Monika Nöcker-Ribaupierre (Hrsg.): Musiktherapie und Schmerz
Rezensiert von Prof. Dr. Gisbert Roloff, 21.03.2011
Monika Nöcker-Ribaupierre (Hrsg.): Musiktherapie und Schmerz.
Dr. Ludwig Reichert Verlag
(Wiesbaden) 2008.
121 Seiten.
ISBN 978-3-89500-639-5.
18,00 EUR.
Reihe: Institut für Musiktherapie: Schriften aus dem Institut für Musiktherapie am Freien Musikzentrum München e.V. - Band 11. Zeitpunkt Musik.
Thema
In Deutschland leiden viele Millionen Menschen unter chronischen Schmerzen (Schätzungen schwanken zwischen 6 und 20 Millionen). Bei ihnen hat der Schmerz seine ursprüngliche Warn- und Wächterfunktion verloren und sich statt dessen als eigenes Leiden, als Schmerzkrankheit etabliert. Neben der körperlichen Qual lassen sich tiefgreifende Folgen für das alltägliche Leben ausmachen: Betroffen sind berufliche wie private Aktivitäten, so etwa die Pflege sozialer Beziehungen, die Lebensfreude, Sexualität, aber auch das Einkommen und das soziale Ansehen. Das Leben verengt sich auf den Punkt des Schmerzerlebens und dessen Vermeidung. Wilhelm Busch hat das am Beispiel des Zahnschmerzes treffend in Verse gefasst: „Vergessen sind die Kursberichte, die Steuern und das Einmaleins. Kurz, jede Form gewohnten Seins, die sonst real erscheint und wichtig, wird plötzlich wesenlos und nichtig. Ja, selbst die alte Liebe rostet, man weiß nicht, was die Butter kostet, denn einzig in der engen Höhle des Backenzahnes weilt die Seele”. Das Beispiel taugt hervorragend zur Illustration der alles beherrschenden Tyrannei nicht endender Schmerzen.
Jeder der sieben Beiträge im vorliegenden Band ist der Frage gewidmet, was Musiktherapie bei der Modifikation des Schmerzerlebens leisten kann.
Entstehungshintergrund
Im März 2008 fand im Freien Musikzentrum München e.V. die 16. Musiktherapietagung statt. Sie galt den wissenschaftlichen Grundlagen, der praktischen Anwendung und ausgewählten Forschungsergebnissen der Musiktherapie. Die vorliegende Schrift dokumentiert die gesamte Tagung. Auf 160 Seiten finden sich sieben Beiträge der teilnehmenden Autoren und Autorinnen.
Aufbau
Nach einem Advance Organizer der Herausgeberin Monika Nöcker-Ribaupierre folgen sieben Beiträge teils theoretischen, teils praktischen Inhalts.
- Musiktherapie und Schmerz – eine Einführung in das Thema (Monika Nöcker-Ribaupierre)
- Ein klinischer Blick auf die Neurobiologie von Schmerzen (Peter Henningsen)
- Über die Kluft vom Tatsächlichen zum Möglichen. Oder: Die Wirksamkeit von Musik in der Musik-imaginativen Schmerzbehandlung (Susanne Metzner)
- Musiktherapie und Rheuma (Corinna Elling-Audersch)
- Musiktherapie mit onkologischen Patienten (Ulrike Haffa-Schmidt)
- Aktive Musiktherapie bei chronischen Schmerzen – eine Pilotstudie (Peter Hoffmann)
- Das Heidelberger Modell der Musiktherapie bei chronischen Schmerzerkrankungen - Forschungsergebnisse im Überblick (Thomas Hilleke u.a.)
