Christian Gudehus (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung
Rezensiert von Mag. Harald G. Kratochvila, 14.03.2011

Christian Gudehus (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2010. 364 Seiten. ISBN 978-3-476-02259-2. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 77,00 sFr.
Gedächtnis und Erinnerung – starre Abbilder oder dynamische Prozesse?
Der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen lässt in seinem Stück Hedda Gabler einen Protagonisten über die Zukunft und deren prinzipielle Unvorhersehbarkeit reden: „Von der Zukunft! Aber mein Gott, von der wissen wir doch gar nichts.“ Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: „Nein. Aber trotzdem gibt es das eine und andere über sie zu sagen.“ (Ibsen 2006, 51) Zukunft und Vergangenheit bestimmen die menschliche Gegenwart – dieser Banalität auf die Spur zu kommen, die Wirkmechanismen zu verstehen, wie Denken und Zeit zusammenhängen, kann zum Teil über das genauere Verstehen von Erinnerung und Gedächtnis passieren. „Die Erinnerung hat eine natürliche Affinität zum Denken; alle Gedanken … sind nachträgliche Gedanken. Gedankengänge entstehen ganz natürlich, fast automatisch, völlig bruchlos, aus dem Erinnern.“ (Arendt 2008, 276) Die Re-Flexion über das Vergangene führt uns rasch zur Frage, was das menschliche Denken eigentlich ausmacht - „Trotzdem können wir gar nicht denken ohne Gedächtnis und Erinnerung: jeder „reine“ Gedanke, den wir denken, wird alsbald (wie der Gedanke „Dreieck“) zu einer von unserer Einbildungskraft affizierten „Figur“ oder gerät (wie der Gedanke „Hund“) zu einem „Bild“, und solche Figuren und Bilder sind es, derer wir uns erinnern. Würden beide zu „bloß Gedachten“. Dann hätte das „Denken des Gedachten“ die figurierenden ebenso wie die bildschöpferischen Leistungen der memoria und der reminiscentia verzehrt und verschlungen, auch unser Bewußtsein wäre dann nurmehr „rein gedacht“ – und unser bewußtes Leben geriete zu einem „nur gedachten“ Trug.“ (Otto 2007, 15). Man könnte sogar soweit gehen und behaupten, dass es gerade die Fähigkeit Erinnerungen lebendig zu halten ist, die das Besondere des Menschen ausmachen - „Was einen Menschen zum Menschen und damit zu etwas macht, für das wir verantwortlich sind, dem gegenüber wir eine Verpflichtung zu helfen haben, das ist eben seine Endlichkeit und Verletzlichkeit.“ (Zizek 2005, 16). Die menschliche Endlichkeit und Verletzlichkeit ist – folgt man den bisherigen Zitaten – Produkt unserer Vergangenheit, besser – unseres Zugriffs auf diese Vergangenheit in Form unserer Erinnerungen und mittels unseres Gedächtnisses. Für den bereits zitierten Henrik Ibsen entsteht daraus etwas Gespenstisches: „Aber ich glaube fast, wir sind allsamt Gespenster … Es ist ja nicht nur, was wir von Vater oder Mutter geerbt haben, das in uns herumgeistert; auch alte abgestorbene Überzeugungen und ähnliches. Sie sind nicht lebendig in uns; aber sie sitzen in uns fest, und wir können sie nicht loswerden. Wenn ich nur eine Zeitung zur Hand nehme und darin lese, sehe ich solche Gespenster zwischen den Zeilen herumschleichen. Die scheinen im ganzen Land zu leben. Sie scheinen so zahllos zu sein wie Sandkörner. Und darum sind wir auch so gotterbärmlich lichtscheu; wir alle miteinander.“ (Ibsen 2007, 45). Diese Schemen – diese Gespenster formen aber nicht nur jedes Individuum für sich, sondern uns gemeinsam - „We come repeatedly under the influence not only of our own pasts as understood by others, but of the pasts of others. Sharing memory is our default. So we can respond to any preoccupation with accuracy in the philosophy and psychology of memory by theorizing the self as relationally shaped, and by acknowledging the value of ongoing renegotiation over the significance of shared experiences as communities forge a useable past together.” (Campbell 2008, 41). Sich eine gemeinsame Vergangenheit zu schaffen – wie ist das möglich? Über welche Kanäle gelangen individuelle Erfahrungen und Erlebnisse in den Erinnerungsfundus der Gesellschaft?
