Susanne Kreutzer (Hrsg.): Transformationen pflegerischen Handelns
Rezensiert von Dr. phil. Hubert Kolling, 10.12.2010

Susanne Kreutzer (Hrsg.): Transformationen pflegerischen Handelns. Institutionelle Kontexte und soziale Praxis vom 19. bis 21. Jahrhundert.
V&R unipress
(Göttingen) 2010.
234 Seiten.
ISBN 978-3-89971-784-6.
39,90 EUR.
Reihe: Pflegewissenschaft und Pflegebildung - Band 5.
Thema
Das gesundheitliche Versorgungssystem erlebt bereits seit einigen Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Staaten einen starken Umbruch, der – je nach Perspektive – unter Begriffen wie Professionalisierung, Ökonomisierung, Technisierung, Rationalisierung oder auch Modernisierung diskutiert, genauer gesagt der Öffentlichkeit „verkauft“ wird. Wenngleich damit auch die Grundlagen pflegerischen Handelns tief greifende Veränderungen erfahren, wurde bislang überraschend wenig über die konkreten Konsequenzen für das Selbstverständnis und die Praxis von Pflege – insbesondere über die Frage, wie sich der Kern pflegerischen Handelns und die Beziehung zu den Patienten verändert – nachgedacht. Hier setzt das vorliegende Buch an, in dem AutorInnen mit unterschiedlichen disziplinären und methodischen Zugängen die jüngeren Transformationen der Pflegepraxis und der Rahmenbedingungen pflegerischen Handelns analysieren.
Herausgeberin, Autorinnen und Autoren
Für die Herausgabe des Sammelbandes zeichnet sich die Historikerin Susanne Kreutzer verantwortlich. Nach ihrer Promotion 2003 an der TU Berlin mit der Dissertation „‘Liebestätigkeit‘ als moderner Frauenberuf. Das weibliche Krankenpflegepersonal und der Bund freier Schwestern in der Gewerkschaft ÖTV 1949-1968“ war sie zunächst als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung mit der Durchführung eines Oral History-Projektes zur Geschichte der Krankenpflege betraut, bevor sie von 2005 bis 2008 das von der VolkswagenStiftung geförderte Projekt „Krankenpflege und religiöse Gemeinschaft. Das Beispiel des Diakonissenmutterhauses der Henriettenstiftung seit 1944“ leitete. Zugleich ist sie seit 2005 Habilitandin und Lehrbeauftragte im Fachgebiet Pflegewissenschaft, Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. Seit 2010 Leiterin des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes „Rationalisierung der Krankenpflege in Westdeutschland und den USA, 1945 bis Anfang der 1970er Jahre. Eine Vergleichs- und Transfergeschichte“ hat Susanne Kreutzer eine Reihe pflegehistorischer Arbeiten veröffentlicht, darunter ihre Dissertation unter dem Titel „Vom ‚Liebesdienst‘ zum modernen Frauenberuf. Die Reform der Krankenpflege nach 1945“ (Frankfurt am Main 2005).
Neben der Herausgeberin haben zu dem Sammelband neun weitere Personen Beiträge beigesteuert: Sabine Bartholomeyczik, Professorin am Institut für Pflegewissenschaft, Fakultät für Medizin der Universität Witten / Herdecke; Barbara Duden, Professorin am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie – Fach Soziologie der Leibniz Universität Hannover; Manfred Hülsken-Giesler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück; Arne Manzeschke, Privatdozent, Akademischer Oberrat und Leiter der Arbeitsstelle für Theologische Ethik und Anthropologie der Universität Bayreuth; Karen Nolte, Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Geschichte der Medizin der Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Hartmut Remmers, Professor für das Fachgebiet Pflegewissenschaft, Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück; Lukas Slotala, Diplom-Pflegewirt (FH), MPH, Doktorand in der Arbeitsgruppe Versorgungsforschung / Pflegewissenschaft der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld; Gunnar Stollberg, Professor an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld; Marianne Tolar, Postdoktorandin an der School of Communication der Simon Fraser University in Burnaby (Kanada).
Entstehungshintergrund
Die meisten Beiträge des Sammelbandes entstanden im Zusammenhang mit der Tagung „Krankenpflege und religiöse Gemeinschaft. Transformationen vom 19. bis 21. Jahrhundert“, die vom 27. bis 29. Februar 2008 in der Henriettenstiftung in Hannover durchgeführt wurde. Die Veranstaltung fand dabei im Rahmen des von der Volkswagenstiftung geförderten und der Herausgeberin geleiteten Forschungsprojektes „Krankenpflege und religiöse Gemeinschaft. Das Beispiel der Henriettenstiftung seit 1944“ statt.
