symbiotischer Prozess zwischen Mutter und Kind, der sich für das Kind infolge unterschiedlicher Konstellationen von Bindungs(system)traumata zu einem ‚Urtrauma‘ entwickeln kann. Darüber hinaus stellt er sein psychotherapeutisches Konzept der Traumaaufstellung dar, welches ihm ermöglichen soll, auch jene Gefühle zu erfassen, die unbewusst und vorsprachlich abgespeichert sind.
Autor
Prof. Dr. Franz Ruppert ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut. Er ist Professor an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München und in eigener Praxis tätig. Seit 1994 arbeitet er mit Familien- und Organisationsaufstellungen in Gruppen und führt Workshops mit einer selbst entwickelten Form der Familienaufstellung im In- und Ausland durch; er ist spezialisiert auf die psychotherapeutische Arbeit mit schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Ängsten, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Psychosen und Schizophrenien.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Monographie von Franz Ruppert ist das fünfte Buch seiner „Entdeckungsreise in das Innere der menschlichen Seele“ (S. 12). Darin stellt er sein Konzept des „Symbiosetraumas“ als einen neuen Verstehensansatz psychischer Probleme dar. Vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung in der Arbeit mit der Familienaufstellung nach Bert Hellinger, erarbeitet er sich, auch in kritischer Abgrenzung zu Hellinger, entlang seiner bisherigen Einsichten „in die elementaren seelischen Vorgänge von ‚Bindung‘ und ‚Trauma‘“ eine eigene Aufstellungsmethode, die er als „Traumaaufstellung“ bezeichnet. Dabei betrachtet Ruppert seine „Entdeckungsreise“ keineswegs als beendet, sondern betont die Vorläufigkeit vieler seiner Arbeitshypothesen, „deren weitere wissenschaftliche Erforschung noch ansteht.“ (12) Das Buch ist in der Reihe „Leben Lernen“ des Klett-Cotta Verlags erschienen. Diese Reihe will „auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen“ vorstellen und „wendet sich an die Fachleute aus helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden“ (Umschlagstext).
Aufbau
Der Band gliedert sich in 11 Kapitel.
In den ersten 9 Kapiteln erörtert Franz Ruppert in unterschiedlicher Fokussierung seine Grundthese, wie die Vernachlässigung bzw. Störung vitaler symbiotischer Bedürfnisse eines Kleinkindes zu einem Symbiosetrauma führen und als wesentliche Ursache für seelische Beziehungsverstrickungen von Menschen verstanden werden kann.
In den beiden letzten Kapitel stellt er noch einmal gesondert sein entwickeltes Konzept der „Traumaaufstellung“ vor und beschreibt, wie mit dieser Methode es eher möglich wird, an Gefühle heranzukommen, die sich gleichsam vorsprachlich und unbewusst in den Körper eingeschrieben haben. Zahlreiche Beispiele aus Aufstellungen sowie Erfahrungsberichte durchziehen den gesamten Band.
Inhalt
Nachdem der Verfasser im 1. Kapitel „Für immer Dein - oder immer allein“ die Leserin in seine Arbeitshypothesen eingeführt hat, wendet er sich im 2. Kapitel der Frage zu „Was ist ‚Symbiose‘“ Bekanntlich können Symbiosen nützlich oder schädlich sein, d.h. bei Menschen führen - so die Lesart des Autors - symbiotische Verhältnisse (auf emotionaler Ebene) positiv zu Mitgefühl und Empathie oder negativ zu Angst und Aggression.
Kapitel 3 „Symbiose als psychologisches Konzept“ umfasst eine kurze Übersicht über eine kleine Auswahl bisheriger psychologischer Symbiosekonzepte und weist auf das grundsätzliche Spannungsverhältnis zu den Begriffen „selbstständig“ und „autonom“ hin. Diese werden im 4. Kapitel „Was ist Autonomie?“ erläutert, womit das - ständig neu auszubalancierende - Spannungsverhältnis von Symbiose und Autonomie, als Voraussetzung einer gesunden Persönlichkeit, erkennbar werden soll.