Jedenfalls ist es von besonderer Wichtigkeit, sich über den Modus des Erinnerns klar zu sein: „ …daß es durchaus nicht dasselbe ist, ob jemand „Erinnerungen hat“ oder ob jemand „sich erinnert“. Einer Person, die „sich“ erinnert, wird man eine „Intimität“ mit den ihr bewußten Erinnerungen nicht absprechen wollen; eine Person indes, die Erinnerungen wie Zahnschmerzen nur „hat“, verharrt zu ihnen in einer Distanz extrinsischen, äußerlichen Habens, und mit dem von ihr „Gehabten“ wird sie kaum „unmittelbar vertraut“ sein können.“ (Otto 2007, 331). Diese eingeforderte Rückbezüglichkeit der Erinnerungen stellt sich aber nicht einfach ein - „Man verliert sich so selbst leicht aus dem Gedächtnis.“ (Ibsen 2007, 46). Und am Ende steht die Frage – Was ist der Mensch? „Ohne Introspektion, ohne unmittelbares Bewußtsein von Gefühlen, Emotionen, Wahrnehmungen, Gedanken könnten wir das Gebiet der menschlichen Psychologie nicht einmal bezeichnen. Und doch muß man einräumen, daß wir, wenn wir uns ausschließlich auf diesem Weg bewegen würden, niemals zu einer umfassenden Anschauung vom Wesen der Menschen gelangen könnten. Die Introspektion offenbart uns nur jenen eng umgrenzten Bereich des menschlichen Lebens, der unserer individuellen Erfahrung zugänglich ist. Sie kann nie und nimmer das gesamte Feld menschlicher Phänomene erfassen. Auch wenn es uns gelänge, sämtliche Tatsachen zusammenzutragen und zusammenzufügen, hätten wir doch bloß ein ärmliches, bruchstückhaftes Abbild, einen bloßen Torso von der Natur des Menschen.“ (Cassirer 2007, 16)
Die Natur des Menschen als dem sich erinnernden Tieres – vielleicht ist das eine geeignete Ausgangsbasis für die Beschäftigung mit der Frage, wie Gedächtnis und Erinnerung zusammen hängen, und was die Bestimmung der beiden für die Bestimmung des Menschen bedeutet.
Entstehungshintergrund und Autoren
Christian Gudehus, promovierter Sozialwissenschaftler, ist am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) tätig (www.kwi-nrw.de) und seit 2005 Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Center for Interdisziplinary Memory Research (www.memory-research.de). Seine Publikationen und Projekte sind Beleg für sein jahrelanges Interesse am Thema Gedächtnis und Erinnerung. Ariane Eichenberg, promovierte Literaturwissenschaftlerin, ist Lehrbeauftragte am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart (www.uni-stuttgart.de/literat) und Redakteurin der Zeitschrift „Erziehungskunst“ (www.erziehungskunst.de). Harald Welzer arbeitet als Professor für Sozialpsychologie an der Universität Witten-Herdecke (www.uni-wh.de) und ist Direktor des bereits genannten Center for Interdisziplinary Memory Research. In seinen Veröffentlichungen setzt er sich immer wieder mit dem Nationalsozialismus auseinander.
Die Autoren des Buches sind durchwegs anerkannte Fachleute, die in jeden einzelnen Beitrag ihre wissenschaftliche Expertise eingebracht haben – das macht das vorgelegte Handbuch zu einer wichtigen (deutschsprachigen) Quelle für die Auseinandersetzung mit den Phänomenen Erinnerung und Gedächtnis.