1. Musiktherapie und Schmerz - eine Einführung in das Thema
Monika Nöcker-Ribaupierre führt stringent in das Thema ein. Selbst wer als Neuling in das Gebiet vordringt, wird verständlich informiert, während der Kenner sich über die bei aller Kürze genaue Darstellung freut. Die Verfasserin bietet Definitionen für Schmerz, Schmerzverhalten sowie historische und kulturelle Besonderheiten des Schmerzerlebens. Sie informiert über das allmähliche Vordringen naturwissenschaftlicher Forschung und die Entwicklung von Anästhesie und Schmerzmitteln. Besonderes Augenmerk findet das Phänomen des chronischen Schmerzes, und die Möglichkeiten der Musiktherapie bei seiner Behandlung. Auf den Punkt gebracht lautet die Begründung der Wirksamkeit: „Musik löst eine Feedback-Hemmung von sensorischen und sensiblen Sinneskanälen aus und verhindert so die Rezeption bzw. Perzeption anderer aktueller Reize aus der Umwelt” (S. 17). Oder ganz kurz: Musik beschäftigt den Cortex so stark, dass andere Umweltreize nicht oder nur schwach durchdringen können.
2. Ein klinischer Blick auf die Neurobiologie von Schmerzen
Peter Henningsen stellt in seinem Beitrag heraus, dass ungeachtet der Schmerzursache psychische Faktoren eine entscheidende Rolle beim erlebten Ausmaß des Schmerzes spielen. Anhand neuerer Forschungsergebnisse, die erst mithilfe der elektronischen Bildgebung möglich geworden sind, erteilt er dem seit Descartes üblichen Konzept der Trennung von somatischem und psychischem Schmerz eine Absage. „Schmerz ist immer psychosomatisch” (S. 28). Er erläutert den Unterschied zwischen akutem und chronischem Schmerz: Akuter Schmerz ist ein körperliches Warnsignal für eine wie immer geartete gegenwärtige Schädigung. Chronischer Schmerz dagegen hat diese Warnfunktion verloren und sich als eigenes Krankheitsbild verselbständigt. Die Betroffenen leiden unter Schmerzen, obwohl bei ihnen keine gravierenden Entzündungen, Verletzungen oder Nervenschädigungen vorliegen. Damit kommt die zentrale Rolle des Gehirns bei der Schmerzwahrnehmung ins Spiel (No brain, no pain). Mit Bezug auf Melzack und Mayer et al. wird gezeigt, dass nicht, wie vormals angenommen, ein einziges, lokalisierbares Schmerzzentrum existiert, sondern dass die Schmerzverarbeitung in einem komplex verschalteten Netzwerk lateraler und medialer Strukturen des Gehirns, der so genannten Schmerzmatrix, stattfindet. Das aktuelle Schmerzerleben entsteht demnach aus einem vielgliedrigen Zusammenspiel von Wahrnehmung, Emotion und Kognition. Daraus folgt, dass therapeutische Ansätze, welche dieses Netzwerk fokussieren, sinnvoll sind. Es ist keine Frage, dass Musiktherapie zu diesen Ansätzen zählt.
3. Über die Kluft vom Tatsächlichen zum Möglichen. Oder: Die Wirksamkeit von Musik in der Musik-imaginativen Schmerzbehandlung
Es fehlt bisher ein „genuin musiktheoretischer Erklärungsansatz”, warum sich Musik für therapeutische Prozesse eignet (S. 31), so Susanne Metzner. Sie führt das unter anderem darauf zurück, dass die Wirkung von Musiktherapie seit langem mit verschiedenen, auch divergierenden Konzeptionen erklärt wird. Im Zentrum ihres Beitrags steht eine Darstellung der Methode der musik-imaginativen Schmerzbehandlung: Diese erfolgt in zwei bis drei Sitzungen in Einzelbehandlung. Indiziert ist sie bei allen Arten und Stärken von Schmerz. Besonders profitieren Menschen, die vor allem unter den psychosozialen Folgen ihrer Krankheit leiden und außerdem gegenüber psychotherapeutischen Interventionen aufgeschlossen sind.