Aufbau
Nach einem Geleitwort von Hartmut Remmers (S. 7-8) und einer Einleitung von Susanne Kreutzer (S. 9-16) gliedert sich der Band in drei Teile mit zwei, drei und fünf Kapitel:
I. Konzeptionelle Deutungen
- Barbara Duden: Mit Kopf und Sinnen, mit Händen und Verstand. Ein Versuch zur Bedeutung der Pflegenden im modernen Medizinsystem (S. 19-31)
- Hartmut Remmers: Transformationen pflegerischen Handelns. Entwurf einer theoretischen Erklärungsskizze (S. 33-64).
II. Historische Perspektiven
- Gunnar Stollberg: Sozialer Wandel in der Krankenversorgung seit dem 19. Jahrhundert (S. 67-86)
- Karen Nolte: Pflege von Sterbenden im 19. Jahrhundert. Eine ethikgeschichtliche Annäherung (S. 87-107)
- Susanne Kreutzer: Fragmentierung der Pflege. Umbrüche pflegerischen Handelns in den 1960er Jahren (S. 109-130)
III. Gegenwartsbezogene Analysen
- Sabine Bartholomeyczik: Professionelle Pflege heute. Einige Thesen (S. 133-154)
- Manfred Hülsken-Giesler: Modernisierungsparadoxien der beruflichen Pflege im 21. Jahrhundert (S. 155-174)
- Arne Manzeschke: Transformation der Pflege. Ethische Aspekte eines subtilen und zugleich offenkundigen Wandels (S. 175-193)
- Lukas Slotala: Gute Pflege trotz Ökonomisierung? Ambulante Pflegedienste im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen Zielvorgaben und Versorgungsbedarf (S. 195-214)
- Marianne Tolar: Computer und Pflege. Eine widersprüchliche Beziehung (S. 215-229).
Inhalt
In seiner Funktion als Herausgeber der Schriftenreihe „Pflegewissenschaft und Pflegebildung“ weist Hartmut Remmers in seinem Geleitwort auf die Bedeutung der Reihe hin, die er als ein Forum insbesondere für die grundlagentheoretische Forschung und Weiterentwicklung einer in Deutschland noch jungen Disziplin versteht. Wörtlich führt er hierzu weiter aus: „Es gehört zu den Überzeugungen des Herausgebers, dass zu diesem Zweck ein von externem Handlungs- und Verwertungsdruck entlasteter empirischer Beobachtungs- und theoretischer Denkfreiraum geschaffen werden muss. Dem Charakter eines Forums soll die Publikationsreihe auch dadurch genügen, dass sie einen Ort der systematischen Verarbeitung und Bündelung disziplinär vielfach weit verstreuter, jedoch pflegewissenschaftlich relevanter empirischer Befunde darstellt. Sie soll insoweit einer fächerübergreifenden Kommunikation mit anderen Wissenschaften dienen und diesen Dialog stärken“ (S. 7).
Zur Intention und Bedeutung ihrer Veröffentlichung schreibt Susanne Kreutzer einleitend: „Die Irritation über aktuelle Selbstverständlichkeiten in der Organisation beruflicher Pflege bildet den Ausgangspunkt des Buches. Sein Interesse gilt gleichermaßen den Umbrüchen in der Pflegepraxis als auch den Faktoren des Wandels, die aus historischer, pflege-, gesundheits- und sozialwissenschaftlicher, theologischer ebenso wie medizinsoziologischer Perspektive diskutiert werden. Das Buch spannt den Bogen von den Pflegetraditionen des 19. Jahrhunderts, die – noch weitgehend unberührt von einem naturwissenschaftlich-technischen Krankheitsverständnis – ihre Aufgabe wesentlich in der Seelenpflege der Patienten sahen, bis zum beginnenden 21. Jahrhundert“ (S. 10). Erst in dieser längeren historischen Perspektive, so die These des Buches, würden die aktuellen Umbrüche in ihrer Dramatik wirklich sichtbar. Der Sammelband verstehe sich damit gleichzeitig als Einladung, bislang unkritisch weitergereichte Annahmen über die Entwicklung des eigenen Berufes als einer Geschichte kontinuierlichen Fortschritts in Frage zu stellen.
