Michael Bommes, Veronika Tacke (Hrsg.): Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 22.11.2010

Michael Bommes, Veronika Tacke (Hrsg.): Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 315 Seiten. ISBN 978-3-531-16095-5. 29,95 EUR.
Ist der Netzwerkforschung die Gesellschaft abhanden gekommen?
Netzwerke als soziale, gemeinschafts- und differenzbildende Systeme sind keine neue Entwicklung; sie bilden schon immer die Grundlage für das menschliche Zusammenleben, und sie dienen der Forschung als Analyse- und Reflektionsgrundlage; insbesondere in der Soziologie und den Sozialwissenschaften insgesamt. Netzwerke bilden die Gesellschaft ab, beschreiben die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Prozesse und zeigen nicht selten Ideologien und programmatische gesellschaftliche Vorgaben auf; aber auch gegensätzlich zum allgemeinen Mainstream verlaufende Entwicklungen. Insbesondere in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen) Welt sind Netzwerkbildungen, lokal und global, Kennzeichen für Traditionen und Veränderungen. In der Netzwerkforschung firmieren dabei unterschiedliche soziologische, politische und ökonomische Konzepte und Methoden, wie etwa „Governance“ in der Form einer „Good Governance“ – Betrachtung, wie auch in der sozialen Netzwerkanalyse (SNA), einer Methode zum Wissensmanagement, die insbesondere individuelle und kollektive Beziehungsnetzwerke betrachtet und sich daran orientiert, Empfehlungen und Werkzeuge für Interventionen in der Praxis und weitere systematische Folgeaktivitäten zu erarbeiten, die Wissenskommunikation zu verbessern und Trends und Tendenzen der privaten und öffentlichen Meinungsbildung und –durchsetzung zu beschreiben. Schauen wir die zahlreichen, politisch und strukturell (demokratisch und institutionell) gemachten und manipulativ (illegitim) entstehenden Kommunikationsformen und Machtkonstellationen überall in der Welt an (aktuell und hier die kontroverse Diskussion um das Projekt „Stuttgart 21“), so wird deutlich, dass die Steuerbarkeit von Netzwerkbildungen nicht nur nach den klassischen Meinungsbildungsformen betrachtet und beurteilt werden kann; vielmehr sind Netzwerke „ubiquitär“. Netzwerke entstehen und wirken auf allen Ebenen des menschlichen Handelns, und sie reichen von privat orientierten, über nachbarschaftliche bis hin zu politischen und kulturellen Prozessen eines gemeinsamen Tuns auf der Grundlage von vielfältigen Zielsetzungen und Interessen. Sie bedürfen also einer besonderen wissenschaftlichen Betrachtung, und hier insbesondere der Berücksichtigung von gesellschaftlichen Entwicklungen, lokal und global (vgl. dazu z. B.: Andreas Joppich, Think Global! Projekte zum Globalen Lernen in Schule und Jugendarbeit, 2010, sowie: Peter Mörtenböck / Helge Mooshammer, Netzwerk Kultur. Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt, 2010, Rezensionen).
Autorenteam und Entstehungshintergrund
Der Soziologe und Methodologe an der Universität Osnabrück, Michael Bommes und die Organisationssoziologin an der Universität Bielefeld, Veronika Tacke, widmen sich als Herausgeber einer Summierung eines Netzwerk-Workshops dem Unbehagen, „dass im Zuge der bemerkenswerten Erfolgsgeschichte der Netzwerkforschung eine Unsicherheit darüber entstanden ist, wo und wie diese Forschungen eigentlich wissenschaftsprogrammatisch zu verorten und systematisch zu verankern sind“. Dabei stellen sie fest, dass es in der sozialen Netzwerkanalyse eine Entwicklung gibt, in der die gesellschaftlichen Bezüge aus dem Blickfeld geraten. Sie setzen sich deshalb für eine „Theorie der Gesellschaft“ ein, „die es zum einen erlaubt, die Vielfalt und Heterogenität sozialer Netzwerkphänomene zu ordnen und sie zugleich in eine Relation zu anderen sozialen Strukturen der Gesellschaft zu setzen“. In dem Tagungsband wird, bezogen auf soziale Netzwerke, das Verhältnis von Gesellschaft und Netzwerk unter differenzierten, soziologisch orientierten und interdisziplinären Aspekten diskutiert.