Dagegen stellen ausgeprägte Depression, posttraumatische und dissoziative Störungen sowie psychotische Vulnerabilität Kontraindikationen dar. Äußere Bedingungen für die Therapie sind: ein störungsfreier Raum, viele unterschiedliche Musik- und Klanginstrumente sowie eine Liegemöglichkeit. Das Vorgehen gliedert sich in vier Phasen:
- Ausführliches Schmerzinterview zur Indikationsstellung und Kontraktgestaltung.
- Komposition einer „Schmerzmusik” und einer „Linderungs-“ bzw. „Heilungsmusik”,
- Anwendungsphase,
- Reflektierendes Nachgespräch.
Wenn erforderlich. wird dieser Zyklus mehrere Male durchlaufen. Dabei wird der Patient vom Ausgelieferten zum Kontrolleur seiner Schmerzen. Er kann kompetent unterscheiden und in Worte fassen, wie Schmerzempfinden, Schmerzwahrnehmung und Schmerzausdruck in Beziehung stehen. Die Autorin vertritt die Hypothese: „Die Wirksamkeit der ´Schmerzmusik´beruht unter Berücksichtigung der beteiligten Hirnaktivitäten auf dem Prinzip der Synchronisation durch größtmögliche Übereinstimmung von Musik- und Schmerz-Erleben (funktionale Aktivität) und auf dem Prinzip der Synthetisierung durch das Empfinden der Differenz zwischen Musik und Schmerz (repräsentationale Aktivität)” (S.42).
Möglichkeiten einer empirischen Überprüfung sieht sie eher im Bezugsrahmen der Ästhetiktheorien als im Rückgriff auf einen engeren psychologischen oder musikpsychologischen Ansatz. Letztlich verwirft sie den Gedanken, für die musik-imaginative Schmerzbehandlung wie allgemein für die Musiktherapie eine geschlossene Theorie zu entwerfen. Statt dessen genügt es ihren Ansprüchen, wenn Theorie „als eine Art relationales Zentrum für unterschiedliche klinische und wissenschaftliche Ansätze fungiert und darin hinreichend konsistent ist” (S. 46). So liefert sie das Instrumentarium, um die Kluft zwischen dem Tatsächlichen (dem Schmerz) und dem Möglichen (der Schmerzfreiheit oder -minderung) zu verkleinern.
4. Musiktherapie und Rheuma
Als Sammelbegriff steht Rheuma für über fünfhundert bekannte Gesundheitsstörungen. Das Leitsymptom aller rheumatischen Erkrankungen ist der Schmerz. Er ist allgegenwärtig, beherrscht den Alltag und ist nicht abzuschütteln. Dieses Grundwissen stellt Corinna Elling-Audersch zunächst in ihrem praxiszentrierten Beitrag kurz dar und zeigt dann Möglichkeiten der Intervention mittels Musiktherapie. Sie weist der Therapie die Fähigkeit zu, einen bewussten Umgang mit dem Schmerz zu ermöglichen, während sie die Frage, ob Schmerz wirklich zu bewältigen sei, mit Skepsis beantwortet und dazu eher ein multimodales psychologisches Konzept postuliert. Dennoch sieht sie als ein Therapieziel der Musiktherapie „den Schwerpunkt in der Schmerzbewältigung” (S. 51) – ein Widerspruch, der den Leser verwirrt. Als weitere Ziele benennt sie, mittels Musik „das starke Abwehrverhalten des Patienten gegenüber kognitiven Therapien abzubauen”, sowie durch Übungsverfahren, „die Entspannungsfähigkeit, die emotionale Stimmung, die Ablenkungsfähigkeit, das Körpererleben und damit die Schmerzwahrnehmung zu verändern” (S. 51). Als Therapieverfahren werden genannt:
- Freie und themengebundene Improvisation,
- Musikhören,
- Übungen zur Aufmerksamkeitslenkung und Schmerz-Fokussierung,
- Entspannungstraining mit Musik in Kombination mit autogenem Training,
- Entwicklung von Entspannungsritualen mit eigener Entspannungsmusik,
- Gemeinsames Singen.
