Roger Scruton: Ich trinke, also bin ich
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.11.2010

Roger Scruton: Ich trinke, also bin ich. Eine philosophische Verführung zum Wein. Diederichs (München) 2010. 256 Seiten. ISBN 978-3-424-35044-9. 19,99 EUR.
Vinosophie
Nachdenken über Wein! Was haben Genießer und Säufer nicht alles geschrieben, gelacht und gelallt, wenn sie den „Göttertrunk“ aus Rebensaft preisen wollten. Ganze Weinberge könnte man füllen mit den literarischen Ergüssen über den Wohlgeschmack und die Wirkung des Weins auf Menschen - seit es Menschen gibt und Kulturen, die das Genuss- und Rauschmittel benutzten, um aufzutanken, abzuschalten und hinüber zu wechseln in andere Welten. Götter und Wein, diese Symbiose hat der griechische Philosoph Plato hervor gehoben; und die Römer sahen im Wein die Wahrheit des Lebens: in vino veritas! Weinliebhaber und Weinkenner gelten als Genussmenschen und Frohnaturen. In der Vinothek werden Plörren und Qualitäten angeboten. Und im Sprichwort „Dummheit frisst – Intelligenz säuft!“ wird der Weingenuss über die profanen Ebenen der Ernährung hinweg gehoben auf die Stufen der Vornehmheit und der Privilegien. Damit erhält der Weingenuss gewissermaßen die höheren gesellschaftlichen Weihen, im Gegensatz etwa zur Völlerei oder zum Besäufnis.
Weinverkostungen gelten als gesellschaftliche Ereignisse, und Weinhändler locken mit Weinproben. Beim Degustieren edler Tropfen werden die Unterschiede zu billigen Speiseweinen deutlich. Seltene und ausgesuchte Jahrgänge, abgefüllt in edlen Weinflaschen, legen sich Spekulanten als Wertanlagen in die Keller und Tresore. Ganze Bibliotheken von Weinführern werden auf dem Büchermarkt angeboten, in denen Genießer erfahren, wie edle Tropfen fachgerecht gelagert, geschmackvoll serviert und passend mit Fisch oder Fleischgerichten kombiniert werden. Der Weinbauer oder Winzer war früher, ähnlich wie der Landwirt jemand, der die Kenntnisse des Weinanbaus und –verarbeitens, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, meistens in der Familie erworben hat; Heute wird der Önologe (vom Griechischen oenos = Wein, logos = Lehre) als Experte für Weinbein, Keller- und Betriebswirtschaft an einer Fachhochschule ausgebildet und als Diplom-Önologe an der Universität. Als Vinologe bezeichnet sich jemand, der über die Geschichte des Weins, die Weinkultur und vor allem die Weinkritik Bescheid weiß und dies meist in Büchern, Zeitschriften, im Rundfunk und Fernsehen publiziert. Die Urteile von Weinkritikern sind in der Weinwirtschaft gefürchtet, wenn sie sich negativ auf Weinsorten, -lagen und –jahrgänge beziehen; positiv und geschäftsfördernd, wenn sie bestimmte Produkte hervorheben. In Restaurants, die von Gourmets und Weinkennern besucht werden, waltet der Sommelier oder die Sommelière des Amtes; nämlich das was in den mittelalterlichen Höfen der „Mundschenk“ für die vornehme und bestimmende Gesellschaft besorgte, nämlich den anspruchsvollen Gästen den passenden Wein zur Speisenfolge zu empfehlen und anzubieten. Der staatlich geprüfte Sommelier erhält seine berufliche Qualifikation in den Hotelfach; und der „Sommelier professionel (BA), oder im Ausland der „Bachelor Professional of Wine“ erwirbt seine Ausbildung in Berufsakademien und Fachhochschulen.
Im Wein liegt die Wahrheit
Das wusste schon der römische
Gelehrte Gaius Plinius Secundus Maior, genannt Plinius der Ältere,
der etwa von 23 bis 79 n. Chr. lebte. Die Suchmaschinen des www
bieten mehr als 11 Millionen Einträge zum Stichwort „Wein“
an. Und auf der Homepage von „Wikiquote“ werden Zitate,
Sprichwörter und Belege aus literarischen Erzeugnissen
ausgewiesen; etwa Theodor Storms -
„Der Nebel steigt, es fällt
das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den
grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!“ –
in seinem
Oktoberlied; und Ludwig Christoph Heinrich Hölty formuliert in
seinem Trinklied:
„Die Erde wär' ein Jammertal
Voll
Grillenfang und Gicht,
Wüch„s uns zur Lindrung unsrer Qual
Der edle Rheinwein nicht.“.
In seinem Gedicht „West-östlicher
Divan“ setzt sich Goethe mit Wein – Wahrheit –
Religion auseinander:
„Ob der Koran von Ewigkeit sei?
Darnach
frag ich nicht!
Ob der Koran geschaffen sei?
Das weiß ich
nicht!
Daß er das Buch der Bücher sei
Glaub ich aus
Mosleminen-Pflicht.
