Herfried Münkler: Mitte und Maß
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 01.12.2010
Herfried Münkler: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. rowohlt Berlin Verlag (Berlin) 2010. 300 Seiten. ISBN 978-3-87134-690-3. D: 19,95 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 33,50 sFr.
Ist die Mitte das gesellschaftliche Maß?
Wenn es um Deutungen geht, wie sich gesellschaftliche Entwicklungen vollziehen und analysiert werden können, ist es manchmal hilfreich, dem Volk aufs Maul zu schauen. In Sprichwörtern und Zitaten nämlich kann man die Wegegabelungen, Sackgassen, Einbahnstraßen und Autobahnen er-fahren und eine Ahnung von den Wirklichkeiten, Prophezeiungen und Ideologien bekommen, die in der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung angesagt sind. Die doppeldeutige Zuweisung des Sprichworts „Ab durch die Mitte“, zum einen in der Bedeutung von „auf dem schnellsten Weg abtreten“, beim Theater; zum anderen in der militärischen Praxis des schmerzhaften und unwürdigen „Spießrutenlaufens“. Oder die Spielanweisung beim asiatischen Go-Brettspiel: „Versuche nicht auf direktem Weg die Mitte zu besetzen“, weil du damit verlieren wirst und dem Gegner ein leichtes Spiel bietest. Auch das ebenfalls aus Asien stammende Sprichwort: „Wer seine Mitte nicht verliert, der dauert“, was im deutschen Sprichwort heißt: „Wenn du mit dir selbst im Reinen bist, bist du sicher!“
Der Baum in der Mitte der Straße, auch welchen Gründen er auch immer gepflanzt und beim Straßenbau nicht abgeholzt wurde, muss umfahren werden. Je mächtiger er wird, um so mehr behauptet er seinen Platz und seine Beständigkeit; das ist auch so eine Interpretation. Genau so wie die, die sich in Christian Fürchtegott Gellerts (1715 – 1769) Lied „Zufriedenheit mit seinem Zustande“ versteckt: „Genieße, was dir Gott beschieden, / Entbehre gern, was du nicht hast. / Ein jeder Stand hat seinen Frieden, / Ein jeder Stand auch seine Last“.
Nicht von Ungefähr sind die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Aufstieg und Macht und die Furcht vor Abstieg und Ohnmacht immer schon Bestandteil im gemeinschaftlichen Zusammenleben der Menschen gewesen – sie sind es heute noch und werden es auch in Zukunft sein! Sich dabei in der Mitte zu platzieren, suggeriert nicht selten das Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit, verspricht Ausgleich, Wohlstand und Frieden und schützt vor den Gefahren, die sich an der Spitze oder kurz vor dem Abgrund auftun. Da erscheint es ratsam, sich in die Mitte zu begeben und für seine Lebensperspektiven den Mittelweg einzuschlagen. Diese, spätestens seit dem 18. und 19. Jahrhundert akzeptierte und in demokratischen Gesellschaften gewissermaßen als Mainstream eingeschliffene Entwicklung, gerät immer mehr ins Wanken: Wir da oben. Ihr da unten. Und die in der Mitten? Beim Versuch, hinaufzuklettern, stürzen immer mehr ab! Sich in der Mitte etablieren, das war Gestern! Heute, so pfeifen es die Spatzen von den Dächern, herrschen in der Mitte die Ängste vor; und die Egoismen schießen wie die Pilze nach einem satten Regen aus dem Boden! Das Juste Milieu, als Marker für diejenigen, die in der Mitte der Gesellschaft ordentlich bis üppig zurecht kamen und als Ausweis für ein anständiges Leben galt, steht in Frage: „Jeder gute, anständige Mensch könne es schaffen, in der Mitte anzukommen; wem das nicht gelinge oder wer sich gar aus ihr entferne, offenbare einen Mangel an Klugheit, Leistungsfähigkeit und Sittlichkeit und dürfe sich nicht wundern, wenn das Unglück ihn ereilt“.