Zum Musizieren steht ein Orff-Instrumentarium neben körpereigenen und außereuropäischen Instrumenten zur Verfügung. An fünf Fallbeispielen zur Improvisation zeigt die Autorin ihre Vorgehensweise und beschreibt generalisierend einen Entwicklungsprozess bei ihren Klienten von einer anfangs geistigen und körperlichen Unbeweglichkeit, vergleichbar einem Käfigdasein, bis hin zum „Aufbrechen des eingefrorenen Zustandes” (S. 58). Sie hält dafür, den Teufelskreis Schmerz-Depression-Angst-Isolation-Hoffnungslosigkeit, womöglich „zu durchbrechen” und damit die verborgenen Selbstheilungskräfte anzuregen und eine „positive Krankheitsverarbeitung” (S. 59) zu ermöglichen.
5. Musiktherapie mit onkologischen Patienten
Ulrike Haffa-Schmidt gibt anhand von Fallbeispielen einen Einblick in ihre musiktherapeutische Arbeit mit Krebskranken. Sie beschreibt die schwere Lebenskrise, in welche Betroffene und Angehörige durch die Diagnose Krebs geraten. Nicht die lebensbedrohende Erkrankung allein, sondern auch die Behandlung bedeutet eine schwere Belastung, wird sie doch vielfach von Übelkeit, Fieber, Durchfällen, anhaltendem Nasenbluten, Magenschmerzen und anderem begleitet. Weil die Patienten infolge unterschiedlichster Schmerzmittel weitgehend schmerzfrei sind, ist die Autorin überwiegend mit Befindlichkeitsstörungen und Ängsten konfrontiert. Sie bietet Musiktherapie als freiwilliges Angebot von 15 Wochenstunden an. Die Indikation ist nicht klar festgelegt. Aufgeführt werden:
- Der Wunsch, dem Patienten etwas Gutes zu tun,
- Der Versuch, die Compliance des Patienten zu verbessern,
- Ein Angebot speziell für Patienten mit Vorliebe für alternative Behandlungsmethoden,
- Ein Angebot für diejenigen Patienten, die das Pflegepersonal hilflos machen und den Eindruck erwecken, nie genug an Zuwendung und Aufmerksamkeit zu bekommen.
Das Programm ist als freiwilliges unterstützendes Angebot während des klinischen Aufenthalts vorgesehen. Es wird von etwa jedem zehnten Patienten genutzt und findet meist in dessen Zimmer als aktive und rezeptive Therapie statt. Durch die anschaulichen Beispiele aus dem Klinikalltag gewinnt der Leser einen lebendigen Eindruck von den Möglichkeiten und Einschränkungen musiktherapeutischer Arbeit mit schwer leidenden Menschen.
6. Aktive Musiktherapie bei chronischen Schmerzen - eine Pilotstudie
„Ein Mensch mit Schmerzen gehört einer Welt an, die kein anderer zu teilen oder zu verstehen vermag” zitiert Peter Hoffmann zu Beginn seines Beitrages D. B. Morris, um zu zeigen, welchen Problemen chronisch Schmerzkranke ausgesetzt sind und welche Herausforderungen für eine Therapie daraus erwachsen. In einer Pilotstudie wurde die Frage untersucht, welche Wirkung Musiktherapie in der Behandlung chronisch Schmerzkranker erzielen kann. Klinische Vorerfahrung führte zur Hypothese „aktive Musiktherapie” [hat] „einen positiven Einfluss auf Schmerzerleben und Befindlichkeit des Patienten” (S. 75). Die Daten stammen von 14 Patienten einer nicht ausgelesenen Stichprobe. Es waren 12 Frauen und 2 Männer mit chronischen nicht malignen Schmerzen. Ihr Alter variierte von 21 bis 72. Sie erhielten während zwei bis drei Monaten ein- bis zweimal wöchentlich Einzeltherapie nach der Methode der Schöpferischen Musiktherapie. Andere psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung durfte zur gleichen Zeit nicht erfolgen. Insgesamt fanden 146 Therapiestunden statt. Als Vergleichsgruppe dienten 10 Patienten ohne Musiktherapie. Bei ihnen wurde „ein individuelles Behandlungskonzept unter gleichen Bedingungen durchgeführt” (S. 76).
