Michael Janitzki: Adoption in der DDR
Rezensiert von Dr. Karl-H. Richstein, 04.11.2010

Michael Janitzki: Adoption in der DDR. Biographische Fallrekonstruktionen und Adoptionsvermittlung in Deutschland.
Kassel University Press
(Kassel) 2010.
429 Seiten.
ISBN 978-3-89958-848-4.
29,00 EUR.
Reihe: Biographie - Interaktion - Gesellschaft - 7.
Thema
Die Adoption eines nichtleiblichen Kindes gehört seit frühen Kulturen zu sozialen Formen des Zusammenlebens. Die Dissertation des Autors untersucht die Institution der Adoption aus der historischen Entwicklung des Rechtsinstituts und aus dem Blickwinkel der Akteure der Adoption. Dabei überlagern sich zwei Reflexionsebenen: Erstens in interpretierender Rückschau auf die „Wendezeit“ sowie dem Davor und Danach des geteilten/wiedervereinigten Deutschlands und zweitens in der Thematik des individuellen Erlebens eigener Adoptionsgeschichte von sechs Biografien.
Autor
Michael Janitzki ist ausgewiesener Praktiker im Bereich Adoption, war Erzieher im Kinderheim, ehrenamtlich im Vormundschaftsrat der DDR-Jugendhilfe tätig, studierte vor 1989 „Jugendfürsorge“ in der DDR und nach der Wende Sozialwesen in Jena und Supervision in Kassel. Er arbeitet seit 1991 in der Adoptionsvermittlung (13).
Aufbau
Die vorliegende Arbeit bezieht sich in wesentlichen Teilen ihrer theoretischen Begründung auf die Erkenntnisse der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1997), den pluralen Erkenntnissen aus der Psychologie und Soziologie sowie auf die Adoptionsforschung. Mit dem Bezug auf diese Basis wird versucht, die sog. „Theorie-Praxis-Schere“ zu schließen. Der Vorteil liegt in einer prinzipiell offenen Herangehensweise. Anders als beim Überprüfen vorher festgelegter Hypothesen entstehen im induktiven Weg neue Perspektiven. Leitmotiv der qualitativen Suchbewegung empirischer Sozialforschung bildet demgegenüber das praktische Erkenntnisinteresse am Verstehen des Subjekts und seines Einzelfalls, der dennoch gesellschaftsrelevant über sich selbst hinausweist. So ergibt sich eine Gliederung, deren einleitende Kapitel (2. - 6.; 17-146) ausschließlich als theoretische Sondierung zu verstehen sind, um in einem ausführlichen empirischen Teil (7.; 147-404) die „eigentlichen“ Erkenntnisse zu erarbeiten:
- Einleitung
- Akteure im Adoptionsverfahren: Eltern, Adoptiveltern, Adoptierte
- Jugendhilfe und Heimerziehung in der DDR
- Bindungstheorie als (notwendiger) Teil der Adoptionseignungsgespräche
- Identitätsentwicklung im Kontext von Adoption
- Forschungsmethodik
- Biografische Rekonstruktionen von sechs Einzelpersonen
- Auswertung & Erkenntnisse
Inhalt :Thematische Sondierung
In der Polarisierung zwischen
einer „Pathologisierung der Adoption einerseits und der
unkritischen Euphorisierung andererseits“ (15) verfolgt
Janitzki einen
in seiner Arbeit qualitativ-wissenschaftlichen Zugang. Über die
Darstellung der Adoption als Rechtsinstitut in der historischen
Entwicklung wird zunächst deutlich, dass in der Adoption neben
individuellen Motivationen von Fortbestand des Familiennamens und
Beständigkeit/Vermehrung des materiellen Erbes immer auch
politischer Steuerungswille (Erhalt des Kleinfamilienmodells,
politische Früherziehung etc.) eine bedeutende Rolle gespielt
hat. Auch in der „alten Bundesrepublik Deutschland“
bedurfte das materielle Adoptionsrecht verschiedener Novellierungen
(69-91). Erst seit 1977 (!) genießt das Schutzprinzip des
Kindes Priorität vor dem Interessenprinzip der annehmenden
Eltern (22). Eine Darstellung der Adoptionsrechte im geteilten
Deutschland mit Schwerpunkt auf der Jugendhilfe- und
Heimerziehungsinstitution in der DDR bis 1989 arbeitet der Autor
besonders heraus (69-91). Diese Vertiefung bildet die Basis für
den empirischen Teil (7, S. 147) der Arbeit.
