Schahrzad Farrokhzad, Markus Ottersbach u.a.: Verschieden - Gleich - Anders?
Rezensiert von Prof. Dr. Maritza Le Breton, 30.03.2011

Schahrzad Farrokhzad, Markus Ottersbach, Michael Tunc, Anne Meuer-Willuweit: Verschieden - Gleich - Anders? Geschlechterarrangements im intergenerativen und interkulturellen Vergleich.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
256 Seiten.
ISBN 978-3-531-17690-1.
24,95 EUR.
Reihe: Interkulturelle Studien.
Thema
Noch immer bestehen vielfältige und einseitige Stereotype, wenn von Geschlechterverhältnissen und den damit verbundenen Einstellungen zu Geschlechterrollen von Männern und Frauen mit Zuwanderungsgeschichte die Rede ist. Besonders im Kreuzfeuer der Kritik stehen dabei Migrierende und ihre Familien mit muslimischer Religionszugehörigkeit. Doch wie sieht die Realität aus? In diesem Buch werden erstmals Geschlechterbilder und Geschlechterpraxen von Frauen und Männern mit Zuwanderungsgeschichte Türkei, ehemalige Sowjetunion und von Frauen und Männern ohne Zuwanderungsgeschichte verglichen und dabei gleichzeitig die Bedeutung der Generationenzugehörigkeit und des Bildungsniveaus als Einflussgrössen untersucht.
Autorinnen und Autor
Dr. Schahrzad Farrokhzad ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Univation, Institut für Evaluation, Beywl & Associates GmbH Köln, Diplompädagogin und promoviert im Bereich interkulturelle Bildungsforschung.
Dr. Markus Ottersbach ist Professor für Soziologie an der Fachhochschule Köln, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften.
Michael Tunç ist Diplom-Sozialpädagoge und Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung mit einem laufenden Dissertationsprojekt an der Universität Wuppertal.
Anne Meuer-Willuweit, Dipl.-Ing., ist Personal- und Organisationsberaterin, Entwicklerin und Koordinatorin regionaler bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Projekte sowie von Projekten der Frauenförderung und Gleichstellungspolitik.
Entstehungshintergrund
Dieser Veröffentlichung liegt ein qualitatives Forschungsprojekt mit dem Titel „Rollenverständnis von Frauen und Männern mit Zuwanderungsgeschichte unter Berücksichtigung intergenerativer und interkultureller Einflüsse“ zugrunde, das vom Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration (MGFFI) NRW und dem Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in Auftrag gegeben und von November 2008 bis Juni 2009 durchgeführt wurde.
Aufbau
Das Buch folgt der Strukturlogik empirischer Arbeiten und ist in 7 Kapitel gegliedert:
- Einleitung
- Von Geschlechterrollen, Geschlechterverhältnissen und Integration – Begriffsklärungen
- Zuwanderung und Geschlecht – die SINUS-Migrantenmilieus und andere Erkenntnisse
- Forschungsdesign
- Ergebnisse der Interviews
- Mehrperspektivistisch denken – Zusammenfassung der Hauptergebnisse
- Schlussfolgerungen und weiterführende Fragestellungen
Inhalt
Zentrales Vorhaben der vorliegenden Studie ist es, „Genaueres über die Vorstellung von Frauen und Männern mit Zuwanderungsgeschichte, über ihre eigene Interpretation ihrer Rolle in der Familie, in ihrem Umfeld und in der Gesellschaft zu erfahren“ (S. 59). Die Gewinnung der Daten erfolgt entlang folgender Befragungsgruppen:
- Mütter und Töchter, Väter und Söhne mit türkischer Zuwanderungsgeschichte
- Mütter und Töchter, Väter und Söhne mit Zuwanderungsgeschichte aus der ehemaligen Sowjetunion
- Mütter und Töchter, Väter und Söhne ohne Zuwanderungsgeschichte
Die qualitativ-empirisch angelegte Untersuchung fokussiert demnach das bestehende Rollenverständnis in den untersuchten Gruppen, die Einflussfaktoren zur Entwicklung von Rollenbildern bei weiblichen und männlichen Jugendlichen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte, die Bedeutung von Werten und Normen der Herkunftsländer und der „Kultur“ des (neuen) Heimatlandes auf die Entstehung von Rollenleitbildern bei den befragten Vätern und Müttern sowie deren Söhne und Töchter, die Einflussgrösse der Elterngeneration auf die jungen Frauen und Männer sowie deren Zusammenhang mit ihren Integrationsbestrebungen.