Empirische Daten als Grundlage zum Vorher-Nachher-Vergleich stammten aus drei Quellen:
- Klinische Erhebung von Schmerzintensität und schmerzbezogener Befindlichkeit mittels Schätzskalen,
- Phänomenologisch-deskriptive Dokumentation der Sitzungen hinsichtlich – Formgestalt der entstehenden Musik, – Ausdrucksqualität der Musik, - Beziehungsqualität der musikalischen Aktivität, – Qualität der Intentionalität der musikalischen Aktivität. Quelle: Video- und Audiomaterial,
- Patientenbefragung mittels strukturierter Interviews nach Abschluss der Therapie sowie 8 bis 12 Monate später.
Auf dem 5%-Niveau (Wilcoxon-Test) sind Unterschiede im Vorher-Nachher-Vergleich bei Schmerzintensität und Beeinträchtigung durch das Schmerzerleben gesichert. Diese Unterschiede zeigen sich nicht bei Depressions- und Angstscores. Aus den Daten zieht der Autor folgenden Schluss: Musiktherapie kann einen Weg aus der eingangs angeführten Isolation darstellen. Durch das Medium Musik gewinnen Schmerzpatienten die Möglichkeit und Fähigkeit, Sprachlosigkeit, Rückzug, Isolation und Passivität zu überwinden. In einem kritischen Rückblick auf die eigene Arbeit macht der Autor deutlich, dass nicht ein direkter Wirkungsnachweis gelungen sei, sondern eher ein Hinweis auf „die klinische Relevanz” (S. 89) der Musiktherapie im Einzelfall.
7. Das Heidelberger Modell der Musiktherapie bei chronischen Schmerzerkrankungen - Forschungsergebnisse im Überblick
Im Beitrag von Thomas Hilleke et al. geht es um den Wirkungsnachweis von Musiktherapie zur „Verminderung von Schmerzen und mit Schmerzerkrankungen verbundenen Symptomen” (S. 94). In interdisziplinärer Zusammenarbeit von Musiktherapeuten, Psychologen und Medizinern wurden drei aufeinander aufbauende Therapiemanuale als „Heidelberger Modell” entwickelt und in den Jahren 1999 bis 2007 an drei verschiedenen Patientengruppen auf ihre Wirksamkeit überprüft. Es waren:
- Patienten mit chronischen, nicht malignen Schmerzen,
- Tumorpatienten und
- Kinder mit Migräne.
Theoretische Grundlage der Musiktherapiemanuale war zum einen das Konzept der „gehemmten Expressivität” sensu Traue (1998, Traue et al. 2000), wonach besonders Kopf- und Rückenschmerzpatienten ihren emotionalen Ausdruck aktiv durch erhöhte Muskelspannung regulieren. Sie geraten dabei in einen psycho-physiologischen Teufelskreis, treffend als Schmerz-Spannungs-Zirkel apostrophiert. Desweiteren ging das Fear-avoidance-Modell nach Pfingsten et al. 1997 ein, das einen sich aufschaukelnden Prozess von Schmerz, Schmerzangst und Vermeidungsverhalten beschreibt. Einbezogen wurde desgleichen die Erkenntnis, dass Schmerzpatienten nur eingeschränkt emotionale Entscheidungen treffen können und schließlich die Auffassung von Schmerz als homöostatischer Emotion.