Inhalt
Die Beiträge der 13 Autorinnen und Autoren werden vier Kapiteln zugeordnet: „Gesellschaft und soziales Netzwerk“, „Netzwerke in Funktionskontexten der Gesellschaft“, „Netzwerkbildung an den Grenzen der modernen Gesellschaft“ und „Neue Medien des Social Networking“. Michael Bommes und Veronika Tacke stellen im ersten Kapitel in ihrem Text „Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes“ die verschiedenen Konzepte der Systembildung von Netzwerken und des Modus ihrer Strukturbildung vor und zeigen auf, wie sich die „soziale Unübersichtlichkeit“ in der Netzwerkforschung und –wirklichkeit erklären lässt. Sie entwickeln ein Netzwerkkonzept, das „sekundäre Systembildungen“, wie sie sich in der sozialen Netzwerkanalyse zeigen, als eigenständige Analyseaufgabe für die Netzwerkforschung anbieten. Für die politische Soziologie reflektiert Boris Holzer von der Universität Bielefeld „Differenzierung von Netzwerk, Interaktion und Gesellschaft“, indem er die vielfältigen traditionellen und modernen Formen der Netzwerkbildung in Beziehung setzt zu den Wirklichkeiten der Netzwerkentwicklung: „Die moderne Gesellschaft schafft gerade dadurch die Voraussetzungen für eine besondere Prominenz von Netzwerken, dass sie eben kein Netzwerk ist – bzw. genau dadurch, dass sie mehr ist als ein Netzwerk oder eine Menge von Netzwerken“. Peter Hertner, Wirtschafts- und Sozialgeschichtler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die historische Forschung zum Netzwerkkonzept. Dabei verdeutlicht er, dass „Netzwerke neben positiven auch weniger willkommene Ereignisse hervorrufen können“.
Das zweite Kapitel beginnt erneut Veronika Tacke mit vergleichenden Perspektiven zu „Soziale Netzwerkbildungen in Funktionssystemen der Gesellschaft“. Dabei ist für die Autorin nicht in erster Linie „die Frage (erklärungsbedürftig) ob sich Netzwerke mit Bezug auf Strukturbedingungen funktionaler Differenzierungen bestimmen, sondern wie sie dies im einzelnen tun“; denn soziale Netzwerke im Kontext von Wissenschaft, Kunst (Kultur), Politik und Wirtschaft ermöglichen gesellschaftliche Strukturen und bilden sie ab und kanalisieren „Legitimitätsfragen …, die mit dem genuinen Partikularismus sozialer Netzwerkbildungen gerade im Kontext des Universalismus der Funktionskontexte aufgeworfen sind“. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der TU Berlin, Christina Besio, stellt „Netzwerke der Wissenschaft“ vor. Indem sie die relevanten Merkmale von Wissenschaftsnetzwerken diskutiert und dabei die Systemtheorie in den Mittelpunkt stellt, macht sie deutlich, „welche Beobachtungsperspektiven sich eröffnen, wenn Netzwerke als Systeme mit eigener Dynamik beschrieben werden“. Dabei werden eben nicht nur Eigenstrukturen und Prozesse von Netzwerken beschrieben, sondern es werden die Beobachtungsmöglichkeiten vervielfältigt. Karl-Heinz Ladeur, Rechtswissenschaftler an der Universität Hamburg, zeigt auf, dass „Netzwerke des Rechts“ sich in verschiedenen Gesellschaftsformen und –modellen darstellen. Dabei bildet das Rechtssystem der „Gesellschaft der Individuen“ und das Rechtssystem der „Gesellschaft der Organisationen“ die Blaupause und den Transformationsriemen hin zum Rechtssystem der „Gesellschaft der Netzwerke“, in dem „ein neues Zivilrecht der Netzwerke entsteht, das vor allem durch die Aufhebung der Grenzen zwischen außen und innen, Austausch- und Gesellschaftsvertrag, Arbeits- und Werkvertrag, Selbständigkeit und Unselbständigkeit bestimmt wird“ und damit ein neues Regulierungsrecht schafft. Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Ludwig Schneider und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Isabel Kusche von der Universität Osnabrück diskutieren „parasitäre Netzwerke in Wissenschaft und Politik“. Gemeint sind damit Netzwerke, die im üblichen Sinne „nicht darauf angelegt sind, Querverbindungen zwischen verschiedenen Systemkontexten zu etablieren, sondern sich stattdessen im Binnenkontext oder an der Peripherie einzelner Organisationen und Funktionssysteme ansiedeln und dort spezifische Funktionen übernehmen bzw. charakteristische dysfunktionale Effekte erzeugen können“ und damit kontinuierlich Irritationen, Konflikte und Störungen in den Informationsprozessen bewirken.