Gedächtnis und Erinnerungen als interdisziplinäre Schnittstelle
Es könnte sehr einfach sein – Wir könnten Gedächtnis als System verstehen, das es ermöglicht Information jeder Art aufzunehmen, aufzubewahren und dadurch auch wieder bereit zu stellen. Erinnerung wäre dann nichts anderes, als der Abrufvorgang dieser Information. Dieses Gedankenbild stellen die Herausgeber an den Beginn des Handbuchs „Gedächtnis und Erinnerung“ und führen den Leser in das interdisziplinäre Spannungsfeld von naturwissenschaftlichen (Medizin, Psychologie, …) und kultur-, sozial-, und geisteswissenschaftlichen Definitionsversuchen und Forschungsvorhaben. Doch es gilt zu beachten, was der österreichische Literat Heimito von Doderer in einem seiner Bücher über die menschliche Wahrnehmung geschrieben hat: “Die Wahrnehmung wird nicht so vollzogen, dass einfach in jemand was hineingeschüttet wird, wie wenn einer im Wirtshaus ein Seidl Bier trinkt.” (von Doderer 1995, 202). Analog dazu – Ein Glas Wasser ist kein Erinnerungsspeicher, sprich Gedächtnis, und das Wasser zu trinken hat nichts mit Erinnerung zu tun …
Wie auch immer: Das Buch beginnt mit einer Darstellung der Grundlagen des Erinnerns (Gudehus et al. 2010, 11-74) – Neurobiologische und psychologische Modelle werden vorgestellt, mit denen eine naturwissenschaftliche Beschreibung der Phänomene Gedächtnis und Erinnerung gelingt. Im zweiten Teil des Buches erfolgt die Ausdifferenzierung des Systems Gedächtnisses über individuelle und kollektive Träger von Erinnerungen hinweg (Gudehus et al. 2010, 75-125). Das was Rüdiger Pohl, der Autor des Beitrags über das autobiographische Gedächtnis schreibt, kann ohne weiteres als Sprachbild für die weiteren Gedächtnisformen genommen werden: „Das Gedächtnis ist der Aufbewahrungsort aller Erinnerungen. Seine wesentliche Funktion besteht darin, Erinnerungen so aufzuarbeiten und zu speichern, dass sie für zukünftige Situationen nutzbar sind. Alle Erfahrungen, die jemand macht, können zu einem Bestandteil des eigenen Gedächtnisses werden. Die einzelnen Erinnerungen können verschiedene Informationen beinhalten:“ (in Gudehus et al. 2010, 75). Im den folgenden Abschnitten werden daher das autobiographische Gedächtnis, das kollektive Gedächtnis, das kulturelle Gedächtnis, das kommunikative Gedächtnis, das soziale Gedächtnis und das politische Gedächtnis näher beschrieben – darin zeigt sich die Tragfähigkeit und Einsetzbarkeit der Metapher Gedächtnis: das Gedächtnis kann sowohl einer biologischen Struktur (Körper, Gehirn) zugeschrieben werden, als auch überindividuellen Systemen (Kollektiven, Gesellschaften, …) – dennoch verliert die Metapher bei dieser Transformation nichts an ihrer Wirkung. Der dritte Teil des Handbuchs ist zugleich der umfangreichste Teil (Gudehus et al. 2010, 127-245). Darin wird auf die Möglichkeiten eingegangen, auf welchen Wegen Information in das individuelle bzw. kollektive Gedächtnis gelangt – das Medium der Information spielt dabei eine große Rolle – dementsprechend werden Medien auch als „Vermittlungssysteme zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen der individuellen und kollektiven Dimension von Gedächtnis und Erinnerung“ definiert (in Gudehus et al. 2010, 127) Die einzelnen Beiträge zu den verschiedenartigen Medien geben Auskunft über drei sehr wichtigen Fragen in diesem Zusammenhang: Welche historische Entwicklung steht hinter den einzelnen Medien? Was für besondere Leistungen der einzelnen Medien prägen die unterschiedlichen Formen von Gedächtnis und Erinnerung? Und schließlich: Mit welchen spezifischen Techniken sind diese Medien verbunden? In der Folge widmen sich insgesamt 16 Beiträge mit Medien wie z:b. Schrift, Literatur, Bildern, Presse, Film und Fernsehen. Darin wird sehr plastisch beschrieben, wie formbar unsere Gedächtnisse und unsere Erinnerungen sind – es zeigt sich aber auch, wie das Aufkommen der Neuen Medien dazu beiträgt, auch neue Formen der Erinnerung und des Weltzugangs zu schaffen (vgl. Kratochvila 2011). Der vierte Teil des Buches stellt acht sehr unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen vor, die sich mit der Bestimmung und Erforschung von Erinnern und Gedächtnis als Phänomene der Menschen und ihrer Gesellschaft auseinander setzen (Gudehus et al. 2010, 247-336). In den einzelnen Beiträgen kommen die methodischen Differenzen und die zum Teil inkommensurablen Modelle von Gedächtnis und Erinnerung - als individuelle und kollektive Phänomene – in den verschiedenen Forschungsgebieten sehr gut zur Geltung. So wird es dem Leser leicht gemacht, sich in den Unterschieden zwischen den philosophischen, soziologischen, literaturwissenschaftlichen Ansätzen zurechtzufinden. Daneben finden sich auch Beiträge zur Geschichtswissenschaft, zur Biographieforschung, zur Tradierungsforschung, zur Geschlechterforschung und zur Generationsforschung. Das Buch schließt ein Anhang ab, der eine Auswahlbibliographie enthält, sowie auf laufende Projekte hinweist. Es gibt auch einen Überblick über die Autoren des Handbuchs, sowie ein Sach- und Personenregister.