Der entdeckte Zusammenhang von Schmerz und Emotion führt zu der Annahme, dass Musiktherapie als Behandlungsverfahren Erfolg verspricht, gilt doch Emotionsregulation als einer ihrer zentralen Wirkfaktoren.
Ziel der Musiktherapie ist es, die gehemmte Expressivität, die „Erstarrung aufzulösen und eine emotionale Flexibilisierung zu erreichen, die mit einer Veränderung der Schmerzverarbeitung und Schmerzempfindung einhergeht” (S. 97).
Die Behandlung erfolgt nach dem Heidelberger Musiktherapiemanual, dem ein Drei-Phasen-Modell nach Frank (1992) zugrunde liegt.
- Phase I: Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens
- Phase II: Verringerung der Symptome
- Phase III: Steigerung des allgemeinen Funktionierens
Die Dauer der Behandlung bei erwachsenen Schmerzpatienten beträgt 20 Einheiten, bei Kindern mit Migräne 12, ergänzt durch drei Elterngespräche. Eine Einheit dauert 50 Minuten und findet einmal in der Woche statt.
Therapieeffekte werden mit Skalen und Fragebogen erfasst und einerseits mit parametrischen und non-parametrischen Verfahren überprüft, andererseits nach dem Konzept der „klinischen Signifikanz” (Jacobson u. Truax, 1991) beurteilt.
Untersuchte Gruppen waren:
- Patienten mit chronischen, nicht-malignen Schmerzen. (n = 21), Wartegruppe als Kontrollgruppe.
- Kinder mit Migräne (n = 20), Medikamentengruppe als Vergleichsgruppe, Placebogruppe als Kontrollgruppe.
- Tumorpatienten (n = 19).
Als Verfahren der Wahl in einer frühen Phase der Evaluation steht die Methode der formativen Evaluation hinsichtlich der Anwendbarkeit, der Brauchbarkeit, den Effekten und der möglichen Akzeptanz.
Zur Diagnostik arbeiteten die Erwachsenen mit der Schmerzempfindungsskala, SES (Geissner 1996) und mit der Visuellen Analogskala, VAS (Donner et al. 2001), die Kinder mit dem Migränetagebuch für Kinder (Nickel et al. 2001).
Psychische Begleitsymptome wurden erfasst mit dem Ergebnisfragebogen EB-45.2 (Lambert 2002), dem Hertlingshauser Zufriedenheitsfragebogen HZFB (Bolay u. Hilleke 2001) sowie dem Lebensqualitätsbogen EORTC-QLQ-C30 (Aaronson et al. 1993).
Ergebnisse
Patienten mit chronischen, nicht-malignen Schmerzen: Bestätigt wird die Hypothese, „dass die Patienten von der zusätzlichen Musiktherapie … stärker profitieren als die Patienten der Wartegruppe, die nur pharmakologische Schmerztherapie erhielten” (S. 107).
Kinder mit Migräne: Die Attackenfrequenz ist erwartungsgemäß bei der Musiktherapiegruppe signifikant zurückgegangen, nicht bei der Medikamentengruppe und nicht bei der Placebogruppe.
Patienten mit Tumorschmerzen: Musiktherapie in Kombination mit medizinischer Standardbehandlung ergibt signifikante Ergebnisse bei den Variablen „Verbesserung der globalen Lebensqualität, … Verringerung der Schmerzen und psychischen Belastungen” (S.111).
Diskussion
Wer könnte von dem Buch profitieren?
1. Der Neuling: Wer auf dem Gebiet unbewandert ist, profitiert vor allem durch das Einführungskapitel von Monika Nöcker-Ribaupierre. Er könnte sich nach der Lektüre die Wirkung von Musiktherapie mit dem Satz veranschaulichen: Musik beschäftigt das Gehirn so stark, dass andere Reize nicht wahrgenommen werden.
