Hildegard Kurt: Wachsen!
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.12.2010

Hildegard Kurt: Wachsen! über das Geistige in der Nachhaltigkeit. Mayer (Stuttgart) 2010. 224 Seiten. ISBN 978-3-86783-035-5. D: 19,80 EUR, A: 20,40 EUR, CH: 29,90 sFr.
Das Chaos ist überall – uns geht es gut?
Nachhaltigkeit! Schlagwort – Weckruf – Versprechen – Utopie – Illusion! Der Begriff, ursprünglich in der Forstwirtschaft als die Entdeckung benutzt, dass der homo oeconomicus in seinem Streben nach Gewinn und Profit beim Abholzen des Waldes und Verwerten des Holzes darauf achten sollte, dem Wald nicht mehr zu entnehmen, als durch neu gepflanzte Bäume wieder nachwachsen kann, ist mittlerweile in aller Munde; und er wird benutzt, ob es passt oder nicht! Wer nachhaltig lebt und wirtschaftet, ist von vorn herein als ein guter Mensch zu bezeichnen, im Gegensatz zum verschwenderischen und gierigen Zeitgenossen. “Die Entdeckung der Nachhaltigkeit“ wird als Maßband für die Vermessung des notwendigen Lebens aller Menschen für ein gerechtes und lebenswertes menschliches Leben auf der Erde verstanden; und der „ökologische Fußabdruck“ erzwingt geradezu eine Neuvermessung, damit die schreckliche Spirale des zunehmenden Reichtums der bereits Wohlhabenden und der zunehmenden Armut der Habenichtse lokal und global beendet werden kann (vgl. dazu: Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, 2010, Rezension). „Bildung für Nachhaltigkeit“ gilt dabei als ein Garant, damit dies möglich wird (vgl.: Peter Posch / Franz Rausch / Isolde Kreis, Hrsg., Bildung für Nachhaltigkeit. Studien zur Vernetzung der Lehrerbildung, Schule und Umwelt, 2000, Rezension).
Zwar wächst in der Bevölkerung die (vage) Erkenntnis, dass wirtschaftliches Handeln nicht mehr unter dem Motto „business as usual“ fortgesetzt werden kann und darf, doch ein Perspektivenwechsel hin zu einem Denken und Handeln, das von einer tragfähigen Entwicklung (sustainable development) bestimmt und von einer Verantwortung der derzeit lebenden Menschen auf der Erde für künftige Generationen getragen ist, wie dies etwa die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung in dem so genannten Brundtland-Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ bereits 1987 gefordert hat, wird sowohl von den politischen und wirtschaftlichen Mächten, als auch von den Individuen in den Gesellschaften der Welt nur zögerlich aufgenommen. Eine Veränderung des „Durchflusswachstumsdenkens“ hin zu einer „Nachhaltigkeits-Einstellung“ ist nämlich mit einem Denkprozess verbunden, der vom homo sapiens die Anstrengung erfordert, ein zôon politikon, ein vernunftbegabtes Lebewesen (Aristoteles) zu sein. Dies aber setzt ein intellektuelles und von ethnischen Prinzipien bestimmtes Denken und Handeln der Menschen voraus, das sowohl von einem ökologischen, als auch vor allem einem verantwortungsbestimmten Bewusstsein getragen ist, entsprechend dem von Hans Jonas formuliertem Prinzip: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“.
Über den Sinn des Lebens nachzudenken und nach Entwürfen für ein „gutes Leben“ zu suchen, haben sich immer wieder Gruppen von Menschen und Einrichtungen auf den Weg gemacht; vom Club of Rome, bis hin zu heutigen Foren, wie etwa beim Philosophicum Lech (vgl. dazu: Konrad Paul Liessmann, Vom Zauber des Schönen, 2010, Rezension; oder bei den Hannah-Arendt-Lectures in Hannover (siehe: Detlef Horster, Welthunger durch Weltwirtschaft, 2010, Rezension); oder den Schumacher –Foren (E. F. Schumacher-Gesellschaft für Politische Ökologie, München).
Entstehungshintergrund und Autorin
Ist der Mensch also ein homo oeconomicus, dessen Lebensziel darin besteht, ein Immer-mehr-immer-schneller-immer-höher-immer-weiter zu erreichen; oder lässt sich die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels auch damit erklären, dass es nicht nur eines ökonomischen Wandels im Sinne der Sustainability-Forderung bedarf, sondern eines Denkens und Handels, bei dem die Zukunftsfähigkeit der Menschheit im Mittelpunkt steht? Im „Geist von Rio“, der sich in den Perspektiven und Visionen zeigte, die von der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 formuliert wurden und mit der Agenda 21 gewissermaßen lokal und global die Chance eines Umdenkens in den menschheitsbestimmenden Fragen in der Welt dokumentierte, wie auch in den folgenden Aufforderungen zum Umdenken, wird Wirklichkeitsbewältigung und Zukunftsfähigkeit ganz groß geschrieben. Im Weltbericht „Kultur und Entwicklung“ (1995) etwa heißt es: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren: kurz, neue Lebensformen zu finden“.
