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Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl et al. (Hrsg.): Kulturelle Dimensionen von Konflikten

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.11.2010

Cover Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl et al. (Hrsg.): Kulturelle Dimensionen von Konflikten ISBN 978-3-8376-1367-4

Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktoria Ratkovic (Hrsg.): Kulturelle Dimensionen von Konflikten. transcript (Bielefeld) 2010. 198 Seiten. ISBN 978-3-8376-1367-4. 24,80 EUR.

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Erkennen, dass uns die jeweils andere Geschichte unterschiedlich gemacht hat

Ich bin anders, weil ich Ich bin! Die von den Vereinten Nationen im Rahmen der Weltdekade für kulturelle Entwicklung (1988 – 1997) etablierte Weltkommission für Kultur und Entwicklung hat in ihrem Bericht „Unsere kreative Vielfalt“ (1995) eine globale Ethik für eine humane Weiterexistenz und –entwicklung der Menschheit gefordert und dafür als Grundlage „das Ethos der universalen Menschenrechte“ benannt: „Alle Menschen werden mit gleichen Rechten geboren und haben Anspruch auf diese Rechte, unabhängig von Klasse, Geschlecht, Rasse, Gemeinschaft oder Generation“. In den in der Menschheitsgeschichte immer wieder aufflammenden Konflikten über Anderssein, Dominanz, Höherwertigkeitsvorstellungen und Unterdrückung, wird genau diese Ethik missachtet und außer Kraft gesetzt. Die Ursachen und Schwierigkeiten von Ausgrenzung und der Definition, wer zu einer Gesellschaft gehören soll und darf und wer nicht, gründen ja immer wieder in den irrigen Vorstellungen, wie sie Ethnozentrismus und Rassismus hervorbringen. Der britische Soziologe Stuart Hall, Mitbegründer der Cultural Studies, hat dies in einem einleuchtenden Satz so formuliert: „Ich kann nicht so tun, als sei ich du. Ich weiß nicht, welche Erfahrungen du gemacht hast. Ich kann mir nicht deinen Kopf zerbrechen…“. In einem Gedicht heißt das: „Lass mich ich sein!“ Würden du und ich, Politiker, Ideologen und „Gesellschaftswisser“ dies stärker bedenken, wären die Positionen zu Integration, Assimilation, Anpassung … erträglicher, als sie sich – auch Hier und Heute – darstellen. Es würde auch die Erkenntnis wachsen können, dass menschliches Zusammenleben, kulturell und interkulturell, immer von Konflikten umgeben ist und damit der „Konflikt“ als ein ganz natürlicher und elementarer Zustand und Prozess eines friedlichen menschlichen Zusammenlebens darstellt, ja „Konflikt als paedagogicum“ anzusehen ist (vgl. dazu: Heinz Dedering, Hg., Konflikt als paedagogicum. Bestandsaufnahme und Weiterentwicklung konfliktorientierter Didaktik, 1981). Kulturbegriff und Kulturpraxis in einer Gesellschaft dürfen nicht als statisch, als einmal von wem auch immer formulierten Grundsätzen verstanden werden (z. B. steht hinter dem neuerdings wieder unreflektiert benutzten Begriff der „Leitkultur“ genau diese statische Auffassung); sie bedürfen der Erkenntnis, dass Kulturen miteinander agieren, sich verändern und weiter entwickeln.

Entstehungshintergrund

„Kultur kann im weitesten Sinn als Bedeutungssystem aufgefasst werden, das sich je nach historisch-spezifischem Kontext über unterschiedliche Praktiken auf allen Ebenen der Lebensweise spezifischer gesellschaftlicher Gruppen ausdrückt„; was bedeutet: Individuelles und gesellschaftliches Denken und Handeln als kulturgeprägte Verhaltensweisen und Orientierungsmuster zu begreifen. Nur so nämlich ist zu verstehen, dass „Kultur … untrennbar mit dem Gesellschaftlichen und Politischen verknüpft“ ist. An der österreichischen Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt arbeitet ein interdisziplinäres und fakultativübergreifendes Netzwerk zusammen, um die kulturellen Dimensionen von Konflikten in den Blick zu nehmen, die Bedeutungszusammenhänge zu analysieren und an den Beispielen der Funktionsweisen von Kultur nach humanen Lösungsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Das Forschungsnetzwerk „Kultur & Konflikt“, dem das Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung, das Institut für Philosophie, das Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik und die Fakultät für Kulturwissenschaften angehören, führt Workshops und Konferenzen durch in der Erkenntnis, dass „Wissenschaft nicht nur die Aufgabe (hat), die Welt zu interpretieren, sondern auch, sie zu verändern“.