Im dritten Kapitel zeigt der Bielefelder Soziologe Tobias Werron „versteckte Netze“ auf, indem er die Unterscheidung „öffentlich / geheim“ vornimmt. Er geht davon aus, dass „Netzwerke … auf Diskretion und Geheimhaltung angewiesen (sind)…, weil sich ihre spezifische Leistungsfähigkeit auch aus der Differenz zur öffentlichen Operativität von Funktionssystemen definiert“. Damit weist der Autor auf die Grundprobleme der Differenzierungsdynamik der Funktionssysteme, lokal und global, hin. Michael Bommes setzt sich mit „Migrationsnetzwerke(n) in der funktional differenzierten Gesellschaft“ auseinander. Dabei weist er auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Sichtweisen und Standortbestimmungen in den modernen Migrations- und Einwanderungsgesellschaften hin und verdeutlicht, wie ein Gelingen und Misslingen von Migrationsnetzwerken zu erklären ist. Der Bielefelder Kommunikationswissenschaftler Klaus P. Japp stellt in seinem Beitrag die „Bedeutung von Vertrauensnetzwerken für die Ausdifferenzierung politischer Kommunikation“ dar. Angesichts der globalen Risiken, wie sie sich durch die Zentren- und Peripheriebildung, durch Migration, durch gesellschaftliche Exklusion, durch Finanz-, Klima- und Umweltkrisen darstellen, bedarf es für die soziologische Forschung der Aufmerksamkeit für „evolutionär relevante (regional unterschiedliche) Pfadabhängigkeiten der Entwicklung der Weltgesellschaft“.
Im vierten und letzten Kapitel werden von Stefan Beher, Christian Hilgert und Thorben Mämecke, alle von der Universität Bielefeld, ausgewählte Medien und Werkzeuge vorgestellt, um „funktionale Differenzierung, Selbstdarstellung und Beziehungspflege auf Social Networking Patforms“ im Diskurs der Netzwerkforschung zu diskutieren, die Techniken im Für und Wider zu erläutern und die Nutzer und Nutzung der Medien zu analysieren. Dabei stellen sie insbesondere die „Polykontexturalität“ im Hier und Jetzt der Forschungsprozesse heraus.
Fazit
Netzwerke sind überall; diese allzu platte und unzulängliche Charakterisierung von Kommunikationssystemen in der globalisierten Welt wird mit dem Tagungsband „Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft“ relativiert und mit der Methode und Sozialtheorie der sozialen Netzwerkanalyse problematisiert und konkretisiert. Die Analyse, dass der Netzwerkforschung die Gesellschaft abhanden gekommen sei, wird mit den Beiträgen im Buch gewissermaßen mit einem „gesellschaftstheoretischen Defragmentierungsprogramm“ ausgestattet. Mit der Unterscheidung von Gesellschaft und Netzwerk formulieren die Autorinnen und Autoren einen neuen Anker, der die „Erfolgsgeschichte der Netzwerkanalyse“ ohne Zweifel stabiler und systematischer als gesellschaftliches Analyse- und Bewertungsinstrument etabliert. Es geht darum, das Verhältnis von sozialen Netzwerken und funktional differenzierten Gesellschaften zu klären; das ist eine gesellschaftstheoretische und eine –praktische Aufgabe für moderne, offene, tolerante und demokratische Gemeinschaften.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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