Nachdem in Kapitel 5 „Konstruktive und destruktive Symbioseformen“ theoretisch dargestellt und mit Hilfe von knappen Fallbeispielen anschaulich gemacht wurde, was unter einer „gesunden menschlichen Entwicklung“ zu verstehen sei, erörtert Ruppert unter Bezugnahme auf Bindungs- und Traumatheorien in Kapitel 6 seinen Entwurf von „Traumata als Ursachen psychischer Störungen“. Neben den „klassischen Traumaformen“ „Existenztrauma“ und „Verlusttrauma“ führt er zwei weitere Formen von Traumata - das „Bindungstrauma“ (Abhängigkeit von einer Person, an die man seelisch gebunden ist und von der man abgelehnt wird) sowie das „Bindungssystemtrauma“ (z.B. Missbrauch, Mord, Inzest in einem von Traumata geprägten Familiensystem) - ein. Diese entstehen, wenn Kinder bereits in ihrem frühen Aufwachsen einem Dauerzustand von Ohnmacht und Hilflosigkeit ausgesetzt sind, und provozieren bei ihnen - als Überlebensleistung - eine Aufspaltung der Persönlichkeitsstruktur. Ein Vorgang, den der Verfasser mittels eines „Drei-Faktoren-Modells“ („Traumatischer Anteil“; „Überlebensanteil“; „Gesunder Anteil“) anschaulich zu machen sucht und - entlang seiner Anteiltheorie der Persönlichkeit - den Zusammenhang von Trauma und Symbiose herstellt.
Kapitel 7 „Symbiose zwischen Eltern und Kindern“ erörtert den Unterschied zwischen „Mutter-Kind-Symbiose“; „Kind-Mutter-Symbiose“; „Traumatisierte Mütter und traumatisierte Kinder“ sowie „Traumatisierte Väter und traumatisierte Kinder“. Die differenten Symbioseformen werden mittels skizzenhafter Vignetten zahlreich bebildert. Auf dieser Grundlage beleuchtet Ruppert im 8. Kapitel „Das Symbiosetrauma“. Eine Vokabel, die „in gewissem Maße den Begriff des Bindungstrauma in seiner Theoriebildung ab“-löst und letztlich als „eine Unterkategorie von Bindungstrauma“ (127) begriffen wird.
Unter der Überschrift „Symbiotische Verstrickungen“ setzt sich der Verfasser in Kapitel 9 mit unterschiedlichen möglichen Folgen eines Symbiosetraumas auseinander: Thematisiert werden symbiotische Verstrickungen mit Geschwistern; - bei Paaren; - mit der ganzen Familie; - auf nationaler Ebene; - mit (Sport)Vereinen; Wirtschaft, Geld und symbiotische Verstrickungen; Symbiotische Verstrickungen von Tätern und Opfern; Sucht und symbiotische Verstrickungen sowie körperliche Krankheiten und symbiotische Verstrickungen. Auch in diesem Abschnitt versucht der Autor seine theoretischen Überlegungen mit zahlreichen skizzenhaften Beispielen anschaulicher zu machen.
Kapitel 10 leitet zur Darstellung seiner “Bindungsorientierte Traumaaufstellung“ über. Nachdem anschaulich zentrale Haltungen therapeutischen Vorgehens - insbesondere „Zuhören ohne zu werten“ sowie „Vertrauen erwecken“ - hervorgehoben wurden, berichtet Ruppert über seine positiven Erfahrungen sowie seine Irritationen bezüglich der Methode der Familienaufstellung nach Bert Hellinger, von denen er sich begründet in wesentlichen Aspekten verabschiedet. Gleichwohl hält er an einer verdichteten Version der Stellvertreter-Methode in Aufstellungen fest. Sie gilt ihm als einen geeigneten therapeutischen Zugang auch zu den destruktiven Anteilen der Persönlichkeit, die sich vorsprachlich (unbewusst) in den Körper der Menschen eingeschriebenen haben.
Die begründete Wahl seiner methodischen Fokussierung ist die „Aufstellung des Anliegens“, die in Kapitel 11 „Lösung aus symbiotischen Verstrickungen“ entlang zahlreicher, skizzenhafter Beispiele anschaulich gemacht wird, wobei sowohl auf die Aufgaben und notwendigen Fähigkeiten des Therapeuten hingewiesen als auch die möglichen Fallstricke angesprochen werden. Mit dem letzten Kapitel 12 „Hoffnung“ hebt Franz Ruppert noch einmal seine guten Erfahrungen mit dieser Methode hervor und betont die grundsätzliche Zuversicht, dass sich Menschen (wenn auch nie ohne Anstrengung und Schmerzen) mit unterstützender Hilfe aus jahrelangen symbiotischen Beziehungsverstrickungen herauswinden können.