Daß aber der Wein von Ewigkeit sei
Daran zweifl ich nicht…“.
Der im 4. Jahrhundert v. Chr.
lebende griechische Philosoph Kratylos formulierte: „Wein
ist dem glücklichen Sänger ein schnelles Pferd, als
Wassertrinker bringst du jedoch nichts Rechtes zustande“. Die
Trinkfolge wird mit dem Sprichwort bestimmt: „Bier auf Wein, das
lasse sein! Wein auf Bier, das rat“ ich dir.“ Mit der Redensart
„Jemandem reinen Wein einschenken“ heißt im
übertragenen Sinne, jemandem unverhohlen den wahren Sachverhalt
mitteilen. Der griechische Gott Dionysos symbolisiert Wein, Trauben,
Fruchtbarkeit, Freude und Ekstase. Die Römer nannten ihn Bacchus
und schrieben ihm die gleichen heftigen Eigenschaften, Wohltaten und
Ausschweifungen zu.
In vino veritas
Über „vinosophie“, der Auseinandersetzung darüber, dass Wein mehr ist als ein Getränk und in die historische und kulturelle Entwicklung der Menschheit eingebunden ist, gibt es zahlreiche Abhandlungen und philosophische Traktate, die sich insbesondere mit der Frage nach den philosophischen Temperamenten befassen (vgl. dazu: Peter Sloterdijk, Philosophische Temperamente. Von Platon bis Sartre, München 2009; siehe Rezension in www.socialnet.de/rezensionen) und mit der Kultur des Genießens (siehe: Mario Scheuermann, Wein und Zeit. Von der Kultur des Genießens, Stuttgart 2007, Rezension in www.berlinerliteraturkritik.de/15715).
Roger Scruton, britischer Philosoph, Schöngeist und Schriftsteller, geb. 1944, lehnt sich mit seinem Buchtitel „Ich trinke, also bin ich“ an die bekannte Descartesche Erkenntnis – „Cogito ergo sum“ „Ich denke, also bin ich“) – an, wenn er sich daran macht, den Zusammenhang von Philosophieren und Weingenuss zu ergründen. Dabei geht es ihm nicht darum, einen weiteren „Weinführer“ zu schreiben; vielmehr will er uns, mit der richtigen Stimmung und Dosis, zum Wein verführen. Dabei zeigt er gleich zu Anfang die Grenzen, als Laster, und die Perspektiven, als Tugend, auf. Es ist also nicht das sinnlose Saufen und der alkoholisierende Rausch, das er diskutiert und reflektiert, sondern die Bereicherung, die der Weingenuss im individuellen und gesellschaftlichen Dasein den Menschen bringt, „vorausgesetzt, er dient zur Anregung des Gesprächs, und dieses bleibt zivilisiert und im Allgemeinen“. Es geht um das Maß und das Ziel: „Ein Gläschen in Ehren, kann niemand verwehren„; viele Gläser hingegen, hintereinander getrunken, schädigen Körper und Geist, wie dies deutlich in dem wissenschaftlichen Symposium 2008 in Oxford deutlich wurde (vgl. dazu: Fritz Allhoff, Hg., In Vino Sanitas. Wine and Philosphy. A Symposium on Thinking and Drinking). Dabei plädiert Scruton gegen die Formen von Prohibition und auch gegen Scheinheiligkeit und Doppelmoral, und dafür, „dass Wein und Tugend zusammengehen können“. Der Wein wird dabei zum Begleiter der Philosophie und die Philosophie als ein (Neben-)Produkt des Weins stilisiert: „Wein zur rechten Zeit, am rechten Ort und in passender Gesellschaft genossen, weist den Weg zur Meditation – ein Vorbote des Friedens“. Scruton gliedert seine Vinosophie in die beiden Sätze seines Buchtitels: „Ich trinke …“ und „… also bin ich“. Im ersten Teil erzählt er die ganz persönliche Geschichte seiner Weinentdeckung. Er, der in einer wohlbehüteten, traditionellen britischen, puritanischen Familie aufwuchs, wurde mit Holunderwein behutsam und dosiert in die Genusswelt der Erwachsenen eingeführt, eher als Heilmittel, denn als alkoholisches Getränk. Während seines Studiums in Cambridge verbrachte der die Semesterferien bei einem irischen Kauz, oder sollte man eher sagen: Lebenskünstler in Paris. „Und dann ging’s los“. Er lernte die französischen Weine kennen und lieben, „Dorf für Dorf, Lage für Lage„; intellektuell und vinutiös gefördert durch seinen Tutor im Studium der Philosophie in Cambridge, einen gewissen Dr. Picken und weiteren „Bacchus-Priestern“ spätern in London. Mit der „Tour de France“ begann er sich „von zu Hause nach Frankreich zu trinken“. Auf dieser „Erfahrungs„- und „Probier„- Passage gewinnt Scruton Erkenntnisse wie etwa diese: „Aus meiner Sicht ist Wein die beste Medizin gegen Stolz„; und er machte (verkostende und schlagende) Bekanntschaft mit den unterschiedlichen Expertenmeinungen, wie den „Terroiristes“, die der Qualität, im Geschmack und in der Kultur des Weins auf den Boden zurückführen, auf dem er wächst, und den „Garagistes“, die der jeweiligen Traube diese Eigenschaften zuschreiben. Und seine und seiner Familie besitz- und nach Sesshaftigkeit strebenden Bemühungen in Frankreich und in den USA ließen bei ihm Erkenntnisse reifen, wie: „Friede kehrt ein, wenn die Menschen Weinstöcke anpflanzen, und er findet ein Ende, wenn sie anfangen, nach Öl zu bohren“. Burgund, Rhone, Arèche, Bordeaux, Languedoc, Blue Ridge Montains in Kalifornien … Und der Rest der Welt? Wo die Weinreben doch aus Kleinasien kamen? Assyrien, Mesopotamien, Palästina, Libanon, Ägypten… Der Retsina in Griechenland, Amerika, Australien, Neuseeland, Südafrika… Die Syrah-, die Tempranillotraube, und die Philosophen, Dichter, Schriftsteller, Reisenden, die darüber berichtet, den Wein verkostet haben; all das liest sich spannend wie ein Krimi und entspannt wie eine Novelle.