Den Auftakt im ersten Teil („Konzeptionelle Deutungen“) macht ein Beitrag von Barbara Duden, die aus körpergeschichtlicher Perspektive die Bedeutsamkeit pflegerischen Handelns im modernen Medizinsystem analysiert. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet dabei die „Krise der Medizin“ seit den 1970er Jahren, die sie als Krise der persönlichen Beziehungen zum Patienten charakterisiert. Die Betrachtung ihrer Gegenwartsanalyse verknüpft die Autorin mit Überlegungen zum Stellenwert von Pflegenden. Hierbei regt sie an, der Bedeutsamkeit des Pflegepersonals mit seinem spezifischen Handlungs- und Wissenstypus forschend genauer auf die Spur zu kommen, um so auch besser ermessen zu können, was es heißt, wenn die überkommene, gleichsam systemwidrig konzipierte Pflegepraxis durch eine fortgesetzte Ökonomisierung der Arbeitsorganisation zunehmend verunmöglicht wird.
An die Ausführungen schließt Hartmut Remmers – mit Rückgriff auf Max Weber und Jürgen Habermas – mit einer Analyse aus pflegewissenschaftlicher Perspektive an, wobei er die Umbrüche pflegerischen Handelns als Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses versteht. Hierbei geht er insbesondere der Frage nach, welche Folgen die Übertragung moderner Konzepte von Zweckrationalität – unterschieden zwischen „Organisations- und Patientenwelten“ – auf das Feld sozialer Beziehungen und eines auf gegenseitige Verständigung angewiesenen heilberuflichen Handelns hat. Die Transformationen auf der organisatorischen Ebene charakterisiert der Autor als einen „Prozess der Kolonialisierung von Lebenswelten und professionellen Handlungssystemen“. Pflegerisches Handeln, verstanden als Beziehungsarbeit, werde damit im Kern deformiert; die (Erlebnis-) Welt des Patienten, seine „innere Realität“ und die seiner Angehörigen, rückten aus dem Blickfeld. Er schließt mit einem Appell, eine „historisch-sozialwissenschaftliche Anthropologie menschlicher Fürsorgeverhältnisse“ für die Pflegewissenschaft fruchtbar zu machen und auf dieser Basis eine „Selbstverständlichkeitsdebatte“ über das „Proprium der Pflege“ und die unabdingbaren Voraussetzungen pflegerischen Handelns voranzutreiben.
Der zweite Teil („Historische Perspektiven“), der drei historisch argumentierende Beiträge enthält, beginnt mit einem medizinsoziologischen Überblick von Gunnar Stollberg zum sozialen Wandel der Krankenversorgung seit dem 19. Jahrhundert. In seiner Betrachtung unterscheidet er zwischen der Ebene der Arzt-Patient-Interaktion, der Sozialen Begegnungen, der Organisation und der Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert setzte sich nach Ansicht des Autors die Ärzteschaft als dominante Profession im Krankenversorgungssystem durch, wobei sich die Medizin zunehmend an den Naturwissenschaften orientiert habe. Die Implementierung des Konzepts eines grundsätzlich egalisierten Verhältnisses zwischen Arzt und „mündigem“ Patienten, das sich aus dem Kontext der Selbsthilfebewegung der 1970er und 1980er Jahre entwickelte, sei unterdessen ein problematischer Prozess, der sich keinesfalls per se mit den Wünschen von Patienten decke.
In den Beiträgen von Karen Nolte und Susanne Kreutzer werden die gängigen Bilder von der Geschichte der Krankenpflege in Deutschland „auf den Kopf gestellt“. Die Autorinnen zeigen, dass die Traditionen konfessioneller Krankenpflege einer dringenden Neubewertung bedürfen. Karen Nolte, die am Beispiel der Alltagspraxis von Sterbebegleitung das Selbstverständnis von Krankenschwestern und deren Verhältnis zur Ärzteschaft im 19. Jahrhundert untersucht, vergleicht die Schilderungen von Diakonissen mit Briefen von Agnes Karll (1868-1927) – einer freiberuflichen Krankenschwester und prominenten Vorreiterin einer Verberuflichung und Professionalisierung der Krankenpflege. Hierbei kann sie nachweisen, dass die Diakonissen in der Sterbebegleitung und palliativen Schmerztherapie nicht nur beachtlich eigenständig, sondern mitunter auch entschieden entgegen ärztlicher Anordnung handelten. Entgegen dem verbreiteten Bild war Agnes Karll in ihrem Denken und Handeln – nach Ansicht der Autorin – erheblich „arztorientierter“ als die evangelischen Schwestern, für die die Mutterhausleitung die zentrale Autorität bildete.