Diskussion
Ein Verdienst von Franz Ruppert sehe ich darin, dass er mit dem vorliegenden Band zum Symbiose(system)trauma und darauf bezogene therapeutische Aufstellungsarbeit ein noch immer unterbelichtetes Thema in der Medizin, Psychiatrie, Psychologie wie Soziale Arbeit aufgreift. Er betont die nachhaltigen, zerstörerischen Auswirkungen auf die psychischen Strukturbildungsprozesse, wenn Eltern - selbst gar in transgenerationale Traumatisierungsprozesse verstrickt - die reifungs- und entwicklungsbedingten Abhängigkeitswünsche und Autonomiebedürfnisse ihrer Kinder nicht hinreichend beantworten (können) oder für eigene psychische Belange missbrauchen. Neben der Feststellung, dass sich seine Ausführungen in weiten Teilen als mother-blaming missverstehen lassen (dies ist sicherlich auch seiner berechtigt kritischen Abgrenzung zur Aufstellungsmethode von Hellinger geschuldet, die von Überlebenden verlangt, den traumatisierenden Eltern ausdrücklich Achtung und Dankbarkeit zu erweisen), einige weitere Anmerkungen:
- Sein überdehnter Gebrauch des Begriffs „Symbiose“ bringt ihn m. E. um den berechtigten Gewinn seiner Reflexionen. Ohne Frage sind Menschen (erst recht Säuglinge und kleine Kinder) grundsätzlich auf die Anerkennung von anderen zum Überleben angewiesen. Aber dieser unhintergehbare Sachverhalt wird bei Ruppert mit der Verwendung des Begriffs „Symbiose“ verkürzt auf eine gegenseitige „nützliche“ Bindungsabhängigkeit von dem jeweils konkreten Gegenüber: Das ‚psychische Überleben‘ der konkreten hinreichend guten Mutter ist aber nicht in gleicher Weise von einer gelingenden ‚Symbiose‘ zum Kind abhängig wie umgekehrt das des Kindes von ihr. Entsprechend hat mich auch die allzu verkürzte Kritik seiner kleinen Auswahl psychologischer Symbiosekonzepte (insbesondere von Erich Fromm) keineswegs überzeugen können. Überdies bettet er sein Verständnis der Symbiose in eine Kosten-Nutzen-Gleichung ein. Eine, meine Erachtens, fragwürdige Redewendung zur Erläuterung grundsätzlich sinnkonstituierender und sinnstrukturierter Beziehungen von Menschen.
- Auch seine Verwendung des Begriffs „Trauma“ birgt die Gefahr, ihn derart auszuweiten, dass er - als leere Begriffshülse - beinahe jede schmerzhafte und kränkende Erfahrung von Menschen aufnehmen kann. Während des Lesens war ich immer wieder an das Buch von Alice Miller „Das Drama des begabten Kindes“ erinnert, eine Abrechnung mit der Freudschen Verführungstheorie, die die Leserin verführt, sich selber - in den unterschiedlichsten Facetten - als das unerkannt „begabte“ Kind zu suggerieren, deren grandiose Fähigkeiten durch eine nicht empathische Mutter verhindert wenn nicht gar zerstört wurden. Nun thematisiert Franz Ruppert zwar nicht explizit die destruktiv-narzisstisch getönte Verführung der Mutter ihres Kleinkindes, aber seine Untermalungen mit nicht immer erhellenden Beispielen aus seinem reichen Erfahrungsschatz therapeutischer Aufstellungen, beinhaltet ähnlich mannigfaltiges - aber eben auch manipulatives - Potential zur Identifikation. Darüber wird m. E. die faktische, lebensgefährliche Dramatik von gewaltförmigen Erfahrungen, die für kleine Kinder - aufgrund nicht vorhandener Bewältigungsmöglichkeiten - zum Trauma werden können, unnötig nivelliert.