Im
Adoptionsdreieck - induziert durch gesellschaftliche Setzung -
verbleiben laut Janitzki
„Reste
ursprünglicher Werte von Leiblichkeit versus Nichtleiblichkeit“
(29), die z.B. in der Redewendung eines „Ruf des Blutes“
hartnäckig verankert sind. Der Autor erweitert das Dreieck der
Akteure in ein Viereck, indem er die Adoptionsvermitllungsstellen mit
hinzuzählt und sich dem jeweiligen Blickwinkeln separat
zuwendet. Für abgebende Eltern stehen Gefühle von Scham,
Schuld und Verdrängung sowie Idealisierung potentieller
Adoptionseltern im Focus des Autors, für Adoptierte die
Urkränkung des Weggegebenwerdens, die Dankbarkeit der Erwählung
durch die aufnehmenden Eltern, die Unsicherheit der
Adoptionsoffenbarung sowie das Bewusstsein einer „doppelten
Familienzugehörigkeit“ (65ff). Für annehmende Eltern
gelten als kritische Fragen die Trauerarbeit über (häufig)
eigene Kinderlosigkeit, Motivationsklärung und die Tabuisierung
des Adoptionsstatus gegenüber den Adoptierten und der Umwelt. Im
Blick auf Adoptionsvermittler schieben sich externe Sachzwänge
wie Fallzahlenanforderungen, Zeitpläne und Reflexionsniveau der
machtvollen Stellung gegenüber den annehmenden Eltern in den
Vordergrund. Janitzki
scheut sich
nicht, ein eindeutiges Bekenntnis für eine offene Adoption
abzulegen und findet sich darin mit Wiemann (1993), Paulitz (1997),
Oelsner/Lehmkuhl (2005) u.a. in bester wissenschaftlicher Tradition
und Fundierung (37, 59-62).
In Anlehnung an den britischen
Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby wird die Bindungstheorie
nicht nur für einen wichtigen theoretischen Hintergrund
gehalten, sondern ganz praktisch für einen wichtigen Bestandteil
der Adoptionsgespräche. Janitzki
schließt
sich den Axiomen Bowlby´s an, die neben den bekannten Kriterien
von rhythmischer Koordination und Sinnesorientierung der sozialen
Elternschaft ein axiomatisches Primat einräumen (94). Dass frühe
sichere Bindung ein lebenslanges salutogenes Schutzpotential
darstellt und Resilienz fördert, wird durch eine Vielzahl
weitere „Bindungstheoretiker“ (Festinger
(1978), Hèdervàry
(1995), Nienstedt/Westermann
(2007) u.a.) untermauert. Interessant erscheint im Anschluss daran
das Kapitel zur Identitätsentwicklung, das sich vor dem
Hintergrund der Adoptionsfrage u.a. der Differenzierung von
Identitäts- und Biografiekonzept zuwendet und sich darüber
hinaus stark am Prozessbegriff E.H.
Eriksons
orientiert.
Inhalt: Empirisches Vorgehen
Den weitaus
größten Teil seiner Arbeit widmet der Autor seiner
empirischen Studie (147-405). Dabei bildet die Methode der
strukturalen Textanalyse (Oevermann
(1979), Schütze
(1983), Fischer
(1997, 2000) nach den bahnbrechenden Arbeiten Labovs
& Waletzkis
(1972)) den orientierenden Leitfaden.
Nach der Durchführung
der Interviews und deren wörtlicher Transkription will eine
Genogrammdarstellung eine erste Übersicht gewähren. Dem
Analyseschema folgend schließen sich eine Untersuchung der
biografischen Daten („gelebtes Leben“) sowie der
Selbstpräsentation des Biografen („erzähltes Leben“)
an. Die Strukturen des Erlebens („erlebtes Leben“)
versuchen biografische Schlüsselthemen zu erarbeiten. In
Feinanalysen einzelner Textstellen werden - ähnlich einer
medizinischen Biopsie textliche ´Gewebeprobe´ gezogen, um
die Mikrostruktur eines frag-würdigen Textabschnittes sichtbar
zu machen. Dieser methodische Schritt ist eine entscheidende
Ergänzung bei der Verifizierung bzw. Falsifizierung der
Hypothesen zur Makrostruktur biografischer Selbstrepräsentation.