Autorenteam

Die Herausgeber des Diskussionsbandes, der Sozialwissenschaftler und Philosoph Wilhelm Berger, die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Brigitte Hipfl, die Geschäftsführerin und Universitätslektorin am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien, Kirstin Mertlitsch und die Leiterin des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik, Viktorija Ratković, versammeln in dem Buch Beiträge aus den Bereichen der Gender Studies, der Friedensforschung, der Literatur-, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Psychotraumatologie, um die relevanten Relationen und Verschränkungen kulturellen Denkens und Handelns in den jeweiligen Gesellschaften zu analysieren.

Aufbau und Inhalt

Das Buch wird in fünf Kapitel gegliedert.

Im ersten Teil geht es den Herausgeberinnen und Herausgebern darum, „das Kulturelle an Konflikten in den Blick zu nehmen“. Im zweiten Kapitel steht die immer wieder geforderte und im kontroversen Diskurs um kulturelle Identitäten vernachlässigte und vergessene Forderung „Wider die Verallgemeinerung“. Die sich als populistisch, parteipolitisch oder kalkulativ-strategisch sich darstellenden Versuche, durch Verallgemeinerungen, Stereotypen- und Vorurteilsbildung öffentliche Aufmerksamkeit und Einfluss zu finden, werden vom Düsseldorfer Sozial- und Kulturwissenschaftler Fabian Virchow in seinem Beitrag „Kulturkonflikte – Zur theoretischen und empirischen Reichweite des ’Clash of Civilizations’ - Paradigmas“ diskutiert. Der Autor setzt sich kritisch und differenziert mit der von Samual P. Huntington in den Diskurs zum Verständnis von globaler Politik und internationaler Beziehungen gebrachten Formel vom „Kampf der Kulturen“ auseinander. Dabei arbeitet er die in der Rezeption und Diskussion aufgetretenen theoretischen und konzeptionellen Unschärfen heraus und weist auf die mangelnden, fehlinterpretierten und bewusst umformulierten Paradigmen hin, die eine empirische Nutzung erschweren und empfiehlt die Infragestellung von gesellschaftlichen Wissensbeständen „sedimentierter, identitätsstiftender kultureller Praxen“.

Den zweiten Beitrag zu „globalen und lokalen Konflikten: Die Rekontextualisierung des ’War on Terror’- Diskurses in nationalistischen Diskursen im ehemaligen Jugoslawien“ liefern die an der Universität in Ljublijana lehrende Sozialwissenschaftlerin Karmen Erjavec und die an der Universität von Colorado / USA tätige Zala Volčič. Sie untersuchen dabei serbische und kroatische Zeitungsberichte und zeigen dabei auf, wie serbische und kroatische Medien sich die US-dominierten Zuordnungen von lokalen und globalen Gewaltakten im nationalen Kontext aneignen und uminterpretieren in Nationalismen und damit „ihre militärischen Aktionen gegen MuslimInnen in den Kriegen innerhalb des ehemaligen Jugoslawien zu legitimieren und um sich in die globale Diskursgemeinschaft des Antiterrorismus einzuschreiben“.

