Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 01.12.2010
Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. Verlag C.H. Beck (München) 2010. ISBN 978-3-406-60689-2. 22,95 EUR.
Die Universalität der menschlichen Sprache
Als zôon phonanta, als sprechendes Lebewesen, haben bereits die alten Griechen den Menschen in der Unterscheidung zum Tier, benannt. Und Aristoteles macht mit seinem zôon politikon deutlich, dass der Mensch ein sprach- und vernunftbegabtes Wesen ist, das sich in die Lage versetzen kann, ein eu zên, ein gutes, glücklich-gelingendes Leben zu führen. Sprechen kann Empathie ausdrücken, freilich auch Aggression, kann Freude vermitteln und Angst erzeugen. Sprachwissenschaftler und Grammatiker sind sich einig darin, dass sich die menschliche Sprache durch das Denken, für das im Gehirn ein bestimmtes Areal besteht und durch das Bedürfnis, mit anderen Menschen zu kommunizieren, entstanden ist; freilich tasten die anthropologischen Wissenschaften weiterhin im Dunkeln, wie die unterschiedlichen Sprachen entstanden sind. Klar ist jedoch, dass die jeweilige (Mutter-)Sprache wichtige Formen der Identifikation und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ermöglicht. Und es ist völlig unangemessen, eine Wertigkeit in den Sprachen der Welt vornehmen zu wollen; etwa in der Differenzierung von „Hoch“- und „Primitiv“ – Sprachen. Sprache ist, das wird dabei deutlich, Kultur. Weil Kultur aber „die Gesamtheit der Formen menschlichen Zusammenlebens“ darstellt, wie dies von der UNESCO, der Kulturorganisation der Vereinten Nationen, definiert wird, ist das Kommunikations- und Ausdrucksmittel Sprache, sowohl in der mündlichen, als auch in der verschriftlichten Form, ein unverzichtbarer und signifikanter Daseinsbeweis der Menschen: „In der Sprache eines Volkes spiegeln sich seine Kultur, seine Seele und seine Denkweisen wider“. Und: Weil Kulturen keine statischen, sondern sich verändernde Lebensausdrücke der Menschen sind, verändern sich auch Sprachen.
Autor und Entstehungshintergrund
Der 1969 in Israel geborene und derzeit an der britischen Universität Manchester lehrende Linguist Guy Deutscher ist fasziniert von den Vielfalten und Besonderheiten, die sich historisch, kulturell, politisch und alltäglich im Sprachengebrauch der Menschen vollziehen. Um die Sprachen ranken sich Mythen, Stereotypen, Vorurteile und Wünsche, die selten den Wirklichkeiten entsprechen: In der schroffen Intonation des Norwegischen meinen die einen die zerklüfteten Fjorde herauszuhören; im Russischen das Dunkle der Landschaften und des Klimas; im Französischen die leichtgestimmte Lebensart; und im Deutschen das Exakte der Lebenseinstellungen… Weit gefehlt! Dass sich daraus so obskure Auffassungen entwickelt haben wie die des belgischen Missionars Placied Tempels (1906 – 1977), dass die Afrikaner nicht philosophieren könnten, ist nur ein Beispiel für die zahlreichen dominanten und teilweise auch rassistischen Zuordnungen im Sprachenvergleich. Der Schriftsteller, Philosoph, Dichter und ehemalige senegalesische Präsident Léopold Sédar Senghor 1906 – 2001) gibt für das Wolof, seiner Muttersprache, darauf die richtige Antwort: „Die Schönheit der Sprache kommt … nicht allein aus dem Reichtum an Vokabular und an Redewendungen, sondern aus der Leichtigkeit, mit der man mit Hilfe von Affixen zusammengesetzte Wörter bilden kann: man pfropft sie auf Wurzeln, deren konkrete Bedeutung dem Sprecher dabei nie verloren geht (Léopold Sédar Senghor, Négritude und Humanismus, 1964, S. 118). Die Schlüsse, die daraus gezogen werden, wie etwa: „Wie die Sprache, so auch die Nation“ (und der Charakter der Menschen), öffneten Tür und Tor für Höherwertigkeitsvorstellungen, imperiale und koloniale Politik. Sprache, so die vorherrschende Forschungsrichtung, ist angeboren: „Die Menschen werden mit einem Gehirn geboren, das von vornherein mit einem spezifischen Werkzeug komplexer grammatischer Strukturen ausgerüstet ist, so dass die Kinder diese Strukturen nicht zu lernen brauchen, wenn sie sich ihre Muttersprache aneignen“.
Aufbau und Inhalt
Im englischen Originaltitel textet Guy Deutscher: „Through the Language Glass. How Words Colour Your World“ (2010). Die deutsche Übersetzung, von Martin Pfeiffer, gliedert der Autor in zwei Kapitel. Im ersten Teil geht es um die „Sprache als Spiegel“, im zweiten um „Sprache als Linse“.