Entstehungshintergrund und Autor
In der bundesrepublikanischen Geschichte bestimmten die Metaphern Mitte und Maß über die Jahrzehnte hin den Diskurs und schuf das Selbstverständnis, das vom Willen zum Wiederaufbau, über das Wirtschaftswunder bis hin zur wohligen Einrichtung des „Keine-Experimente“ - Slogans reichte. In der Mitte der Gesellschaft wird dabei eher mit dem Aufstieg geliebäugelt und dieser auch zielstrebig angegangen, als an den Abstieg auch nur zu denken. Das bedeutete allerdings auch, dass die in der Mitten darauf bedacht waren, dass nicht alles in der Gesellschaft Mitte ist; die Abgrenzungen hin zu denen da unten mussten in jedem Fall sichtbar und lebbar bleiben. Wem wundert es, dass dieser Mitte-Begriff sich bald auch soziopolitisch und geostrategisch zeigte? Deutschland als die Mitte Europas und die Deutschen als die Bestimmenden in dieser Mitte-Macht wurde spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und neuerdings durch die sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnde globale Welt in Frage gestellt und mehr und mehr aufgehoben. Die „mitteversessenen“ Deutschen konnten zwar in der Nachkriegszeit in ihren gesellschaftlichen Strukturen einen „Mittelstand“ und eine „Mittelschicht“ schaffen, mit ohne Zweifel bemerkenswerten Ergebnissen, vor allem auf wirtschaftlichen Gebieten für diejenigen, die in der Ober- und Mittelschicht sich etablieren konnten; aber die existentiell und zahlreich sich verändernden Bedingungen derjenigen in der Mitte, mit den Gefahren, nach unten abzudriften, lässt den bis dahin hochgehaltenen Glauben an die „Kraft der Mitte“ immer mehr ins Wanken geraten.
Der renommierte und sich immer wieder als Dokumentator und Analyst von gesellschaftlichen Zuständen und Entwicklungen zu Wort meldende Politologe an der Berliner Humboldt-Universität, Herfried Münkler (vgl. dazu die Rezension zu Herfried Münkler / Matthias Bohlender / Sabine Meurer, Hg., Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2010), legt eine Analyse des derzeitigen Zustandes der deutschen Gesellschaft vor. Seine These: Nicht die Spaltung der Gesellschaft an sich ist es, die eine Suche nach einer „neuen Mitte“ notwendig mache, sondern es sei die Spaltung der Mitte in diejenigen, die darin fest sitzen und die anderen, die der Privilegien der Mitte verlustig gingen.
Aufbau und Inhalt
Münkler gliedert sein Buch in vier Kapitel.
Im ersten Teil setzt er sich mit den Metaphern „Mitte und Maß“ auseinander, indem er darüber reflektiert, wie Auffassungen, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei und die philosophischen Denkweisen vom „Ethos des Maßhaltens“ den historischen und intellektuellen Diskurs bestimmen und wie sich die verschiedenen Ordnungsmodelle im politischen und gesellschaftlichen Fortschritt etabliert haben. Es sind die immerwährenden Auseinandersetzungen über Maß und Übermaß, über Macht und Dominanz, über Gewinn und Verlust, über Bevorzugungen und Vernachlässigungen, letztlich die Suche nach dem „gerechten Leben“, die in der Festlegung der „ausgleichenden Mitte“ das Mögliche und Zuträgliche in der Gesellschaft schaffen will. Die Frage „Was heißt ’Mitte der Gesellschaft’ und wer gehört dazu?“ wird ja mit der Veränderung des traditionellen gesellschaftlichen Schemas der Pyramide hin zur Zwiebelform sichtbar und in dem von den Historikern Paul Nolte und Dagmar Hilpert entworfenen sozioökonomischen und soziokulturellen Viereck auch beschreibbar: Erwerbsklassen, wie sie in den Dienstleistungsberufen zu finden sind; familienorientierte und dem Gemeinwohlgedanken zuneigende, sowie an Religionen gebundene Individuen. Die sich deutlich weltweit in den kapitalistisch verfassten Gesellschaften zeigenden und rapide potenzierenden Verunsicherungen der Mitte-Angehörigen und die Zerfransung an ihren Rändern, zum einen als Aufstiegserfolge, zum größeren Teil jedoch als Abstiegstendenzen, führen dazu, dass die „Bedrohung der Mitte“ zum gesellschaftlichen Faktum wird und die Frage nach dem „verlorenen Maß“ virulent werden lässt.
Im zweiten Kapitel diskutiert Münkler die Parameter „Mitte und Macht“. In einem historischen tour d’horizon, von Aristoteles, über Rousseau bis Kant ordnet er der Mitte die Abgrenzungen zu den Extremen, die Beschreibung der sozialen Egalität und die ökonomische Selbstständigkeit zu. Dabei wird deutlich, dass die Etablierung, wie die Gefährdung der gesellschaftlichen Mitte eine Frage der gesellschaftlichen Verfasstheit, letztlich also die Frage nach dem eu zên, dem guten Leben ist. Andere Versuche, die Mitte zum gesellschafts- und politisch bestimmenden Faktor zu etablieren, lassen sich beim römischen Philosophen und Historiker Polybios, bei Cicero, Machialvelli und Hegel erkennen. Die Irritationen der „Mitte“, die zur Französischen Revolution gewissermaßen alles zur Mitte machte und ihr schließlich die Alternative Fortschritt oder Konservatismus aufzwang, wurden mit Schopenhauers Suche nach der Mitte und Nietzsches Kritik an der Mitte zum Wegbereiter für Marx’ Kritik am Kleinbürgertum und dem Versuch, die Mitte zu zerstören.