Im dritten Kapitel wird der Zusammenhang von Geschlechterverhältnis und Gewaltverhältnis zum Thema gemacht. Die Klagenfurter Historikerin Tina Bahovec widmet sich der Thematik „Geschlecht und Nation in der Kärtner Slowenischen Gesellschaft“, indem sie charakterisiert: „Die Frau muss Frau bleiben und darf die von der Natur gegebenen Grenzen nicht überschreiten“. Sie greift dabei ein in der Forschung bisher kaum beachtetes Phänomen auf, dass „Publizistik, Politik und Vereine alles taten, um die Kärntner slowenischen Frauen und Mädchen vor der ’Flut’ der Moderne zu schützen und sie zum ´fraulichen’ Wirken für Familie, Volk und Gott zu ermuntern“.
Die aus Indien stammende Literaturwissenschaftlerin von der Universität von Pennsylvania / USA, Geetha Ramanathan, analysiert in dem Beitrag „The Partitioning of Women“ (was sowohl in der Bedeutung von Aufteilung der Frauen, als auch Trennung unter Frauen verstanden wird) zwei indische Romane (Sunlight on a Broken Column und Cracking India), indem sie die dort vermittelten Frauenbilder in Beziehung setzt zur Entstehung und Austragung von Konflikten, die sich bei der Unabhängigkeitswerdung und schließlich der Teilung Indiens (in Indien und Pakistan) vollzogen haben und die Identitäten von Hinduistinnen und Musliminnen bis heute bestimmen.
Christopher Kilmartin, Psychologe und Psychotherapeut von der University of Mary Washington in Fredericksburg/USA reflektiert die historisch wie aktuell immer wieder neue Frage: „Incremental Terrorism. Kulturelle Maskulinität, Konflikt und Gewalt gegen Frauen“. Dabei zeigt er an zahlreichen Beispielen auf, dass Rassismus und Sexismus zu den wohl bekanntesten und alltäglich ausgeübten Verhaltensweisen in der US-amerikanischen Gesellschaft gehören: „Unter allen gesellschaftlichen Vorurteilen scheint Sexismus das akzeptabelste zu sein. Die Kultur der Vereinigten Staaten perpetuiert den Glauben, dass Männer und Frauen grundsätzlich verschieden seien, etwa betreffend Vorlieben für Farben, Getränke und Aktivitäten, oder im Hinblick auf Angewohnheiten, Emotionen, der Einstellung zu Arbeit und Beziehungen, und viele andere Lebensaspekte“.
Kirstin Mertlitsch wendet sich in ihrem Beitrag „neuen deutschen Feminismen“ zu, indem sie am Beispiel von ausgewählten Sachbüchern und Zeitschriftenartikeln das dort propagierte „Wir“ – Bewusstsein von „Alphamädchen, F-Klasse und germanischen Emanzen“ offen legt. Dabei vermittelt sie, dass, zur Etablierung der deutschen Dominanzkultur (z. B. bei Migrationsdebatten), Geschlechterthemen, Feminismus und Emanzipation benutzt werden. Dabei gehen Strategien von Antifeminismen Verbindungen mit den neuen Feminismen ein, die sich zwar in ihren ideologischen Ausprägungen unterscheiden (Überlegenheit der eigenen Kultur versus Anspruch auf kulturelle Vorherrschaft), jedoch in ihren Wirkungen, etwa „als implizite Abgrenzung und Abwertung von nicht-westlichen Gesellschaften“ (wie dies reflexhaft in letzter Zeit durch Sarrazin und Seehofer inszeniert wird!), als gleich fatale und dominante Strömungen zu bewerten sind.