„Wenn wir uns die Sprache als Spiegel vorhalten, was sehen wir in ihr widergespiegelt: die menschliche Natur oder die kulturellen Konventionen unserer Gesellschaft?“. Das ist die erste Schlüsselfrage. Es geht um die Auffassungen, inwieweit Natur und Kultur differieren bzw. zusammen hängen. Die Auseinandersetzungen des Homer-Forschers und späteren britischen Premierministers William Ewart Gladstone (1809 – 1889) mit dem griechischen Altertum und insbesondere mit Homers Beschreibungen in der Ilias und Odyssee, dienen Guy Deutscher dazu, auf die Fallstricke aufmerksam zu machen, die Sprachforschung bereit hält: Nach Gladstone war die Empfänglichkeit und die Wahrnehmung von Farben bei den Griechen „nur teilweise entwickelt“. Die Zeitgenossen Homers hätten die Welt in erster Linie zwischen Licht und Dunkelheit wahr genommen und im Farbspektrum nur zwischen Schwarz und Weiß; sie seien also gewissermaßen nicht in der Lage gewesen, Farben zu sehen und zu beschreiben. Deutscher rückt dieses Missverständnis damit zurecht, dass er feststellt, Gladstone habe bei der Interpretation von Homers Werken das Verhältnis von Sprache und Wahrnehmung nicht gesehen und damit auch nicht die „Macht der Kultur“. Die darauffolgenden Kontroversen, scheinbaren Beweisen und Widerlegungen über „Farbblindheit“ und die „Evolution des Farbensinns“ beim Menschen, bis hin zu den heute obskur und rassistisch anmutenden Versuchs-, Mess- und Analyse-Instrumentarien der biologischen Anthropologen, brachten zwar zögerlich, doch für die „Kulturalisten“ erfolgreich zutage: „Menschen können den Unterschied zwischen verschiedenen Farben wahrnehmen, doch es kann sein, dass sie ihnen keine unterschiedlichen Farben geben“ – aus welchen Gründen auch immer; weil sie es nicht wichtig und bedeutsam für ihr Leben und ihre Kommunikation empfinden etwa. Es mussten noch Jahre vergehen, bis sich bei den anthropologischen Wissenschaften die Erkenntnis durchsetzte: Es ist die Macht der kulturellen Konvention, die Begriffe schafft! Auch wenn die sich im Laufe der Zeit wellen-, ja gelegentlich organartig die Kontroversen zwischen den Kulturalisten und Nativisten vollzogen, sind die Erkenntnisse, die uns der Spiegel zeigt, enorm: Es bedarf des Auseinanderhaltens von Auge und Zunge, von Erziehung und Anatomie, von Kultur und Natur.
„Alle Sprachen sind gleich komplex“; diese mittlerweile von der Sprachwissenschaft anerkannte und einhellig akzeptierte Aussage hakt an verschiedenen Stellen. Denn die scheinbar analoge Feststellung – „Es gibt keine primitiven Sprachen“ – ist nicht der ersteren gleichwertig, betrachtet man „Komplexität“ als Dogma und lässt außer acht, dass Sprachen eben, um das zu wiederholen, kulturbedingt sind. Hier kommen überraschende, neuere linguistische Untersuchungen ins Spiel, die unsere „Selbstsicherheiten“ und angelernten „Gewissheiten“ ins Wanken bringen: „Sprachen großer Gesellschaften (haben) tendentiell einfachere Wortstrukturen ( ), während in Sprachen kleinerer Gesellschaften zahlreiche semantische Unterscheidungen eher innerhalb des Wortes codiert sind“.
Im zweiten Kapitel wird mit dem Bild der „Linse“ die spannende Frage erörtert: „Beeinflusst unsere Muttersprache die Art und Weise, in der wir denken?“. Guy Deutscher räumt auf mit der landläufigen Meinung, dass Sprachforschung ein unnützes Unterfangen sei und die Linguisten sich nützlicheren Dingen zuwenden sollten. „Die Linguisten machten Entdeckungen, die nicht nur dramatisch waren, sondern Weltbilder veränderten“. Diese aufregende Behauptung beweist er mit den Forschungen, wie sie vom Sprachforscher, Philosophen, Diplomaten, Bildungsreformer und Gründer der Berliner Universität Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) formuliert und von den amerikanischen Linguisten Edward Sapir (1884 – 1939) und Benjamin Lee Whorf (1897 – 1941), dem Anthropologen Franz Boas (1858 – 1942) am Beispiel der indigenen amerikanischen Sprachen aufgezeigt wurden.