- Ausdrücklich teile ich seine Kritik an eine Mainstream-Psychologie und -Psychiatrie, die in ihrer einseitig-biologischen Orientierung das Subjekt mit seiner leidvollen Lebensgeschichte aus dem Blick verloren hat und Traumafolgesymptome entweder gar nicht erkennen kann oder als geschichtslose Körpersymptome, als im Subjekt liegende Störungen, behandelt. Und doch habe ich mich des Eindrucks nicht erwehren können, dass Ruppert mit seinem verdichteten „Drei-Faktoren-Modell“ („Traumatischer Anteil“; „Überlebensanteil“; „Gesunder Anteil“) letztlich auch eine Überfokussierung der somato-psychischen Dimensionen gestörter Strukturbildung betreibt, wodurch die gesellschaftliche, intersubjektive Erfahrungsdimension verloren zu gehen droht. Judith Herman (1994), eine der Pionierinnen der feministischen Traumaforschung, hat berechtigt hervorgehoben, dass die wichtigen Phasen der Genesung die Herstellung von Sicherheit, die Rekonstruktion der Geschichte des Traumas und die Wiederherstellung der Verbindung zwischen Opfer und Gemeinschaft sei. Eine Überfokussierung auf die innere Welt, einschließlich der subjektiven Ressourcen der Überlebenden, wie bei Ruppert beschrieben, droht diese anerkennende Wiederherstellung der Verbindung zwischen Überlebende und Gemeinschaft auszuklammern. Erst vor diesem Hintergrund aber wäre eine therapeutische Forderung an den frühkindlich traumatisierten Menschen nach dem vollständigen Verzicht auf den Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer symbiotisch-verstrickten Familie (vgl. 179) menschenwürdig vertretbar.
- Es ist schade, dass Franz Ruppert nicht die Chance ergreift seine Überlegungen mit neueren Traumatheorien dezidierter in Beziehung zu setzen. Seine Ausführungen in Kapitel 9 suggerieren eher, dass seine Überlegungen zum Symbiose(system)trauma ohne theoretische Vorläufer seien. Auch wenn die folgende Verbindungslinie von ihm nicht ausdrücklich hergestellt wird, so erinnern seine Ausführungen zu frühkindlichen Traumatisierungen und deren psychische Folgewirkungen auch an die Arbeiten des Psychoanalytikers und Kinderarzt D.W. Winnicott (1896-1971). Dieser hatte in seinen großartigen Reflexionen, z.B. auch über die Genese von Psychosen, bereits herausgearbeitet, dass diese immer auf ein Umweltversagen in der frühen Kindheit, bzw. auf das Fehlen einer guten Bemutterung mit nachhaltigen destruktiven Folgen, zurückzuführen sind: Unterbrechung der kontinuierlichen Seinslinie, die als drohende Vernichtung erlebt wird und zu einer Entwicklung eines „falschen Selbst“ als Abwehrorganisation gegen Übergriffe einer nicht angepassten Umwelt führt. Und, obgleich es richtig und wichtig ist, bei „Schizophrenie“, „Borderline-Persönlichkeitsstörungen“, „depressiven Zuständen“, „Selbstverletzungen“, „körperlich schweren Erkrankungen“, „Sucht- und Zwangserkrankungen“ etc. an eine wahrscheinliche Traumaätiologie zu denken, so steht doch nicht zwingend hinter jedem psychotischen Verhalten und Erleben, jeder Depression, jeder Sucht etc. ein Symbiose(system)trauma.
Fazit
Es bleibt ein Verdienst von Franz Ruppert, mit seinem Buch „Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen“, einen Baustein zur Aufklärung über vielfältige Leiden von Menschen mit chronisch-frühkindlicher Traumatisierung beigetragen zu haben. Zudem bietet er mit seinen Überlegungen zum therapeutischen Vorgehen - der Aufstellung des Anliegens - zahlreiche Anstöße für ein differenziertes Nachdenken, wie auch vorsprachliche, gleichsam in den Körper eingeschriebene Erfahrungen therapeutisch bearbeitbar werden können. Damit leistet er einen Baustein zu mehr gesellschaftlicher Anerkennung dieses noch immer unterbelichteten gesellschaftlichen Problems.
Literatur
- Fegert, J. M., Besier, T. (2010): Psychisch belastete Kinder und Jugendliche an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitssystem - Zusammenarbeit der Systeme nach der KICK-Reform. In: Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht. DJI München, S. 987-1110
- Herman, J. (2006): Die Narben der Gewalt. Paderborn (2. Aufl.)
- Winnicott, D.W. (1983): Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Frankfurt/M.
Rezension von
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin (i. R.) für Theorien Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung an der Katholischen Hochschule in Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften.
Arbeitsschwerpunkte: Affektabstimmungsprozesse in der Sozialpsychiatrie (BMBF-Projekt)‚ Psychoanalytische (Sozial)Pädagogik, Gesundheitsförderung.
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Zitiervorschlag
Margret Dörr. Rezension vom 20.07.2011 zu:
Franz Ruppert: Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2010.
ISBN 978-3-608-89099-0.
Reihe: Leben lernen - 234.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10271.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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