Grundlage der Studie stellen 34 intergenerative Interviews mit 70 Personen aus 31 Familien dar, die in Eltern-Kind-Tandems befragt wurden. Mit dem Ziel, ein breites Spektrum der befragten Gruppen abzubilden, wurden Menschen aus urbanen und ruralen Gebieten sowie mit unterschiedlichem Bildungshintergrund in die Untersuchung einbezogen.
Schahrzad Farrokhzad et al. knüpfen mit ihrer Studie an die bisherige Geschlechter- resp. Migrationsforschung, den Intersektionalitätsansatz sowie an die SINUS-Studien an, in denen acht Migrierenden-Milieus mit verschiedenen Lebensauffassungen und Lebensstilen beschrieben werden. Dabei werden jeweils der Milieuzugehörigkeit, dem Bildungshintergrund und teilweise auch der Geschlechtszugehörigkeit stärkere Relevanz für die Lebenslagen und die Einstellungen der Bevölkerung – mit und ohne Migrationshintergrund – als der Herkunft beigemessen.
Die Ergebnisse der Untersuchung lassen bei den befragten Männern und Frauen drei Typen von Rollenverständnissen resp. Geschlechterarrangements erkennen: konservative, bedingt egalitäre und egalitäre Geschlechterarrangements. In der älteren Generation dominiert das konservative Geschlechterarrangement, gefolgt vom bedingt egalitären Typus. Wobei teilweise Veränderungen in der Ausgestaltung des Geschlechterarrangements der älteren Generation im Zeitverlauf, beeinflusst durch Lebensereignisse wie die Geburt von Kindern, die Zuwanderung, Erwerbslosigkeit oder auch Stellenwechsel festzustellen sind. In der jüngeren Generation, die eher Vorstellungen künftiger Geschlechterarrangements formulieren, dominiert der Typus des bedingt egalitären Geschlechterarrangements, gefolgt vom egalitären Verständnis des Geschlechterarrangements. Einige wenige Befragte favorisieren den konservativen Typus. Die Ergebnisse verdeutlichen allerdings, dass die Jüngeren ein bedingt egalitäres Geschlechterverständnis präferieren. In dieser Gruppe sind Befragte mit türkischer Zuwanderungsgeschichte etwas häufiger vertreten, gefolgt von Befragten mit Zuwanderungsgeschichte aus der ehemaligen Sowjetunion und Befragten ohne Zuwanderungsgeschichte. Rund die Hälfte der Befragten verfügt über ein hohes Bildungsniveau, rund ein Viertel über mittlere Bildungsabschlüsse. Die restlichen Befragten dieser Gruppen besuchen die Schule. Die AutorInnen konstatieren hierzu: „Unterschiede des Bildungsniveaus fallen verhältnismäßig stärker ins Gewicht als Unterschiede bezüglich der Herkunft. Typisch für diese Gruppe ist eine grundsätzliche hohe Zustimmung zur Berufstätigkeit von Frau und Mann, dazwischen gibt es eine grosse Varianzbreite individueller Vorstellungen und gelebter Praxen der Aufgaben- und Arbeitsteilung im Haushalt und bezüglich der Kinderbetreuung“ (S. 226). Wie in anderen Studien – so beispielsweise in den Sinus-Studien – wird in der vorliegenden Untersuchung bekräftigt, dass die Hauptunterschiede hinsichtlich Vorstellungen und Ausgestaltung von Geschlechterverhältnissen nicht entlang von Herkunftsgruppen verlaufen, sondern quer dazu liegen. Die erzielten Erkenntnisse zu Einstellungen und Ausgestaltung von Geschlechterarrangements aus der Vergleichsperspektive von Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte relativieren die in älteren Arbeiten häufig zugespitzte Dichotomisierung zwischen Menschen mit und ohne Zuwanderungshintergrund. Die AutorInnen kommen folglich zum Ergebnis, dass Herkunft resp. Kultur als Unterscheidungsmerkmal für lebensweltliche Aspekte wie das Geschlechterverhältnis keine zentrale Differenzkategorie mehr darstellt. Um die Reproduktion von Klischees und Stereotypen zu verhindern, plädieren sie dafür, Forschungsthemen wie das Rollen- oder Geschlechterverständnis nicht mehr unter dem Imperativ der Integration, sondern aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zu betrachten.
Daraus leiten sie zu Recht die Notwendigkeit einer differenzierteren Sichtweise auf Geschlechterarrangements von Menschen mit und ohne Zuwanderungshintergrund ab, welche multiperspektivisch, herkunfts- und kulturübergreifend anzusetzen hat. Sie unternehmen den Versuch, durch das qualitativ angelegte Forschungsvorhaben diese Komplexität von Rahmenbedingungen und möglichen Einflussfaktoren auf Geschlechterarrangements zu erfassen.