Wie kann das geschehen? Indem wir Menschen an unsere Wurzeln, das Geistige, gehen, wie im Einstein-Jahr 2005 die Verfasser des „Potsdamer Manifests“ gefordert haben, mit der Anstrengung, umzudenken! Zu einer solchen „Rückkehr des Geistigen“ hat Wassily Kandinsky, Bauhausmeister und Künstler des Expressionismus, in seiner 1912 verfassten Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ aufgerufen. Für eine solche „Hinwendung zum Geistigen“, Hier und Heute und Morgen, plädiert die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt, Mitbegründerin und Leiterin des Instituts für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit (und-Institut). Kandinsky plädierte nämlich in seinem o. a. Aufruf dafür, das im 19. Jahrhundert gefrönte Prinzip „entweder – oder“, das zu so vielfältigen Auswüchsen, Irritationen und Irrwegen im menschlichen Dasein geführt habe, durch ein „und“ zu ersetzen.
Aufbau und Inhalt
Hildegard Kurt unternimmt in ihrem ästhetisch und künstlerisch ausgezeichnet gestalteten, mit zahlreichen farbigen und Schwarz-Weiß-Abbildungen aus Kunst, Kultur, Landschaft und den Wissensbereichen des Lebens versehenem Buch den Versuch, Kandinskys und andere Denk- und Gestaltungsspuren daraufhin zu befragen, wie sich das Geistige im Nachhaltigkeitsdiskurs darstellen und sich ein „Wandel des Herzens“ (Erich Fromm) promotieren lässt. Das Geistige in der Nachhaltigkeit praktizieren zu können, heißt, der Nachhaltigkeit eine Seele zu geben und sich auf die Suche nach dem verloren gegangenen „Schlüssel zum Menschen“ zu begeben. Die äußerlich angetriebene Motivation zum Small is beautiful wäre dabei die eine Seite; die Auseinandersetzung mit der Innenseite des Menschen und der Welt die andere.
Max Bill hat einmal formuliert: Der Künstler bringe Gegenstände zum geistigen Gebrauch hervor; und Kandinsky war davon überzeugt, dass dies nur dann möglich werde, wenn es ihm gelingt, sein Auge, sein Ohr, seine Hände und seinen Körper, seine Gestaltungskraft also, auch nach innen zu wenden. Damit erinnert uns Hildegard Kurt an die wichtige „innere Notwendigkeit“, die der denkende und vernunftbegabte Mensch bedarf und die in den Zeiten der potenten Verfügbarkeit, sofortigen Machbarkeit und dauernden Präsenz verloren geht – die aber erlernt werden kann und auf die hin der Mensch erzogen werden muss.
An die Wurzeln gehen
Die vielfältigen Versuche, die naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklungen nicht nur auf den materiellen Nutzen (an die Schäden wird noch seltener gedacht) hin zu befragen, haben zwar zu der bonmotartigen Frage geführt: „Darf der Mensch alles machen, was er kann?“; doch ernsthaft werden diese Bedenken kaum realisiert. Wenn wir das Kunstschaffen, etwa bei Kandinsky, Klee, Picasso und anderen bedeutenden Künstlern betrachten, fällt auf, dass ihre Werke „wider den Zeitgeist“ geschaffen wurden und von einer „Ästhetik der Achtsamkeit“ bestimmt sind. Der in der Schweiz lebende Künstler George Steinmann hat mit mehreren Installationen und Werken eine „Rückkehr des Raumes“ in der Unübersichtlichkeit der Räume aufgezeigt; und er wirbt damit für eine „kulturreformerische Radikalität“ bei der Gestaltung einer nachhaltigen Raumkultur. Diese Aufbrüche, die bis zum Beuysschen Ausspruch, dass jeder Mensch ein Künstler sei, reichen, animieren den Leser dazu, die wie in einem Triptychon zusammen gefügten Denk- und Lernprozesse auf den Bereich zu lenken, der in der Industriemoderne die Vormachtstellung beansprucht: die Wissenschaft, und zwar sowohl in den Bereichen der Wirtschafts- und Naturwissenschaften, als auch denen von Kunst und Kultur. Für Joseph Beuys war das Wirtschaftswachstum kein Wachstums- sondern ein Schrumpfungsprozess und eine Wucherung, vergleichbar einem Krebsgeschwür, das den Menschen umbringt.