2. Wer sich für Hirnprozesse interessiert: Durch den Beitrag von Peter Henningsen wird die zentrale Bedeutung des Gehirns beim Schmerzerleben deutlich. „No brain no pain” könnte die Überschrift seines Artikels lauten. Leider überzeugt die Gliederung des Beitrags nicht durch Stringenz. Möglicherweise liegt das daran, dass es sich um ein Transskript seines Vortrags handelt und nicht um seine eigenes Manuskript.
3. Wer ein praktisches Beispiel der Arbeit sucht: Susanne Metzner gibt ein anschauliches Beispiel überzeugender praktischer Arbeit. Der Versuch theoretischer Verankerung im Rahmen Wittgensteiner Philosophie kann ohne Hinweis auf empirische Validierung nicht überzeugen. Auch die Auffassung, ein geschlossener Theorieentwurf sei nicht erstrebenswert, muss Forscher und an Forschung Interessierte befremden.
4. Wer sich über die Arbeit mit Rheumakranken informieren möchte: Im Beitrag „Musiktherapie und Rheuma” von Corinna Elling-Audersch handelt es sich um ein Beispiel kompetenter praktischer musiktherapeutischer Arbeit ohne Bezug auf einen empirisch überprüfbaren Rahmen.
5. Wer sich für Anwendungsmöglichkeiten bei Krebskranken interessiert: Ulrike Haffa-Schmidt dokumentiert ein Beispiel menschlichen Beistands für schwer leidende Krebspatienten ohne theoretische Ambitionen oder empirischen Wirkungsnachweis.
6. Wer etwas über Wirkungsforschung erfahren möchte: Im Beitrag von Peter Hoffmann handelt es sich um eine schon etwas ältere Pilotstudie, die sich der schwierigen Aufgabe empirischer Wirkungsforschung zu einer Zeit stellt, als die heute anerkannten mikroanalytischen Evaluationsmethoden noch nicht zur Verfügung standen. Aus dem quasi-experimentellen Design ergeben sich Probleme der Generalisierbarkeit und Replizierbarkeit. Als Einzelfallstudie zur Vorbereitung auf ein elaboriertes Forschungsdesign ist sie sicherlich verdienstvoll. Problematisch ist die Personalunion von Therapeut und Forscher.
7. Wer ausschließlich ein elaboriertes Forschungsdesign akzeptiert: Die Autoren und Autorinnen um Thomas Hillecke stellen sich ebenfalls der schwierigen Aufgabe des empirischen Nachweises von Wirkweise und Wirksamkeit der Musiktherapie. In den Studien bei erwachsenen Schmerzpatienten und bei Kindern mit Migräne sind die Anforderungen an ein Forschungsdesign für Kleingruppen erfüllt. Die explorative Studie bei Patienten mit Tumorschmerzen schafft die Grundlage für nachfolgende methodisch elaboriertere Forschung.
Fazit
Das Beste, was man über diesen Band sagen kann, ist,
- dass einige Autoren sich der mühevollen, aber dringend notwendigen Aufgabe widmen, nach Kriterien empirischer Methodik den Wirkungsnachweis von Musiktherapie zu liefern,
- dass definitorische Grundlagen gelegt werden,
- dass hirnphysiologisches Basiswissen dargestellt wird,
- dass schließlich Wirkungsforschung betrieben wird.
Der praktische Teil vor allem zeigt das theoretische Dilemma einer Profession, die aus sehr heterogenen Wurzeln stammt. Man führe sich nur die Liste der Vereine [1] vor Augen und man kann ahnen, dass jeder Zweig bemüht ist, bei seinen Wurzeln zu bleiben und teilweise nicht an elaborierter Wirkungsforschung interessiert ist. Vor allem der praktische Teil zeigt den bedauerlichen Eklektizismus.