Das dritte Kapitel trägt das Etikett „Mitte und Raum“. Die politisch-strategische Bedeutung der Mitte, etwa in Europa, hatte zwischen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zur global-politischen Wende, als der Kalte Krieg zwischen dem Westen und den Osten die Macht- und Drohpositionen bestimmte, keine Bedeutung. Das vereinte Deutschland mausert sich wieder zur „Mittelmacht“ Europas, ja, wie manche meinen sogar, es entwickle sich wieder zur „Zentralmacht“ im teilweise vereinten Europa. Dieser Auffassung freilich widerspricht Münkler, indem er feststellt, dass „das verfasste Europa … Multizentralität zum politischen Programm erhoben“ habe; wobei gleichzeitig die geostrategische Bedeutung Europas im globalen Kräftespiel zwischen den USA und Chinindia an den Rand gedrängt wird. Bei dieser Betrachtung gewinnt die urbane Entwicklung eine besondere Bedeutung: „Die Stadt als Mitte und die Mitte der Stadt“, als Gegen- (oder zukünftige?) Position des im Stadt-Land-Gefälles sich entwickelnden Sowohl-als auch.
Im vierten Kapitel schließlich wendet sich Münkler „dem neuen Deutschland (als) eine(r) Republik der Mitte“ zu. Die unterschiedlichen politischen Richtungen und Strömungen waren sich bei der Gründung der Bundesrepublik einig, „dass man sich in der Mitte des politischen Spektrums und nicht an seinen Rändern zu verorten habe“. Die in der „Bonner Republik“ der 1950er bis 1970er Jahre entwickelte sich, wie der Soziologe Helmut Schelsky betonte, zu einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, die Münkler eher als eine „nivellierte Mittelschichtgesellschaft“ verstanden wissen will, mit dem wesentlichen Merkmal einer „Verbürgerlichung der Arbeiterschaft“ – mit den durchaus als statisch zu bewertenden, gesellschaftspolitischen und -identieren Folgen einer von Hans Magnus Enzensberger Ende der 1980er Jahre festgestellten „massiven Zufriedenheit“ der Bevölkerungsschichten. Auch mit den Ergebnissen, dass bis dahin „nur“ gewisse politische Parteien, etwa die CDU/CSU für sich in Anspruch nahmen, die Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren; und dies künftig auch die anderen Parteien für sich reklamierten. So prognostiziert Münkler, dass „die politische Bewegung in der Mitte selbst während der nächsten Jahre stärke rund intensiver werden“ wird.
Fazit
Herfried Münklers Absicht, eine historische, sozio-kulturelle und gesellschaftspolitische Analyse des Entstehens und Werdens der politischen und gesellschaftlichen Mitte in den demokratisch verfassten und kapitalistisch strukturierten Ländern, vor allem Deutschlands, ist gelungen; auch sein Bemühen, dies objektiv zu leisten. Es ist jedoch unverkennbar, dass diese quasi „neutrale“ Haltung von seinen Auffassungen getragen ist, dass es, angesichts der globalen Gemengelage zwischen den „Welten der Sicherheit“ und den „Kulturen des Risikos“ gesellschaftspolitisch angezeigt sei, die Mitte zu bewahren; denn der Ruf nach der „Gleichförmigkeit einer umfassend sicheren Welt“ provoziert Extreme, die den Nervenkitzel der Unsicherheit gleichsam schaffen und scheinbar notwendig machen. Dass es in diesem theoretischen und praktischen Wettstreit um die „richtigen“ Gesellschaftsmodelle auch andere Positionen gibt, ist eine Tautologie. Hingewiesen soll dabei durchaus auf andere, als konservative Analysen und Theorieperspektiven werden, „die Herrschaft in den Blick nimmt und Politik in Beziehung zu den Produktionsverhältnissen setzt“ (vgl. die Rezension zuEva Hartmann / Caren Kunze / Ulrich Brand, Hrsg., Globalisierung, Macht und Hegemonie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie, 2009).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 01.12.2010 zu:
Herfried Münkler: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. rowohlt Berlin Verlag
(Berlin) 2010.
ISBN 978-3-87134-690-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10350.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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