Diskussion
Bedingt unter anderem durch Globalisierungsprozesse haben Themen rund um transnationale Migration und Integration von Zugewanderten in den letzten Jahren in der politischen Öffentlichkeit –aber auch in der Wissenschaft – wesentlich an Bedeutung gewonnen. So lassen sich im wissenschaftlichen Diskurs wichtige Veränderungen in der Erforschung von Migrationsphänomenen festhalten. Während lange Zeit Zugewanderte in den Sozial- und Erziehungswissenschaften aus einer homogenisierenden und an Defiziten ausgerichteten Perspektive betrachtet wurden, wird seit einigen Jahren ein Revival des Agency-Konzepts und folglich eine „epistemologische Transformation“ (Dahinden/Stants 2006) in der Betrachtung der Migrationsthematik konstatiert. Mit diesen neuen Konzeptionen wird der Versuch unternommen, sozialen AkteurInnen resp. Zugewanderten selbst, ihre Handlungskapazitäten und -potenziale resp. ihre Ressourcen in die theoretische Debatte zu integrieren. Ziel dabei ist es, den Gegensatz von structure und agency zu durchbrechen und neben den strukturellen Bedingungen von Zuwanderungsprozessen ebenso die mikrosoziologische Ebene in die Analyse einzubeziehen. Dieser Paradigmenwechsel hat Konsequenzen für die weitere Forschung. So verdeutlichen aktuellere Diskussionen, dass differenzierte wissenschaftliche Untersuchungen erforderlich sind, um die Lebenssituation von Migrierenden angemessen zu beschreiben. Die Studie von Schahrzad Farrokhzad et al. ist in diesem Kontext zu verorten. Sie weist gegenüber anderen Studien folgende Besonderheiten auf und trägt dadurch zur Ergänzung der bereits vorhandenen Forschungslandschaft bei:
- Sie leistet einen systematischen und ergiebigen Beitrag zur Erfassung von Rollen- und Geschlechterverhältnissen aus intergenerativer und transnationaler Perspektive, in der nicht nur mehrere Zuwanderungsgruppen im Fokus der Betrachtung stehen, sondern auf komparative Weise ebenso Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte.
- Durch den intergenerativen Ansatz wird ein Vergleich zwischen den Generationen geleistet, was eine Ergänzung der Ergebnisse der Sinus-Studie ermöglicht.
- Aufgrund der bisher eher vernachlässigten Männerforschung füllt die Studie hierbei auf mehrfache Weise Forschungslücken, so beispielweise zu Männern mit Migrationshintergrund und zu systematischen Vergleichen von Geschlechterverständnissen und Geschlechterpraxen bei Männern mit und ohne Zuwanderungsgeschichte.
Trotz der differenzierten und mehrgleisigen Perspektive bleiben die AutorInnen teilweise der Terminologie alter Migrationsansätze verhaftet. So wirkt der Anspruch eines „interkulturellen“ Vergleichs nicht ganz nachvollziehbar, zumal interkulturelle Ansätze in der Migrationsforschung als überholt gelten und der Absicht der Studie widersprechen.
Fazit
Im Fokus der Betrachtung stehen Geschlechterverständnisse und Geschlechterpraxen von Frauen und Männern mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. Somit leistet die Untersuchung einen ergiebigen Beitrag zu diesem bisher eher vernachlässigten Forschungsgebiet im Kontext von Migration. Die Erweiterung der Analyse auf Familien ohne Zuwanderungshintergrund ermöglicht eine Vergleichsperspektive der Generationszugehörigkeit sowie die Berücksichtigung anderer Einflussgrössen wie dem Bildungshintergrund, was den Zugang zu einer differenzierteren Betrachtungsperspektive des in Frage stehenden Gegenstandes eröffnet und eine Grundlage für weitere Untersuchungen darstellt.
Rezension von
Prof. Dr. Maritza Le Breton
Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Integration und Partizipation
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Es gibt 4 Rezensionen von Maritza Le Breton.
Zitiervorschlag
Maritza Le Breton. Rezension vom 30.03.2011 zu:
Schahrzad Farrokhzad, Markus Ottersbach, Michael Tunc, Anne Meuer-Willuweit: Verschieden - Gleich - Anders? Geschlechterarrangements im intergenerativen und interkulturellen Vergleich. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
ISBN 978-3-531-17690-1.
Reihe: Interkulturelle Studien.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10364.php, Datum des Zugriffs 28.03.2023.
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