Nach den Ausführungen von Susanne Kreutzer verstand sich die christliche Krankenpflege noch in den 1950er Jahren keinesfalls als ärztliche Hilfstätigkeit. Vielmehr bildete die „Einheit von Leibes- und Seelenpflege“ den Kern des evangelischen Pflegeverständnisses, das sich in die Organisationslogik konfessioneller Krankenhäuser einfügte, wie die Autorin am Beispiel eines Diakonissenmutterhauses belegt. Die 1960er Jahre waren ihrer Ansicht nach eine Phase „tief greifender Fragmentierung der Pflege“, indem Erwerbs- und Privatleben getrennt wurden und sich eine arbeitsteilige Versorgung der Patienten durchsetzte. Aus der Schwester als „Betreuerin der Kranken“ sei die „Gehilfin des Arztes“ geworden; zugleich habe die Pflege die Gestalt eines „medizinischen Hilfsberufs“ angenommen.
Zwei kritische pflegewissenschaftliche Bestandsaufnahmen zu aktuellen Konfliktlagen beruflich-professioneller Pflege stehen am Anfang des dritten Teils („Gegenwartsbezogene Analysen“). Die hierbei von Sabine Bartholomeyczik und Manfred Hülsken-Giesler vorgestellten Überlegungen basieren auf einem handlungstheoretischen Professionsverständnis, das – im Unterschied zu Merkmalstheorien, die den Status einer Profession an die Erfüllung bestimmter tätigkeitsunspezifischer Kriterien binden – die „innere Logik pflegerischen Handelns“ fokussiert. Anknüpfend an die seit dem 19. Jahrhundert geführten Debatten um das Wesen der Pflege, die sich in einer Vielzahl von Pflegetheorien manifestieren, geht Sabine Bartholomeyczik zunächst der Frage nach, wie sich das spezifisch pflegerische Handeln von ärztlicher Tätigkeit unterscheidet. Ihre Bilanz der aktuellen Gesundheitspolitik – bezogen auf die Anerkennung pflegerischer Professionalität – fällt dabei überaus nüchtern aus, auch wenn sie bemerkenswerte Unterschiede in der Versorgungssituation ausmachen kann. Ursachen für die erhebliche Diskrepanz zwischen Professionsanspruch und gesellschaftlichem Stellenwert sieht die Autorin in der spezifischen historischen Entwicklung in Deutschland, die maßgeblich dazu beigetragen habe, dass Angehörige der Pflegeberufe nach wie vor erhebliche Probleme haben, ihren Versorgungsauftrag inhaltlich zu formulieren und gesundheitspolitisch zur Geltung zu bringen.
In dem Beitrag von Manfred Hülsken-Giesler geht es um die Untersuchung der Rückwirkungen aktueller gesellschaftlicher und gesundheitspolitischer Transformationsprozesse auf das pflegerische Handeln und Selbstverständnis beruflicher Pflege als „einen Prozess paradoxer Modernisierung“. Die Spezifik pflegerischen Handelns verortet er dabei in dem besonderen, situativ gebundenen Körper- und Leibbezug zum erkrankten Gegenüber. Nach Ansicht des Autors spielen in der Pflege implizite Wissensformen, nicht operationalisierbare Tätigkeiten eine herausragende, professionstheoretisch hoch relevante Rolle. Ein aktuelles Problem sei zudem die informationstechnische Aufbereitung pflegerischer Arbeit.
Im Mittelpunkt des Beitrages von Arne Manzeschke stehen die gegenwärtigen Umbrüche im Gesundheitswesen, die der Autor aus ethisch-theologischer Perspektive untersucht beziehungsweise als einen Prozess fortschreitenden Verlustes an Zuwendung beschreibt. Indem die gegenwärtige Managementkonzepte, so seine Kritik, vor allem auf die Effizienzsteigerung der Organisationen abstellen, werde die Belastbarkeit der Akteure sträflich vernachlässigt. Während die Beschäftigten des Gesundheitswesens mit einer permanenten Forderung nach Leistungssteigerung konfrontiert seien, würden zugleich – im Zeichen der Effizienzoptimierung – die Ermessens- und Handlungsspielräume der professionellen Akteure schwinden. In diesem Zusammenhang mahnt er den dringenden Bedarf einer Diskussion um die Grenzen von Effizienzkonzepten an.