Wie aber, so die Autorin, lässt sich ein lebendiges, nachhaltiges Wachsen erkennen und vielleicht sogar hören? Wie kann es gelingen, die Menschwerdung als einen ästhetischen Prozess wahrzunehmen? Dabei verweist sie auf die „Weimarer Avantgarde der Zukunftsfähigkeit“: Goethe, Schiller, Herder; und auf die Beuys-Schülerin, Kunstwissenschaftlerin und Künstlerin Shelly Sacks aus Großbritannien, die mit der Metapher „stetes Werden im Sichwandeln“ nicht Kunstwerke schaffen, sondern „Bewusstseinsinstrumente“ erzeugen will. Erich Fried hat in seinem Gedicht „Was es ist“ die Antwort auf die Frage der Fragen gegeben: „Es ist was es ist / sagt die Liebe“. Soll es gelingen, nachhaltiges Denken und Handeln über den materiellen und ökonomischen Denkansatz hinaus zu etablieren und das Geistige in der Nachhaltigkeit offen zu legen, sollte es möglich sein, das Innen und Außen der Welt in eine fruchtbare Wechselbeziehung zu bringen.
Das empathische Ich
Ein der nachhaltigen Weltentwicklung zugewandtes „liebendes Ich“ stellt sich nicht als wertfreies wissenschaftliches Denken und Konstruieren dar, sondern ist wert- und welthaltig; das ist die Kennzeichnung des Versuchs der Autorin, Grundzüge einer wissenschaftlichen Methodik für das Geistige in der Nachhaltigkeit zu skizzieren. Angelehnt an die Markierung des US-amerikanischen Physikers und Wissenschaftsphilosophen Arthur Zajonc, der dafür plädiert, „kontemplatives Wissen und kontemplative Praktiken in alle gesellschaftlichen Arbeitsfelder zu integrieren“. Mit der Metapher „Eros und Einsicht“ und der Zielsetzung, dass „kontemplative Bildung … tragfähige innere Grundlagen für ein ausdauernd zukunftsfähiges Engagement in der Welt herauszubilden“ vermag, zeigt Hildegard Kurt eine Alternative zu den gängigen, (fach-) wissenschaftsorientierten Theorien zur Weltveränderung auf; gepaart mit der von Klaus Michael Meyer-Abich entwickelten „Philosophie des Mitseins“, die er in seiner „Praktischen Naturphilosophie“ zu dem interessanten Gedanken entwickelt, nämlich „die Welt so zu erkennen, wie wir selbst dazugehören“.
Bei diesen Reflexionen vom Sterben, vom Tod zu reden, klingt wie Blasphemie und ein Tabubruch. Doch die Auseinandersetzung in dieser Herausforderung, „die Liebe zu üben“, individuell, kollektiv und global, ist hilfreich für die Einsicht, dass die Welt derzeit einen „Todesprozess“ durchläuft (vgl. dazu auch: Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2009. Ein Planet vor der Überhitzung. Intelligente Politik gegen ein destabilisiertes Klima; in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch, 2009, Rezension) und eine „Aufklärung der Aufklärung“ notwendig ist. Wenn es gelingen soll, die „Janusköpfigkeit unserer Zeit“ – hier ein monströses Räderwerk der Vernichtung, angetrieben von Gier und Profitsucht… , dort neue Qualitäten eines verantwortlichen, kreativen Denkens und Handelns und eines Miteinanders … - zu durchschauen und individuell und kollektiv die Gewichte hin zu letzterem zu verschieben und Leuchttürme wie die der Sekem-Initiative des Ägypters Ibrahim Abouleish zum Ausstrahlen zu bringen, muss Wachstum als humanes Werden und nicht als materielles, profitorientiertes Produzieren in den Vordergrund der menschlichen Denk- und Handlungsprozesse gerückt werden.
Fazit
Hildegard Kurts Reflexionen über das Geistige in der Nachhaltigkeit regen an, den Wachstumsgedanken in die verschiedenen Richtungen zu drehen und die Enden der traditionellen Analysen über Nachhaltigkeit an den Anfang zu bringen. Die Aufforderung zur Hinwendung zum Geistigen, zum humanen Menschlichen, um in der Nachhaltigkeit die Zukunftsfähigkeit zu entdecken, ermöglicht eine „Geisteshaltung von Weltbürgerinnen und Weltbürgern, die Verantwortung praktizieren, weil sie sich wieder in die Kräfte des Lebendigen einfühlen“ können. Diese Botschaft ist es wert, den Spagat, nein, die Umkehr und den Wandel mit zu gestalten, der erforderlich ist, soll die Menschheit human überleben!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1577 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 02.12.2010 zu:
Hildegard Kurt: Wachsen! über das Geistige in der Nachhaltigkeit. Mayer
(Stuttgart) 2010.
ISBN 978-3-86783-035-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/10369.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.