Um noch einmal auf den kontroversen Diskurs um die Farbenlehre zurück zu kommen: „Wenn eine Sprache kein Wort für einen bestimmten Begriff hat, dann bedeutet das nicht zwangsläufig, dass ihre Sprecher diesen Begriff nicht verstehen können“. Forschungsreisende wie James Cook und andere saßen immer wieder Irritationen, Miss- und Fehlverständnissen bei der Begegnung mit Eingeborenen auf, weil sie dem verlockendsten und verbreitetsten Fehlschluss unterlagen, nämlich „von einer Korrelation auf Kausalität zu schließen: also anzunehmen, wenn zwei Fakten miteinander korrelieren…, dass eines davon die Ursache des anderen sei“. In der sprachlichen Ausdrucksweise und Kommunikation verleitet diese Auffassung allzu leicht zu Fehlschlüssen und falschem Verständnis. Eine der bezeichnendsten und immer wieder missverstandenen sprachlichen Unterschiede zeigen sich im Zusammenhang von „Sex und Syntax“; etwa im Deutschen und im Englischen. Deutscher zeigt das am „Einfluss der grammatischen Unterscheidung auf die Assoziation von Sprechern im Hinblick auf die realen Eigenschaften von Objekten“ auf. Die in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich gesetzten Genera schaffen unterschiedliche Benennungen und Beschreibungen von Eigenschaften, die gerade durch den Genus gefordert werden. Sage da einer, das habe nichts mit Denken und mit Einstellungen zu tun – und bestimme und verändere nicht Wirklichkeiten!
Kommen wir zurück auf das Bild, dass die Sprache eine Linse sei. Am deutlichsten und eindrücklichsten wird dies durch die unterschiedlichen Farbbenennungen und –wahrnehmungen, die sich in den verschiedenen Sprachen zeigen. Die zahlreichen Experimente, die Deutscher zur Kenntnis gibt und im Umkehrschluss zu Gladstones Auffassungen „im Verhältnis zwischen Sprache und Wahrnehmung die Richtung von Ursache und Wirkung umgekehrt“ hat, belegen damit Deutschers Überzeugung, dass sich „die Erklärungsansätze für kognitive Unterschiede zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte verschoben (haben) – weg von der Anatomie, hin zur Kultur“.
Fazit
„Ein Tisch ist ein Tisch…“; in Peter Bichsels amüsant-trauriger Kurzgeschichte wird ein Mensch verwirrt, weil er – aus Lust? – die Benennungen der Alltagsgegenstände verändert; er wird dabei nicht souverän und selbstsicher, sondern einsam und verzweifelt schließlich. Weil Sprache zwei Grundlagen hat – das „System der Konventionen, auf das sich eine Sprachgemeinschaft zum Zweck der effektiven Kommunikation geeinigt hat“ und das „System von Wissen, das jeder einzelne Sprecher in seinem oder ihrem Geist verinnerlicht hat“. Deutscher zeigt in seinem spannenden, beweiskräftigen und gut lesbarem Buch auf, dass die Sprachforschung sich bei der Untersuchung von Zusammenhängen zwischen der Gesellschaftsstruktur und der Struktur des grammatischen Systems noch in einem „unterentwickelten Stadium“ befinde. Die Forschungen über den Einfluss von Sprache auf das Denken sind ohne Zweifel durch humangenetische, gehirnphysiologische und biologische Untersuchungen voran gekommen; um tatsächlich gültige Antworten auf die bisher allzu oft nur vermuteten Annahmen auf die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache, Vererbung und Kultur zu finden, bedarf es der linguistischen Forschung. Einen Zugang dazu bietet Guy Deutscher in dem von Martin Pfeiffer ins Deutsche übersetzte Buch. Für Linguisten und andere WissenschaftlerInnen (im übrigen mit dem „I“ wieder so eine Unart, die den Genus betrifft!) ist Deutschers Analyse ohne Zweifel eine Anregung und Aufmunterung, wohl auch Anlass zu neuen Forschungsanstrengungen. Für den nicht sprachfachlich geübten Leser (!) eine Aufforderung, Sprache als menschliche Grundausstattung zu reflektieren und sich darüber hinaus bewusst zu machen und dabei mitzuarbeiten, dass sich eine der kostbarsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, „die Anerkennung der fundamentalen Einheit der Menschheit“ endlich allgemeingültig durchsetzt und dies sich im Aussprechen der verschiedenen Sprachen in der Welt artikuliert. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von den Vereinten Nationen 1948 proklamiert wurden, heißt es an oberster Stelle: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“ – emphatisch und sprachlich!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 01.12.2010 zu:
Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. Verlag C.H. Beck
(München) 2010.
ISBN 978-3-406-60689-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10349.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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