Indem Lukas Slotala nach in seinem Beitrag nach den Auswirkungen des marktwirtschaftlichen Umbaus des Gesundheitswesens auf die Praxis und Qualität der Krankenversorgung fragt, beleuchtet er die „Innenseite“ des Ökonomisierungsprozesses. Auf der Grundlage von Interviews mit Beschäftigten ambulanter Pflegedienste zeigt er, dass sich der Kostendruck vor allem in Gestalt einer Begrenzung von „Zeitbudgets“ realisiert, die in tiefen Widerspruch zum Versorgungsauftrag treten. Demnach erleben Pflegende die wachsende Diskrepanz zwischen zeit-ökonomischen und pflegerischen Zielen als erhebliche Belastung, die mit beträchtlichen Irritationen ihres beruflichen Selbstverständnisses einhergehen. Insgesamt betrachtet zeichnen die Ergebnisse des Autors ein vielschichtiges Bild: Demnach wird die Praxis ambulanter Pflegedienste zwar in einem hohen Maße von ökonomischen Effizienzkriterien beeinflusst, gleichwohl variiere der Grad betriebswirtschaftlicher Durchdringung zwischen den Pflegediensten – vor allem, weil nicht alle Leitungspersonen gleichermaßen bereit seien, sich den neuen ökonomischen Imperativen widerstandslos unterzuordnen, wenn sie ihren professionellen Versorgungsanspruch als ernsthaft gefährdet ansehen.
In der modernen Pflege haben Computer als Medien des Informationsaustauschs eine immer größere Bedeutung gewonnen. Auf der Basis ethnographischer Studien beleuchtet Marianne Tolar in ihrem Beitrag die facettenreichen Varianten, in denen Computersysteme Arbeitsroutinen verändern können. Nach Ansicht der Autorin ist der Computer ein Medium, mit dem die Perspektiven des Managements im Pflegealltag verankert werden. Sie vertritt die Ansicht, dass die Auswirkungen des „Computerisierungsprozesses“ jedoch kein einheitliches Muster aufweisen und der Technikeinsatz zudem nicht per se negative Effekte haben muss. Die Folgen seien vielmehr hochgradig abhängig von der konkreten Realisierung der einzelnen Systeme und den zugrunde liegenden Designentscheidungen.
Diskussion
Durch den enormen Druck auf Einrichtungen des Gesundheitswesens, verursacht durch die konkurrierenden Ziele Wirtschaftlichkeit (Stichwort: leistungsorientierte Vergütung durch DRG´s) und den Anspruch an eine humane Kranken- und Altenversorgung, ist das Kontinuum einer intensiven Diskussion über unternehmerische und individuelle Werte sowie Verhaltensgrundsätze erforderlich. Hierzu bietet der von Susanne Kreutzer herausgegebene Band „Transformationen pflegerischen Handelns“ eine hervorragende Grundlage. Die breit gestreuten Beiträge sind nicht nur informativ, sondern verweisen zugleich auf die enormen Desiderata in der pflegewissenschaftlich-historischen Grundlagenforschung. So ist beispielsweise noch viel zu wenig bekannt über die Genese der aktuellen Konfliktlagen – die Periodisierung von Umbrüchen, die Zusammenhänge von gesellschafts- beziehungsweise gesundheitspolitischen Transformationen, Aneignungspraxen und Widerständen seitens der Akteure, sowohl der Pflegenden als auch der Patienten und den Angehörigen anderer Gesundheitsberufe.
Indem das Buch historische und gegenwartsbezogene Analysen miteinander verknüpft ist es hilfreich, die aktuellen Umbrüche im Pflegebereich in einer längeren historischen Zeitperspektive zu verorten und in ihrer Spezifik besser verstehen und charakterisieren zu können. Die einzelnen Beiträge beziehungsweise die darin aufgezeigten beträchtlichen Einbußen in der persönlichen Versorgungsqualität in der Betreuung alter, kranker und notleidender Menschen stimmen dabei hochgradig nachdenklich. Insofern setzt der Band nicht nur der bisherigen Geschichtsblindheit von Pflegewissenschaft und -praxis etwas entgegen, er ist auch eine gute Grundlage, um eine kritische Distanz zu gegenwärtigen Selbstverständlichkeiten zu gewinnen und die längst überfällige Diskussion um die Bedingungen für die Möglichkeit bedürfnisorientierter Pflege voranzutreiben.
Fazit
Der von Susanne Kreutzer herausgegebene Band „Transformationen pflegerischen Handelns“ sollte jenseits der Pflegewissenschaft und ihren VertreterInnen von all jenen zur Kenntnis genommen werden, die sich über die (aktuellen) Umbrüche im Gesundheitswesen und den damit verbundenen tief greifenden Folgen für die Gesundheitsberufe und die ihnen anvertrauten Menschen informieren und kompetent mitreden möchten.
Rezension von
Dr. phil. Hubert Kolling
Krankenpfleger, Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe
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