Literatur
- Aaronson et al. (1993): The European Organization for Research and Treatment of Cancer QLQ-C30: A qualoity of-life instrument for use in international clinical trials in oncology. Journal of the National Cancer Institute 85, 365-376
- Bolay, H. V. und T. K. Hilleke (2001): Wenn Praxis und Forschung sich begegnen – Der HZFB als Messinstrument in der Musiktherapie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie 12, 63-71
- Busch, W.: Balduin Bählamm der verhinderte Dichter EAN 9783843001311
- Donner, B.et al. (2001): Klinische Schmerzmessung. In: Zenz, M. und I. Jurna (Hrsg.). Lehrbuch der Schmerztherapie. Grundlagen, Theorie und Praxis für Aus- und Weiterbildung (S. 109-126). Stuttgart
- Frank, J.D. (1992): Die Heiler – Wirkungsweisen psychotherapeutischer Beeinflussung. Vom Schamanismus zu den modernen Therapien. Stuttgart
- Geissner, E. (1996): Die Schmerzempfindungsskala – Handanweisung. Göttingen
- Jacobson, N. S. and Truax, P. (1998): Clinical Significance: A Statistical Approach to Defining meaningful Change in Psychotherapy Research. In: Kazdin. A. E. (Ed.): Mthodological Issues and Strategies in Clinical Research. Second Eidition (521-538). Washington
- Lambert, M. J. et al. (2002): Fragebogen zum Ergebnis von Psychotherapie: Zur Reliabilität und Validität der deutschen Übersetzung des Outcome Questionnaire 45.2 (OQ-45.2). Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 31, 40-47
- Mayer, E. A.; Naliboff, B. D.; Craig, A. D. (2006): Neuroimiging of the brain-gut axis: from basic understanding to treatment of functional GI disorders. Gastroenterology. 131(6): 1925-42
- Melzack (2005): Evolution of the neuromatrix theory of pain. The Prithvy Raj Lecture: 3 World Congress of World Institute of Pain. Barcelona 2004. Pain Pract 5 (2): 85-94
- Nickel, A. K. et al. (2001): Migränetagebuch für Kinder- Heildelberg: Deutsches Zentrum für Musiktherapieforschung
- Traue, H. C. (1998): Emotion und Gesundheit-Die psychobiologische Regulation durch Hemmung. Heidelberg
- Traue, H. C. et al. (2000): Zur ätiologischen Rolle gehemmter Expressivität bei bei Kopfschmerzen. Anaesthesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie 35, 248-254
- Wittgenstein, L. (1997): Philosophische Untersuchungen. Teil 2, Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main, 489-580
(1) Arbeitsgemeinschaft der staatlich anerkannten Musiktherapieausbildungen (AMA)
Berufsverband für Anthroposophische Kunsttherapie e.V. (BVAKT)
(2) Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e.V. (DMtG)
(3) Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung zur Förderung des Konzepts nach Schwabe e.V. (DMVS)
(4) European Music Therapy Confederation asbl (EMTC)
(5) Gesellschaft für Orff-Musiktherapie e.V. (GfOMT)
(6) Ständige Ausbildungsleiter-Konferenz privatrechtlicher musiktherapeutischer Ausbildungen (SAMT)
(7) Verein zur Förderung der Nordoff/Robbins Musiktherapie e.V. (NoRo)
(8) Berufsverband für Kunst_, Musik_ und Tanztherapie _ Wissenschaftliche Gesellschaft für künstlerische Therapien gem. e. V. (BKMT)
(9) First European Association of Arts Therapies (FEAT)
Rezension von
Prof. Dr. Gisbert Roloff
Mailformular
Es gibt 20 Rezensionen von Gisbert Roloff.
Zitiervorschlag
Gisbert Roloff. Rezension vom 21.03.2011 zu:
Monika Nöcker-Ribaupierre (Hrsg.): Musiktherapie und Schmerz. Dr. Ludwig Reichert Verlag
(Wiesbaden) 2008.
ISBN 978-3-89500-639-5.
Reihe: Institut für Musiktherapie: Schriften aus dem Institut für Musiktherapie am Freien Musikzentrum München e.V. - Band 11. Zeitpunkt Musik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10275.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.