In einer Kontrastierung von „erzählter und erlebter“
Lebensgeschichte werden die Ergebnisse verstehensfördernd
gegeneinander kontrastiert, um in einer abschließenden
Typenbildung idealtypische Sinnhorizonte pointiert zu rekonstruieren.
In der Exemplifizierung von sechs (sic!) Fallrekostruktionen werden
Ergebnisse in feinen Nuancierungen herausgearbeitet. Dabei entwickeln
sich verschiedenste Kriterien, die z.T. im thematisch sondierenden
Theorieteil bereits beschrieben wurden, z.T. aber auch weit darüber
hinaus weisen: Adoptionszeitpunkt im Bezug auf die Biografie des/der
Betroffenen, Form der Adoptionsoffenbarung, Umgang mit der
Adoptionsverletzung (Zurückweisung, Kinderlosigkeit),
Tabuisierungsgrad in der Adoptionsfamilie, Ursprungssuche und
Willkommensmythen in den jeweils annehmenden Familien.
Ein
Auswertungskapitel verknüpft Sondierungs- und Empirieergebnisse
miteinander, sodass erkennbar wird, wo sich Verbindungslinien zeigen
und wo die Arbeit Erkenntnisse über das bisher gebotene hinaus
bietet.
Diskussion
Die narrativ-biografischen Interviews,
auf deren Grundlage der Autor Erlebensprozesse rekonstruiert,
bekommen durch doppelte Bezugsebenen (Veränderungen der Zeit
nach 1989 einerseits und biografischer Rückblick von erwachsenen
Individuen andererseits) ihre besondere Bedeutung. Sie erfüllen
damit im klassischen Sinne die Anforderungen qualitativer
Sozialforschung, die empirischen Ergebnisse in gesellschaftsrelevante
Zusammenhänge stellen zu können. Eine Besonderheit mag in
den häufig aufscheinenden praktisch orientierten Querverweisen
liegen, die sich wechselnd an alle vier Akteursgruppen richten (54,
57, 65, 111ff). Für eine solche Schwerpunktsetzung spricht auch
die extrem kurz gehaltene methodologische Einführung zur
Forschungsmethode (139-146). Für eine zweite Auflage böten
sich formal noch Entwicklungsmöglichkeiten im Blick auf die
Genogramme, deren Bedeutungen sich erst nach der Fallstudie
erschließen (151, 197, 232) und im Blick auf die Gliederung des
Schriftsatzes, der die inhaltlich klare Gedankenabfolge häufig
nicht konsequent umsetzt (z.B. 143, 413ff).
Erfrischend
erweist sich die klare Positionierung des Autors. Dies mag in
Querverweisen sowohl auf die Kirche (19, 28) als auch auf die
Psychoanalyse (66) kontrovers zu diskutierbar sein, im Blick auf die
Diskussion um Babyklappe und anonyme Geburt lässt Janitzki
- quasi nebenbei
- eine höhere Bewertung des (späteren) Ursprungsinteresses
eines Adoptierten gegenüber dessen (vermeintlicher)
Lebensrettung durch die umstrittenen Maßnahmen erkennen (62-65)
und präsentiert sich mit klarem Blick für die notwendigen
Bewertungen.
Fazit
Als Ergebnisse fokussieren sich akteursbezogene und handlungsorientierende Positionen, die unabhängig vom Gesellschaftssystem gelten. Mit Blick auf die Adoptionspraxis (z. B. für die Adoptivelternschulung, verstehendes Übersetzen archivierter Adoptionsakten, unterstützende Reflexion eines „suchenden Adoptierten“, Supervision etc.) bietet diese Veröffentlichung eine unfassende Quelle. Auch wenn im Resümee des Autors selbst von wenig „gundlegend neuen Erkenntnissen“ (412) gesprochen wird, so liegt in den spannend und überzeugend dargestellten Fallrekonstruktionen ein Wert, den sowohl Fachleute als auch entsprechend Interessierte mit großem Gewinn rezipieren werden. Das liegt nicht nur an der gut lesbaren Sprache, sondern auch und vor allem an der Kompatibilität von Theorie- und Empirieteil miteinander sowie mit praktischen Erfahrungen der Adoptionsvermittlung.
Rezension von
Dr. Karl-H. Richstein
MA (MSO), Paar- & Familientherapeut(EKFuL), Mediation(BMev) &
Supervison(DGSv), Krisenintervention(ICISF)
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