Fazit
Das interdisziplinäre Handbuch „Gedächtnis und Erinnerung“ bietet eine Fülle an interessanten Ansatzpunkten für die Beschäftigung mit Fragen zur Erinnerung und des Gedächtnisses. Die Interdisziplinarität besteht zwar hauptsächlich aus einem methodischen Nebeneinander, doch auch das reicht aus, um einen umfassenden Einblick in die aktuellen Forschungsdebatten zu diesen Themen zu bekommen. Das breite Spektrum der Autoren und ihrer Fachrichtungen wird jeden ansprechen, der sich mit Hilfe dieses Buches einen systematischen Zugang zu diesen Themen verschaffen möchte. Die minimalen Schwächen - es fehlt dem Handbuch ein gesammeltes Literaturverzeichnis, was den Überblick über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema erschwert („Will man Gedächtnis und Erinnerung verstehen, so liegt es in der Sache, die verschiedenen Disziplinen und Konzepte zu verbinden: Gedächtnis und Erinnerung sind ein interdisziplinäres Phänomen“ (Gudehus et al. 2010, VII) – und gerade weil man es mit verschiedenen Disziplinen zu tun hat, braucht es ein gesammeltes Literaturverzeichnis und ein umfangreiche Personen- und Sachregister am Ende des Buches, das auch auf die jeweiligen Literaturverzeichnisse am Ende der Beiträge eingeht – eine Suche nach einem zitierten Autor ist damit nur bedingt möglich (der Autor muss namentlich im Text erwähnt worden sein). Erinnerungen können vielleicht als innere Bilder aufgefasst werden, von denen der Neurobiologe Gerald Hüther einmal gesagt hat: „Die inneren Bilder, die das Leben zeichnet, leben länger als die jeweiligen Lebensformen, deren Lebensweg sie bestimmt haben und in Zukunft weiter bestimmen werden.“ (Hüther 2006, 13-14)
Literatur
- Arendt, H. (2008 [1977/1978]). „Vom Leben des Geistes - Das Denken. Das Wollen.“ München (GER) & Zürich (SUI), Piper Verlag
- Cassirer, E. (2007 [1944]). „Versuch über den Menschen - Einführung in eine Philosophie der Kultur.“ Hamburg (GER), Felix Meiner Verlag
- Campbell, S. (2008). “The Second Voice.“ Memory Studies 1(1): 41-48
- Hüther, G. (2006 [2004]). „Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern.“ Göttingen (GER), Vandenhoeck & Ruprecht
- Ibsen, H. (2007 [1881]). „Gespenster.“ Stuttgart (GER), Philipp Reclam jun.
- Ibsen, H. (2006 [1890]). „Hedda Gabler.“ Stuttgart (GER), Philipp Reclam jun.
- Kratochvila, H. G. (2011). "Realitätsformen und Welterfahrung – Über den menschlichen Zugang zur Virtualität." Socialnet – Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/10634.php)
- Otto, S. (2007). „Die Wiederholung und die Bilder. Zur Philosophie des Erinnerungsbewußtseins.“ Hamburg (GER), Felix Meiner Verlag
- von Doderer, H. (1995 [1963]). „Die Wasserfälle von Slunj.“ München (GER), Verlag C. H. Beck.
- Zizek, S. (2005). „Die politische Suspension des Ethischen.“ Frankfurt/Main (GER), Suhrkamp Verlag
Rezension von
Mag. Harald G. Kratochvila
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Zitiervorschlag
Harald G. Kratochvila. Rezension vom 14.03.2011 zu:
Christian Gudehus (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
(Stuttgart, Weimar) 2010.
ISBN 978-3-476-02259-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10348.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
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