Im zweiten Kapitel geht es um das „Sein und Bewusstsein“, und um so an- und aufregende Wörter wie das „also“ – „also bin ich“. Wie gehen Philosophen mit dieser scheinbar einfachen und einleuchtenden Aussage um? Kant, Fichte, Hegel, die Schopenhauersche Erkenntnis, dass das erste Glas den Weines sei, das dessen wahren Geschmack erschließe; Aristoteles, Plato; Thomas von Aquin, Heidegger und die Upanischaden – es sind die Entdeckungen, die den Leser zum (Nach-)Forscher werden lassen, um zwischen Sein und Wein zu ergründen, was der Autor behauptet: „Wein, mit Verstand genossen, verändert die Welt…“ Dieserart Wein genossen bringt das Sinnliche und Ästhetische der menschlichen Existenz zum Vorschein; lässt die Sinne des Riechens und Schmeckens wach werden – und wird zum Objekt der Erkenntnis. Da werden die Warner und Puritaner zu Nebensächlichkeiten und Nichtigkeiten, vorausgesetzt wir können unterscheiden zwischen dem tugend- und dem lasterhaften Trinken; und es gelingt uns, diese Unterschiede nicht nur zu erkennen, sondern sie auch zu leben: „In dem Wein, den wir trinken, liegen Tugend und Laster nahe beieinander, ebenso wie in der Art, wie wir trinken“. Es ist also die Balance“, wie sie in den asiatischen Philosophien des Yin und Yang und im westlichen Denken als Mäßigung grundgelegt ist, die den Weingenuss als Lebens- und Denkmittel und als Geisteshaltung für ein eu zên, ein gutes Leben, präsentiert.
In Anhang unternimmt Roger Scruton etwas, was den Gesundheitspolitikern und –fanatikern weniger schmecken, die Weingenießer aber erfreuen wird. Er stellt vier Prinzipien auf, die in den gesellschaftlichen Diskurs gehörten – weil sie so einsichtig, human und optimistisch klingen:
Trinke, was dir schmeckt, und zwar so viel, wie du möchtest! // Füge durch dein Trinken anderen Menschen keinen Schaden zu! // Achte darauf, dass durch dein Trinken der Natur kein Schaden zugefügt wird! // Trinke nichts, was in Plastikflaschen daher kommt!
Beim Reflektieren dieser Ratschläge wird schon deutlich, dass die scheinbar unbeschränkten Empfehlungen des Nachdenkens bedürfen, um die Wenn und Aber zu erkennen.
Der Philosoph Roger Scruton formuliert schließlich zum Schluss einige Anregungen, wie man mit den Werken von Philosophen umgehen solle, um die „Tugendhaftigkeit des Weins“ zu erkennen: Plato, Aristoteles, Cicero, St. Augustinus, Boethius, Avicenna, Averroes, Thomas von Aquin, Maimonides, Bacon, Descartes, Spinoza, Leibnitz, Locke, Berkeley, Hume, Kant, Frichte, Hegel, Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Russel, Husserl, Sartre, Heidegger, Patocka, Wittgenstein, Richard Strauss, Hamvas…
Fazit
Der erst einmal irritierende (und provozierende) Titel und der den Inhalt bestimmende Untertitel des Buches lassen den Leser aufmerksam und neugierig werden, was Wein und Sein im philosophischen Sinne miteinander zu tun haben. Weintrinker, wenn sie zu billigen, gemixten und kruden Weinangeboten in den Supermärkten greifen, um die Flüssigkeit in sich hinein zu schütten, werden wohl eher nicht das Buch von Roger Scruton in die Hand nehmen – es sei denn, es dämmert bei ihnen eine Ahnung, dass Wein trinken mehr sein könnte als die Vernichtung eines Flascheninhalts und Wein genießen etwas mit Denken zu tun hat!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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