Im vierten Kapitel „Ver-Fremden“ wird die Spannweite des „Fremden“ und des „Anderen“ thematisiert. Die Soziologin an der schwedischen Universität Umea, Nora Räthzel, berichtet über ihre Forschungsarbeiten: „Strategien junger MigrantInnen beim Eintritt in das schwedische Arbeitsleben“, indem sie feststellt: „Mit der Angst kämpfen, auf Hoffnung bestehen“. Diese zweifelsohne auch für andere Migrations- und Integrationssituationen in Europa und nicht zuletzt für Deutschland interessanten Einsichten und Ergebnisse machen deutlich, dass es sowohl einer individuellen und emphatischen Aufklärung, als auch eines gesellschaftlichen und institutionell-gesetzgeberischen Perspektivenwechsels bedarf; etwa zur Einführung von Anti-Diskriminierungsbestimmungen.
Die Soziologin, Sprach- und Literaturwissenschaflerin an der kroatischen Universität in Zadar, Mate Ćosić, diskutiert „queere Identitäten, Affirmation und die Politik des Coming out“ (Queer Studies, eine interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Forschungsrichtung, die im Bereich der Gender Studies sich heterosexuellen Normen und Genderidentitäten widmet). Dabei beschreibt sie Formen und Aktivitäten aus den US-amerikanischen Wirklichkeiten und vergleicht sie mit queeren Lebensentwürfen und Aktivismen in Kroatien. Die sich im Wandlungsprozess von der Homosexualität als stigmatisierte Identität zur Homosexualität als Identität sich vollziehenden Brüche, Irritationen, Machtpositionen bedürfen, so die Autorin, einer Strategie, die sich hin orientiert zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz, gar zu einem „Leben queerer Multiplizität“.

Im fünften und letzten Kapitel wird dazu aufgerufen, dass sich „diese“ Vergangenheit ihrer Gegenwart stellen muss. Die Klagenfurter Diplompsychologin und Psychotherapeutin Nora Ramirez Castillo berichtet über ihre Feldforschungen, die sie in einem peruanischen Andendorf durchgeführt hat und ordnet ihre Erfahrungen und Ergebnisse in die Arbeit der „Peruanischen Kommission für Wahrheit und Versöhnung“ ein. Diese als exemplarisch für Konflikte in Bürgerkriegs- und ethnischen Auseinandersetzungen zu wertenden Analysen zeigen auf, dass „Versöhnung“ ein langwieriger und unfertiger Prozess ist, der, soll sie wirksam werden, einer institutionellen Strategie bedarf.
Die ebenfalls an der Universität Klagenfurt an der Abteilung für Sozialpsychologie, Ethnopsychoanalyse und Psychotraumatologie tätige Barbara Preitler beschließt das Kapitel mit ihrem Beitrag über „Sri Lanka - Ein Land nach dem Krieg“. Sie berichtet über ein erfolgreich verlaufendes Lehr-, Trainings- und Forschungsprojekt, das nach der Tsunami-Katastrophe zur Ausbildung von psychologisch gebildeten Helfern bei psychischen Problemen von Menschen in den ländlichen Gebieten Sri Lankas. Die absurde Situation: Die Gelder nach der Naturkatastrophe sind aufgebraucht – das Projekt kann nicht weitergeführt werden.

Fazit

Über kulturelle Dimensionen von Konflikten zu reflektieren und zu forschen, ist ohne Zweifel in der sich immer interdependenter, multikultureller und entgrenzender Einen (?) Welt zu einer wichtigen Herausforderung für Hier und Heute geworden. Dass diese wissenschaftliche Aufgabe nicht mehr disziplinär, sondern nur noch interdisziplinär und kooperativ erfolgen kann, dürfte mittlerweile zum wissenschaftlichen Selbstverständnis gehören. Dass wir hierbei erst am Anfang eines notwendigen Perspektiven- und Paradigmenwechsels stehen und die Anforderungen weiterhin und vermehrt angegangen werden müssen, darüber berichten die Klagenfurter Initiativen. Um noch einmal auf die anfangs erwähnte Arbeit der Weltkommission für „Kultur und Entwicklung“ zurück zu kommen, lässt sich ohne Zweifel der dort formulierte Appell auch auf die lokalen und globalen Wissenschaftsaktivitäten zur Friedens- und Konfliktforschung anwenden: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“.

Die Klagenfurter Bausteine für eine zielstrebige, kontinuierlich und nachhaltig sich entwickelnde; humane, gerechte, demokratische und friedliche EINE WELT können Bestandteile dieser Sehnsucht sein!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.11.2010 zu: Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktoria Ratkovic (Hrsg.): Kulturelle Dimensionen von Konflikten. transcript (Bielefeld) 2010. ISBN 978-3-8376-1367-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10333.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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